Ende des letzten Jahres korrespondierte ich mit einem Politwahlverwandten aus Deutschland. Wir haben uns über den Liberalismus-Trend in deutschsprachigen Blogs unterhalten:
Deutscher:
Ich habe in den deutschen Blogs noch keinen Liberalen gefunden, der versucht hätte, mich zu sich herüberzuziehen. Im Gegenteil: SPD=Sozialismus=Kommunismus=Maoismus. Ende der Diskussion.
Schweizerin:
Das ist in der Schweiz offenbar ganz anders, aber innerhalb wie ausserhalb der Blogosphäre. Es liegt wohl an den Abstimmungen, die gewonnen werden wollen.
Deutscher:
Na, DAS nenne ich mal einen interessanten Unterschied! Muss ich mir unbedingt merken, falls ich mal wieder mit einem Genossen aneinander gerate, weil der meint, unsere repräsentative Demokratie biete ausreichende Möglichkeiten für das Wahlvolk, sich zu beteiligen! (Gerade auf EU-Ebene halte ich die deutsche repräsentative Demokratie für eine Katastrophe. Es kann doch nicht sein, dass in einigen Ländern über jede EU-Vertragsänderung abgestimmt wird – und bei uns kungeln das die drei oder vier massgeblichen Fraktionsvorsitzenden untereinander aus und im Bundestag wird’s durchgewunken…)
Dabei haben wir gemerkt, dass wir gegenseitig wenig Konkretes über die Mitsprachemöglichkeiten im anderen Land wissen. Darum erkläre ich den Einfluss des Schweizer Stimmvolkes nachfolgend superkurz, ohne Politologie und ohne viele Links. Einfach frisch von der Leber weg und an drei Beispielen. Mein Hirn ist meine Quelle:
Wenn wir in der Schweiz etwas wollen, können wir eine „Initiative“ ergreifen. Das bedeutet, dass jemand ein Initiativkommitee gründen, einen Initiativtext verfassen und 100’000 Unterschriften von Stimmberechtigten zusammenkriegen muss. Über den Abstimmungstermin entscheidet – glaub ich immer – der Bundesrat. Bei einer Initiative kommt der Anstoss stets aus dem Volk. Eine Initiative, die weltweit bekannt wurde, war die „Für eine Schweiz ohne Armee“. Sie wurde von einem Drittel der Abstimmenden gut geheissen und leitete eine umfangreiche Armeereform ein. Dies, obwohl sie haushoch abgelehnt worden war. Man merke: Es ist nicht wie bei der Fussball-WM: Auch die Zustimmung für die Unterlegenen kann sich rechnen.
Natürlich gibt hauptsächlich das Parlament den Anstoss für Veränderung. Zum Beispiel für den UNO-Beitritt oder für bilaterale Verträge mit der EU. Solche Entscheide müssen bei uns zusätzlich noch vors Volk, egal wie einverstanden auch alle sein mögen. Das nennen wir „obligatorisches Referendum“ und dafür muss niemand Unterschriften sammeln. Man merke: „Referendum“ steht nicht für Ja oder Nein, sondern heisst einfach, dass ein Volksentscheid an der Urne gefordert wird.
Bundesrat und Parlament verändern auch ohne Volkes Segen. Hier ist das „fakultative Referendum“ ein Druckmittel der Bürgerinnen und Bürger. Schon ein von grösseren Gruppen „angedrohtes“ Referendum kann das Parlament zu Korrekturen veranlassen und zum Beispiel eine Gesetzesänderung dank Kompromissen mehrheitsfähig machen. Dieser Weg der Enscheidungsfindung verlangsamt Veränderungen, im Moment gut zu beobachten an der Debatte um den Verkauf der Swisscom. Das freut die einen und enerviert die anderen. Im nächsten Fall ist es dann umgekehrt. Gelingt kein Kompromiss, wird das Referendum ergriffen, indem verschiedene Interessegruppen innerhalb einer bestimmten Frist 50’000 Unterschriften sammeln. Man merke: „Referendum“ steht immer noch nicht für Ja oder Nein, sondern für „Das muss vors Volk“. Aber die Motivation fürs Unterschriftensammeln kommt von denen, die nicht einverstanden sind.
Volks- und Ständemehr unterscheid ignoriere ich vorerst und darum war’s das. Abläufe und Agenden sind immer neutral und verlässlich auf parlament.ch deponiert.
Warum ich selber gerade Unterschriften sammle, begründe ich im nächsten Eintrag. Heilige Lehrerinnenpflicht, hin und wieder ein Länzchen für die „Realpolitik“ zu brechen.
Realpolitik?
Hä? Passt „reale Politik“ besser?
Keine Ahnung! Ich nehme aber nicht an, dass Du von Realpolitik im Sinne der verlinkten Definition sprechen wolltest, oder?
Teils, teils. Gerade Initiativen und Referenden werfen einem täglich sehr sehr nahe auf die beschränkten Möglichkeiten zurück. Aber ich fürchte, du kennst das Wort genauer, als die Definition ist. Ich setze es in Anführungszeichen, für alles andere bin ich zu müde. Danke vielmal für den Hinweis, zum Glück unterrichte ich nicht Staatskunde.
Tiefer Seufzer. Seit ich Euer System kenne, sehne ich mich danach. Dann müsste ich mich nicht wegen eines zentralen Anliegens bei der Wahl für eine ganze Partei entscheiden und deren andere Anliegen zwangsweise schlucken; ich könnte konkrete Anliegen einzeln beeinflussen.
Dass das in der Schweiz funktioniert, halte ich aber für tief in Geschichte und Tradition verwurzelt. Damit leider nicht einfach so und schon gar nicht 1:1 übertragbar.
Ja, Kaltmamsell, das ist nicht 1:1 übertragbar. Habe einmal kurz mit dem Politologen Adrian Vatter (der in CH und D lehrt) darüber gesprochen, und er sieht das auch v.a. historisch.
Es ist wahr, dass wir gezielter entscheiden können und ich weiss das sehr zu schätzen. Auch ist es völlig normal, innerhalb der Partei uneins zu sein, manchmal geht das sehr gut durch, manchmal wird das schwierig.
Aber dennoch bin ich überzeugt, dass die Entscheidung für eine Partei und auch die Mitgliedschaft essenziell ist für die Demokratie. Mir bereitet es Sorgen und Mühe, dass sich hier viele damit schwer tun. Denn unsere Parteien sind so organisiert, dass mithilfe Politikkompass wirklich jede/r irgendwo mitgestalten könnte. Als Alternative gibt es die Mitarbeit bei NGOs. Sie nehmen bei uns, gerade durch Referenden, aktiv an der Politik teil. Aber alle diese Gruppen, die so wichtig sind für die direkte Demokratie, kämpfen mit sinkenden Mitgliederzahlen.
Oder anders: Es lastet viel auf wenigen Schultern. Dass das das Volk nicht beunruhigt, beunruhigt mich. Und spricht gar nicht für das traditionell gelobte politische Engagement der Eidgenossinnen und Eidgenossen.
Es ist allerdings in der Schweiz auch so, dass durch das von Dir weggelassene Ständemehr, das ursprünglich die Minderheiten repräsentierte, heute aber nicht mehr verhältnismässig ist, ca. 30% der Bevölkerung(svertreter) jeden Volksentscheid blockieren, d.h. ablehnen können. Leider nicht mehr wirklich demokratisch.
@Tanja
Mir gefällt besonders der Satz: «Mein Hirn ist meine Quelle». Danke übrigens für die lieben Geburtstagswünsche.
@Kaltmamsell
Es stimmt, dass die halbdirekte Demokratie wohl nicht 1:1 ins Ausland übertragbar ist. Die halbdirekte Demokratie hängt beispielsweise sehr eng mit der Regierungsform zusammen. In der Schweiz haben wir eine sogenannte Konkordanzregierung. Das heisst, dass alle referendumsfähigen Kräfte (zurzeit 4 Parteien) in die Regierungsverantwortung eingebunden sind. Referendumsfähig nennt man die Regierungsparteien, weil sie, wenn sie nicht in der Regierung wären, gegen jeden Regierungsbeschluss das Referendum ergreifen und so die Politik fortdauernd blockieren könnte. Im Gegensatz zu einer grossen Koalition (siehe Deutschland) verfügt aber einer Konkordanzregierung über kein verbindliches Regierungsprogramm à la Koalitionsvertrag. Die Kompromisse innerhalb der Regierung müssen für jedes Sachgeschäft wieder neu ausgehandelt werden.
Nichtsdestotrotz: Ich bin ein sehr starker Befürworter von mehr Demokratie in Europa. Demokratie heisst ja nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger immer und über alles mitreden und mitbestimmen müssen. Sondern Demokratie ist auch eine Art Kontrolle gegenüber den grossen Verwaltungsmolochen. Wenn eine genügend grosse Zahl von Bürgern das Gefühl hat, in Brüssel werde gegen das Interesse der europäischen Bevölkerung Politik betrieben, dann sollten sie die Möglichkeiten haben, via Volksrechte zu intervenieren. Für dieses Recht zu kämpfen, fordere ich alle Europäer auf!
Mehr Demokratie hätte zudem den positiven Nebeneffekt, dass die von den Politikern ach so viel beklagte Bürgerferne zu Europa überbrückt werden könnte; aber eben, auch die europäischen Politiker lassen sich nicht gerne dreinreden.
@Carmela
Du hast insofern Recht, als dass das Ständemehr das Prinzip „one man one vote“ verletzt. Das Zweikammernsystem, Nationalrat als Vertretung des Volkes und Ständerat als Vertretung der Kantone, wurde mit der historischen Absicht installiert, die kleinen vor den grossen Kantonen zu schützen (Es gab Zeiten, da hatten wir auch in der Schweiz Bürgerkrieg; später einen Kulturkampf). Es geht als darum, den Schutz religiöser und sprachlicher Minderheiten gegenüber dem demokratischen Prinzip „one man one vote“ abzuwägen. Ich finde es aus heutiger Sicht auch störend, dass in gewissen Abstimmungen, in denen ein Ständemehr nötig ist, z.B. die Stimme eines Appenzellers vierzig mal mehr zählt als die Stimme eines Zürchers.
Danke, Christian/eDemokrat herzlich für die Ergänzungen! So kommt einiges an Erklärungen zusammen aus verschiedenen Hirnen. Dass das, was man auswendig weiss, leichter zu transferieren ist, kommt aus meiner Schulerfahrung. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir uns nicht immer und immer wieder Neues anlesen sollen. Aber erklären lieber das, worin sattelfest.
Gerade erreicht mich ein E-Mail des zitierten Wahlverwandten, in dem er schreibt, die Schweizer Blogs seien „alle so kultiviert“ (und er kennt viele). Na, wenn das kein Kompliment ist!