Tischgespräch [22]

[Warnung vor Moralischem und Leherhaftem.]
Kind:
Zum Glück gibt es so viele Probleme auf der Welt. Man wünscht sich schon, dass niemand hungern müsste, aber eigentlich wäre es ohne Probleme auf der Welt ziemlich langweilig.
Mutter:
Ich bin nicht sicher, dass mich das stören würde.
Kind:
Und die Bücher, die es nicht mehr gäbe? Die Filme? Die Zeitungen? Die Stars?! Ich meine – Stars reden immer von Problemen und kämpfen extrem gegen Probleme, Angelina Jolie gegen die Armut der Welt, Pink für die gequälten Lämmer in Australien, die in den modischen Stiefeln und Jacken sind. Und die Killerpilze waren in Äthiopien und haben mit den Kindern dort eine Band gemacht. Eminem, 50 Cent, sogar LaFee: Alle machen Texte über Probleme.
Mutter:
Mein Gott! Das ist doch PR-Quark. Niemand von denen ist je auch nur durch einen Hauch von Wissen über Armut aufgefallen. V-ö-l-l-i-g oberflächlich! Ich selber weiss noch nicht einmal, was Armut ist. Weisst du es? Wer ist arm?
Kind:
Jemand, dessen Geld nicht reicht für genügend Essen, sauberes Wasser und Kleidung – die echt schützt. Also Eminem war selber arm, übrigens.
Mutter:
Gut. Sagen wir mal, das Geld reicht diesem Jemand dafür oder er bekommt das Aufgezählte. Was ist, wenn er verletzt wird? Wenn er kein Telefon hat, einen Arzt anzurufen oder kein Spital weit und breit? Was ist, wenn er gar keine Zahlen und Buchstaben kennt, nie in einer Schule war?
Kind:
Natürlich ist er dann auch arm. Er braucht irgendwie Zugang zur Schule und zum Spital und zum Telefon und Internet, sonst ist er arm.
Mutter:
Das ist eben neu, es ist nicht mehr ein Sack Reis und eine Hose. Die Welt hat sich sehr verändert. Aber nicht die Stars…
(Denkpause)
Wir wissen, dass Armut schädlich ist, aber es ist sehr schwierig, einen Massstab für Armut zu finden.
Kind:
Warum sollte man sie überhaupt messen?
Mutter:
Vielleicht weil ich dir gerne sagen würde, dass es einen Fortschritt gibt? Nein, es ist wegen der Politik. Denn Lösungen kommen von dort. Krieg ist ja bekanntlich keine. Wenn wir nicht definieren können, was arm ist, können wir nicht sagen, was das Minimum ist, das dieser (oder ein anderer) Jemand braucht. Weder das Bümplizer Sozialamt noch die Weltbank bekommt Geld einfach so, denn das Geld muss ja irgendwo weggenommen werden.
Kind:
Aber ganz sicher ist doch, dass manche einfach mehr Geld brauchen! Könnte man nicht Geld drucken für die?
Mutter:
Eine Bedingung für Geld ist, dass es rar sein muss. Also wenn es nicht rar ist, ist die Note nur noch Papier. Deshalb würde es nichts nützen, Geld zu drucken.
Kind:
Das stimmt. Wie nach dem ersten Weltkrieg, wo sie mit Wagenladungen von Geld ein Brot kaufen mussten.
Mutter:
Yep. Wir sind auf der Suche nach der Definition für Armut. Definitionen sind wie Formeln. Es dauert lange, sie zu finden oder sich zu einigen. Aber sie vereinfachen die Zusammenarbeit. Sie helfen die Probleme von der Oberfläche weiter nach unten zu holen. Du kannst nicht mehr einfach sagen, der ist arm, sondern musst überlegen, warum ist der arm. Lösungen für grosse Probleme findet man nie an der Oberfläche, die findet man unten. Oder mittendrin.
(Denkpause)
Eigentlich weiss das jeder, deshalb müssen sich die Stars ja unten und mittendrin ablichten lassen. Weil es dann aussieht, als hätten sie Lösungen. Und weil viele darauf reinfallen oder reinfallen wollen, muss die Unicef Tranlampen wie Jolie als Botschafterinnen anheuern, um überhaupt in die Medien zu kommen. Ich hasse es.

12 Gedanken zu „Tischgespräch [22]“

  1. Zum ersten Teil des Gespräches möchte ich meinen, Dein Kind hat irgendwo recht : Die Würze des Lebens und der Kunst / Literatur findet sich eben in den Problemstellungen, die das Leben, die Menschen, die gesellschaftlichen und psychischen Gegebenheiten so auftischen. Natürlich sind die Beispiele zumindest zweifelhaft. Aber andererseits möchte ich mir ein Leben wie in Stifters „Nachsommer“ gar nicht erst vorstellen… 😉
    Ich bin auch Deiner Meinung, daß Bildung global wichtig ist, aber sie ist auch kein Allheilmittel. Deutschland z.B. hat einen recht hohen Bildungsstandard – verglichen mit der Dritten und Vierten Welt – was aber weder verhindert, daß seit Jahren ein Teil der Bevölkerung von der allgemeinen materiellen Entwicklung und von sozialen und kulturellen Standards abgekoppelt wird, noch etwa zu (vehementen und stringenten) Protesten dagegen führt. Somit ist es für mich auch wahrscheinlich, daß weiterhin korrupte oder militärbegeisterte Eliten unangefochten in den armen Ländern ihr Süppchen aus Selbstbereicherung, Ausplünderung und Völkermord kochen können, ganz besonders dann, wenn diese Eliten entweder von den Industriestaaten gestützt werden, oder weiterhin wirtschaftliche Interessen ein Land soweit isolieren, daß es an der ausgestreckten Hand des Westens verhungert. Und was sollen Tausende von gutgebildeten Menschen (vom Alphabeten bis zum Ingenieur) in der Sahelzone z.B. ? (Auch die Mehrheit der indischen Bevölkerung zählt zu den Ärmsten der Armen – und nicht zu den Beschäftigten der dort boomenden IT – Branche.) Ich bin sehr pessimistisch, daß es in den nächsten einhundert Jahren befriedigende und humanistische Lösungen geben wird : denn auch Definitionen sind interessenabhängig. Bedauerlicherweise. LG rollblau

  2. Ima, das Gespräch ging weiter in Richtung Sozialismus („alles auf einen Haufen schmeissen und teilen“), aber das habe ich dann nicht mehr notiert. Ich habe dem Kind noch einen Artikel aus dem aktuellen SPIEGEL über die Weltbank (einer der besten Artikel über die Bank, den ich je in der auflagestarken Presse gelesen habe) angeboten, welchen es dann nicht fertig lesen mochte.
    rollblau, du hast natürlich recht und das Kind auch (Literatur ohne Probleme wäre langweilig). Auch ist meine Argumentation einseitig. Wenn ich aber mit einem Menschen rede, der seit elf Jahren auf diesem Planeten wandelt aber leicht gefährdet ist, schnell zu glauben, was sog. Vorbilder einem glauben machen wollen, dann greife ich einfach ein Thema heraus. Die Unterschichtsdepatte in Deutschland ist in weiten Teilen und überspitzt gesagt eine „Deppen-Debatte“ und deshalb ist Bildung darin ein zentrales Argument.
    Indien gehört laut Fischer Weltalmanach (letzte drei Jahre) zu den Entwicklungsländern, die ihre Alphabetisierung am schnellsten vorantreiben, dies mit Erfolg fürs BSP. Indien gehört zu den Entwicklungsländern, die regelmässige Erfolge im Rechtsstreit mit der übrigen Welt erringen (z.B. Patentierung von indischen Pflanzen durch schweizerische Chemiekonzerne) und Indien gehört zu den Ländern mit Umweltbewegungen, die ab und zu Erfolge verbuchen (da muss China noch lange lernen). In einer globalisierten Welt gibt es (so gut wie) keine glücklichen „Wilden“ mehr, die eine Menge nicht wissen, aber ein riesengrosses Herz und stets ein Lächeln auf den Lippen haben. Also nicht, dass du das gesagt hättest, aber Stars spielen mit diesem Ethno-Kitsch-Klischee und das finde ich zum Kotzen.

  3. Mit Verlaub, ich muss diese „Stars“ jetzt doch ein wenig in Schutz nehmen, so unsympathisch sie bzw. ihr Gehabe in der Regel oft erscheinen mögen: Wenn denn schon etwas interessant bzw. zum Kotzen ist, dann doch wohl eher das entsprechende Publikum, finde ich; die „Stars“ agieren ja nicht eigentlich; sie re-agieren nur, geben, was das Publikum will; vor dem Geben steht, natürlich, die Berechnung; doch auch das finde ich irgendwie legitim: es ist das Publikum, das darüber urteilen wird, ob die Berechnungen taugen oder nicht, ob jemand zum „Star“ wird oder nicht – ohne entsprechendes Publikum kein „Star“ (ich sag‘ hier nur: Donna Leon…). Psychologie der Massen; interessantes Thema (doch ich muss weiter; … „leicht gefährdet“ würde auch noch einiges an Brisanz bergen; … „eine Menge nicht wissen“, hoho, mein Steckenpferd…)

  4. Nur so viel (weil ich ja auch weiter muss :-): Was ich zum Kotzen finde ist halt subjektiv.
    Und „leicht gefährdet“ gäbe wahrlich sehr viel her. Kinder werden heute von einem in hohem Masse aggressiven Marketing-Umfeld herausgefordert und zwar ohne, dass sie danach rufen oder die Stars darum bitten, ihnen dies und jenes zu „geben“.
    (Und wenn sie dann auf der Schuldenberatungsstelle und sowieso überall in der Kreide stehen und keine Verantwortung übernehmen, weil Weltverbesserung halt mit Tafelputzen und solchem Kram, den Bushido nie gemacht hat und nie machen würde, beginnt, geht das Gezeter über
    die- heute-so-verantwortungslosen-Eltern los.)

  5. Bushido, ist das der, der als Pop – Botschafter für die bessere Schießausbildung von Kindersoldaten, finanziert durch internationale Spendengelder, werben würde ? *sfg* LG rollblau

  6. Der macht sogar mit bei der Aktion „Gegen Gewalt an Schulen“ und lässt sich im gleichen Bravo-Heft mit einer dieser aufblasbaren Sexpuppen ablichten. Mehrmals. In der neusten Nummer sitzt er aber mit Mami („sie ist die Beste“) auf dem geblümten Sofa.

  7. Eigentlich weiß ich das ja. Diese ganzen Möchtegern – Aggressiv – Gangster – Rapper kommen zu einem großen Teil aus gutbürgerlichen, gut behüteten Familien und spielen wilde Sau. Eigentlich sind die alle ganz lieb und wollen nur spielen, aber bei B. erinnere ich mich an ein Gerichtsverfahren in Österreich. Das war nicht ganz so nett. LG rollblau

  8. Sozialismus sei ”alles auf einen Haufen schmeissen und teilen“: diese Idee kann wohl auch nur aus der Schweiz kommen, die bisher von dieser Gesellschaftsordnung verschont geblieben ist 😉
    Die wahre Entwicklung des Sozialismus wurde durch den großen Menschenkenner George Orwell in „Farm der Tiere“ treffend und endgültig beschrieben. Für ”alles auf einen Haufen schmeissen und teilen“ werden sich die Menschen vielleicht eines Tages ein anderes Wort einfallen lassen. Vielleicht ist’s dann wieder eine Urgesellschaft von Jägern und Sammlern.

  9. Lieber Stefan, ja klar! Ich habe auch nur „Richtung“ gesagt und das Kind zitiert, welches elf Jahre alt ist. Es handelt sich nicht um die schweizerische Definition von Sozialismus 😉
    Und Orwells Farm wird bei uns doch recht häufig gelesen, wenn auch inzwischen als Allegorie für alle dem menschlichen Leben und Streben widersprechenden Regierungsformen. Sogar Deutschland liest Orwell – falls in deutscher Sprache – aus schweizerischer Hand. Die Rechte liegen bei Diogenes. Da schlägt das Buchhändlerinnen-Herz höher.

  10. Als ich noch in DDR-Zeiten das erste Mal „Farm der Tiere“ las, war es wohl ein Raubdruck. Ich habe aber inzwischen eine Diogenes-Ausgabe und natürlich auch eine englischsprachige Ausgabe. Orwell hat ja in anderen Werken auch die Menschen in der englischen Gesellschaft seiner Zeit sehr genau charakterisiert. Durch eines seiner Bücher habe ich auch herausgefunden, was eine Aspidistra ist 😉
    Was wäre denn eine Regierungsform, die dem menschlichen Leben und Streben nicht widerspricht?

  11. Das ist ja interessant. Ich habe meine Lehre quasi mit dem Handel von Raubdrucken aus sozialistischen Staaten begonnen, also Zeugs, das einen im Westen (auch in der Schweiz) zum moskaufreundlichen Staatsfeind machte (deshalb wurde meine Lehrfirma auch von A-Z fichiert –> Fichenaffäre).
    Ich denke, „Good Governance“ ist ein Prozess. Aber als Staatsform finde ich die Demokratie doch menschenfreundlich. Aber auch sie muss durch die Summe von Aktivitäten Einzelner wachsen und kann nicht verordnet werden.

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