(…) Einstweilen sitzt der Politik- und Informationskonsument im heimatlichen Sessel, begutachtet mit dem wählerischen Trotz eines verwöhnten Kindes die Angebote der Parteien und reagiert mit beleidigter Politikverdrossenheit, wenn seine persönliche Bedürfnispalette nicht abgedeckt wird. Ursprünglich war Demokratie als ein Verfahren gedacht, das es den Bürgern ermöglicht, sich in Interessengemeinschaften zu organisieren, um ihren Anliegen Ausdruck zu verleihen. Erwartet wurde, dass ein Mensch, der unzufrieden ist und sich für oder gegen etwas einsetzen will, das Ruder in die Hand nimmt. Dass er einer Partei beitritt, seinen Abgeordneten aufsucht, an einer Gewerkschaftssitzung teilnimmt, zur Demonstration geht, eine Bürgerinitiative gründer oder wenigstens einen wütenden Leserbrief schreibt. Menschen, die das tun, gibt es glücklicherweise immer noch. Viele andere aber erwarten von der Politik, dass sie „abgeholt“ und „mitgenommen“ werden. (…)
Juli Zeh in einem Vortrag im Wintersemester 2011/2011 im Rahmen der 24. Tübinger Poetik-Dozentur unter dem Titel „Aufgedrängte Bereicherung“. Heute in gekürzter Fassung in Der Bund.
Das ist der erste Beitrag zu meinem bloggischen Zettelkasten, den ich für das kommende Wahljahr anlege. Wir wählen 2011 in der Schweiz unsere Vertreterinnen und Vertreter ins Parlament.
Es gibt aber auch den aufgedrängten Aktivismus (empty gestures à la flashmob z.B.), find ich oft schlimmer…
Michael – das finde ich auch schlimmer. Lieber gar nichts als aufgedrängt und inhaltsleer. Dennoch: die von mir sehr oft gehörte Kritik an Politiker/innen und politisch Engagierten, die alles en gros et en detail falsch machen, enerviert mich. Demokratie ist einfach ohne Verantwortung nicht zu haben. (Das entsprechende Zitat ist eine der Kennedy-Hinterlassenschaften, die ich nachhaltig schätze.)