Manchmal kommt die Lehrerin ganz überraschend zu Unterrichtsstunden. Vielleicht ist jemand krank oder dessen Kind. Oder jemand ist eingeschneit oder ausgepumpt oder sonst nicht in der Lage, der Stellvertretung einen stofflichen Auftrag zu erteilen. So sieht sich die Lehrerin mit unverhofften Freiheiten konfrontiert. Keine Reglemente, keine Erfolgskontrollen – nur Absenzenliste abhaken muss sein und Fluchtplan einhalten, falls es brennt.
Inspiriert von einem betörenden Artikel in der „NZZ am Sonntag“ (2. Oktober, nicht online) von Sieglinde Geisel, schmiedete ich missionarische Pläne zur Verbreitung von klassischerer Literatur für diese autonome Unterrichts-Zone.
Sie [die Zeit] ist das Reservoir, in dem sich die verwandelnde Erfahrung des Lesens sammelt und in Wirkung verwandelt. Wer einmal Kafka gelesen hat, hat immer Kafka gelesen.
Wie für mich geschrieben. Und der Titel erst: „Wenn Worte im Kopf explodieren“. Aber was sollen Achzehnjährige damit? Ich holte eine Aufnahme des „Literarischen Quartetts“ hervor, das sich zu Thomas Manns 50. Todestag letzten August ein erneutes Stelldichein gegeben hat. Und befand diese Diskussion als rechten Konsens zwischen dem hochliterarischen und dem buchhändlerischen Alltag. Meine Vorbereitungsarbeit ist soweit in Ordnung. Ob brauchbar, wird sich weisen.
Dann habe ich – nach kurzem Reaktionsscreening in der Klasse – beschlossen, die Schülerinnen und Schüler des Abschlusslehrjahres in die Kunsthalle zu Knut Asdam zu schicken. Dort, wo sich die Menschen mit Sichrheitsnadeln auf der Zunge küssen und das soziale Geschlecht eine Rolle spielt. Ich glaube nämlich nicht an die Überforderung durch Kunstausstellungen, es ist jedem schnell genug möglich, sich ab- und etwas anderem zuzuwenden. Aber ein Flop und verzettelt kann’s immer werden und die Lernenden könnten sich auch unbemerkt verdrücken. Da ich aber keine Testergebnisse brauche, schreckt mich das nicht. Was nicht bedeutet, dass ich mich nicht um ein Programm für verschiedene Niveaus kümmere. Muss ausprobieren.
Wenn ich schon dabei bin: Die Klassen des 2. Lehrjahres können an der Buchmesse nicht sich selbst überlassen werden und sollen nicht untätig bleiben: meine Vorbereitungen habe ich als Worddokumente ins Forum für den Buchhandel gestellt, damit andere sie nutzen könnten. (Vorher fragen ist nicht nötig, lieber Verband, liebe winterthurer Schule, ehrlich.)
Noch etwas: Menschen, die sich mit Suchmaschinen befassen oder gar darüber lehren, mögen doch den ZEIT-Artikel „David gegen Google“ lesen. Das ist ein Stück Kulturgeschichte der Neuzeit.
Meine Empfehlung: ausdrucken und aufs Klo mitnehmen.
Das ist eine sehr gute Idee, aus eigenen Kulturgenüssen Vertretungsstunden auf Halde vorzubereiten! Ich werde sie gleich am Wochenende übernehmen, wenn ich die Ausstellung von Francis Bacon http://www.zeit.de/2005/40/K-Bacon in der Kunsthalle besuche. Wenn ich aus dem Katalog OHP-Folien mit einigen Exponaten mache, kann ich die Bilder in den Klassenraum bringen. Das ist überhaupt der schönste Unterricht, wenn man als Lehrer machen darf, was man will. Zum Glück darf man bei uns den kurzfristigen Vertretungsunterricht fachungebunden erteilen.
Oh ja, Bacon ist ein gutes Beispiel, von dem man auch eher sagt, er sei den jungen Menschen nicht zuzumuten. Einfach probieren und schauen, was passiert. Und vielleicht auch mal zeigen, dass im Netz und in Games eine Menge kopiert wird, von Homer wie von Bacon.