Sie kann nicht schlafen. Sie sitzt neben ihrem Schreibtisch auf dem Boden und geht die Aufgaben noch einmal durch. Ihre Aufgaben für die anderen irgendwo da draussen – nicht minder schlaflos.
Wie immer man es nennen will – altbacken „Lehrabschlussprüfungen“, reformiert „Qualifikationsverfahren“ oder berufschulpädagogisch „Abschlussritual“ – es ist eine Hürde für Lernende, von der zuletzt andere entscheiden, ob sie genommen worden ist.
Sie weiss, die Protokolle werden seriös gemacht, die Kriterien sind geklärt und quer durch die Schweiz gegengelesen, die Berechnungsformeln lassen keine Zweifel offen und die Toleranz-Bandbreite wird von der Kreisprüfungskommission verwaltet. Das ist ihre zwölfte Prüfung und mit jedem Jahr steigt die Absicherung gegen Willkür.
Egal was sie allen gesagt hat, egal wie gut vorbereitet sie sind, egal ob Kandidatin oder Expertin, das vorherrschende Gefühl wird die Angst vor dem Fehler sein. Denn wenn wir etwas in unserem Leben gelernt haben, dann ist es, dass hauptsächlich Fehler zählen.
Was richtig ist, wird abgehakt, was erledigt ist, wird durchgestrichen. Das Falsche oder Fehlende sticht heraus, wird gerügt, rot angemalt, eingebrannt. Wer oben ausschwingt wird einmal gelobt, wer unten ausschert stetig getadelt.
Wer nichts hört, arbeitet gut.
Sie hat nie einen Rotstift benutzt, immer Fortschritte aufgezeigt und so viele „Bravos“, „Gut getroffen“ und „well done“ auf Tests geschrieben, wie sie vor sich selber rechtfertigen konnte. Doch damit auch nur ein Promille der gesamten Angst während den Prüfungen getilgt zu haben, darauf wettete sie keine Daunenfeder.
Auf dem Weg zurück ins Bett murmelt sie frangend in die Nacht: „Machen zwei Wochen Prüfungen wirklich einen Unterschied zu einer Einschätzung auf Berufstauglichkeit aus dem Handgelenk?“ „Nützt diese Ausschüttung an Angstschweiss, Franken und Korrekturen überhaupt jemandem?“ „Werden meine Fragen, werde ich selber – den einzelnen gerecht?“
Sie bekommt keine Antwort. Ein gutes Zeichen.
Das erinnert mich doch gleich wieder an die Zeit zurück. Nur das die Experten auch schlaflose Nächte haben, war mir nicht bewusst. Ich war wohl zu fest mit mir selber beschäftigt und hatte zu grosse Angst vor dem Fehler. 😉 Finde gut, dass Du das anders rum machst.
Danke. Ich fürchte, dass es auch Experten gibt, die ruhig schlafen, weil sie die Einmaligkeit von Prüfungen übersehen. Es ist vergleichbar mit der Buchhändlerin, die meint, „die Kunden“ fragen immer wieder das Gleiche. Das stimmt aber nicht, der einzelne fragt (meist) nur einmal.
Nun verfasse ich doch eine Antwort. Aber nicht mit der Absicht, aus einem guten ein schlechtes Zeichen zu machen.
Zuerst einmal: wunder-, wunderschöner Text! Und ein grosses Lob an alle Lehrerinnen und Experten, die uns während der LAP immer so aufmunternd und unterstützend zugelächelt, zugenickt und zugezwinkert haben.
Als ich auf diese nachdenklichen Zeilen gestossen bin, steckte ich mitten in den Prüfungen. Ich habe sie sofort ausgedruckt und seitdem liegen sie auf meinem Arbeitstisch.
Zuerst wollte ich sofort drauflosschreiben, die Fragen „Machen zwei Wochen Prüfungen wirklich einen Unterschied zu einer Einschätzung auf Berufstauglichkeit aus dem Handgelenk?“ „Nützt diese Ausschüttung an Angstschweiss, Franken und Korrekturen überhaupt jemandem?“ mit einem deutlichen „NEIN!“ beantworten. Aber ich hatte Angst, dass ich mich in etwas hineinsteigern könnte. Aber auch jetzt, drei Wochen nach der LAP und im Besitz des eidgenössischen Fähigkeitsausweises bleibe ich bei meinem NEIN, das sogar noch energischer geworden ist.
Ich finde, dass drei Jahre Lehre schon eine gewaltige Leistung ist. Diese zwei Wochen vollgestopft mit Prüfungen machen für mich keinen Sinn. Ja, ich gebe es zu, ich bin nicht geboren für Prüfungen. Aber auch für alle anderen Beteiligten ist dies doch alles andere als angenehm. Ich frage mich einfach, warum wir uns dies antun. Ich bin froh, dass ich mich für einmal zusammenreissen konnte und das Spiel brav mitgespielt habe. Obwohl innerlich meine rebellische Seite wie wild getobt hat. Für viele ist klar, dass man da durch muss. Da gibt es nichts dran zu rütteln. Schluss. Punkt. Man kann es auch als Extremsituation betrachten, die es auszuhalten heisst. Eine Chance, sich neu kennenzulernen. Damit könnte ich mich schon ein wenig besser anfreunden. Aber es gibt im Leben leider genügend Situationen, die man meistern muss.
Erstmal: Gratulation zur bestandenen Prüfung!
Lu, diese GeDANKen sind wichtig und die Antwort in meinen Augen richtig.
Nur leider ist die Alternative das Problem. Es gibt Berufe mit Modulprüfungen. Grundbildung mit Diplomarbeiten als Abschluss funktioniert nicht, weil sich die meisten Berufe dafür nicht eignen oder diese Anforderung die Latte zu hoch setzen würde. (Wir haben im Buchhandel selten über 50% Lernende, die auf diesem Niveau schreiben können und das wird sich auch nicht ändern, so lange die Löhne auf Detailhandelsebene sind, was noch ewig sein wird.)
Nichts zu machen geht gemäss Versuchen und Umfragen bei Lernenden auch nicht. Die meisten wollen ein klares, benotetes Ziel und „im Beruf gut sein“ ist ihnen nicht klar genug um für das Lernen motiviert zu sein. So ergeht es auch den Ausbildungsverantwortlichen.
In Dänemark hat man offenbar Gruppenlösungen gefunden. Sie schliessen Module in Gruppen mit einer Präsentation ab und bewerten die schriftlichen Arbeiten voneinander selber. Aber ich weiss zu wenig über die dänische Berufslehre, als dass ich beurteilen könnte, ob das auch für uns ein gangbarer Weg wäre. Sämtliche Däninnen und Dänen die mir je über den Weg gelaufen sind, haben studiert und keine Ahnung von Berufslehren. Was subjektiv nicht gerade für deren Berufslehre spricht.
Die gute Nachricht ist, dass die vielen Reformen diese Vergleiche mit anderen Ländern und unkonventionelle Ideen begünstigen. Für unsere Lehre hoffe ich, dass die LAP kürzer wird.