Hurra, wir kapitulieren!

Hurra, wir kapitulieren!
Henryk M. Broder,
Hurra, wir kapitulieren!
Von der Lust am Einknicken
wjs 2006

Das Buch ist stark, wo es um die Reaktion westlicher Zivilgesellschaft in medialer Form geht. Broder ist der einzige mir bekannte Chronist, der seit zehn, wenn nicht gar zwanzig Jahren verfolgt, wie die freie Gesellschaft säkularer Staaten islamisch motivierten Drohungen stattgibt. Regelmässig in vorauseilendem Gehorsam.
Broder zeigt mit zahlreichen Hinweisen auf Zeitungsartikel – nicht nur aus dem deutschen Sprachraum – all die Peinlichkeiten, die mich seit meinen allerersten politischen Sitzungen an die Hände schwitzen lassen. (In diesem Zusammenhang sei übrigens auch auf sein Buch Kein Krieg, nirgends hingewiesen, das in ähnlicher Weise die deutschen Medien-Reaktion auf 9/11 darstellt.)
Der für mich interessanteste Teil ist der über den Karikaturenstreit, in dem der Autor sogar einmal einen Kommentar zitiert, den auch ich selber mit dem Vermerk „dumm“ archiviert habe. Doch ein Buch mit Beweismaterial und Polemik gelingt selten zum grossen Wurf. Dennoch kann ich dieses als Sammlung von Reaktionen empfehlen.
Broders Motivation ist es, westliches Appeasement anzuprangern; ein Anliegen, dem ich durchaus folgen kann. Denn Integrationspolitik ist kein Beschwichtigungsauftrag, Punkt.
Mir gefielen Broders drei Beobachtungen zur Reaktion auf die Bedrohung durch Zensur:
• Jeder weicht aus, wenn er auf einem Moped sitzt und ein Laster kommt ihm auf der falschen Fahrspur entgegen. Merkwürdig ist nur, dass wir in diesem Fall den Fahrer nicht mit tiefem Lohn und Unterschicht zu entschuldigen suchen.
• Was ist Aktion, was Reaktion? Warum sind wir immer sofort bereit, Anforderungen, Drohungen und Terror als Reaktion zu erklären? Warum dürfen die Karikaturen nicht eine Reaktion auf die Drohungen sein? Sondern die Drohungen eine Reaktion auf die Karikaturen?
• Wirtschaft. Die Klimax von Broders Überlegungen lautet: Wie teuer darf das Barrel Öl noch werden, bis Israel offiziell zur Disposition steht?
Das Buch ist schwach, wo Jugend-, Sozial- und Bildungspolitik ein Thema wären. Broder versteht davon nicht viel und ich werfe ihm das auch nicht vor. Mich stört, dass er das Problem löst, indem er abstreitet, dass es darum geht. Ob Banlieue oder Rütli-Schule – seine Abhandlungen sind voller Klischees und streckenweise falsch. Deutschsprachige Jungendliche bedienen sich nicht aus der Minderheitsnot einer „Ghettosprache“. Selbst wenn man die Forschungsergebnisse sämtlicher Linguisten das Klo runter spült, sind immer noch die gehoberen Wohnquartiere ohne nennenswerten Ausländeranteil übrig, in denen genau so geredet wird. Meine Erfahrung ist, dass auf das im Buch mehrmals zitierte „Schweinefleischfresser“ ein „BinLadenSaddam“ folgt. Und wären die von Broder als positives Beispiel aufgeführte Vietnamesen im Vergleich zu den Muslimen eine Erfolgsgeschichte der Integration, wäre ich ein glücklicher Mensch.
Es ist ein sehr junger Verlag, der dieses Buch herausgebracht hat und das erstaunt mich nicht. Broder entwickelt sich aus verlegerischer Sicht zu einer Figur wie Jean Ziegler – jemand, der ein grosses Archiv und sehr pointiert viel zu sagen hätte, aber Gefahr läuft, in Streitigkeiten oder gar Prozessen hängen zu bleiben, ohne damit bei der Leserschaft zu punkten. (Michael Moore könnte gut auch so ein Kandidat werden, aber dies nur nebenbei.) Das macht Autoren für bekannte Verlage zu heissen Kartoffeln.
„Dass die Terroristen im Grunde ihrer Seelen fehlgeleitete Idealisten sind, die nur ein wenig über das Ziel hinausschiessen (…)“ ist eine Meinung, die – soweit mein Eindruck – deutlich seltener geäussert wird als auch schon. Und dazu hat Broder seinen Teil beigetragen.
In dem Sinne sei ihm die dritte Auflage des Buches, das er sich zu seinem Sechzigsten selber gewidmet hat, gegönnt.

9 Gedanken zu „Hurra, wir kapitulieren!“

  1. Ich denke, Israel wird auf lange Sicht nicht zur Disposition stehen, denn es ist und bleibt der einzige Anker der westlichen Industriestaaten in diesem Gebiet, während die zeitweisen Verbündeten Saudiarabien etc. Gefahr laufen, ihre gemäßigt prowestlichen Regierungen über kurz oder lang zu verlieren, besonders wenn die Alliierten weiterhin so unsensibel in den Krisengebieten des Nahen Osten und der islamischen Welt herumfuhrwerken. Und damit ist ausdrücklich auch eine recht pathologische Blindheit und Stummheit des Westens und vor allem der USA in Bezug auf israelisches Regierungshandeln gemeint. LG Bibliomane

  2. Vielen Dank für die Buchempfehlung Broder. Ich genieße ihn immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
    Zur Frage der Zukunft Israels paßt ja direkt meine Buchempfehlung von gestern: Zuckermann. Wie er die Bedingungen für Israels Überleben sieht, kannst Du bei mir weiterlesen in: Israel-Deutschland-Israel. Ich komme mit meiner Einschätzung in Nahost- Antiamerikanismus- Antisemitismus- und Islamismusfragen am besten zurecht, wenn ich Broder, Zuckermann und Andrei S. Markovits (Amerika, dich haßt’s sich besser – spannendes Buch!) parallel lese. So kann ich am besten mit mir selbst uneins sein …
    Übrigens: Das Lila-Blog Letters from Rungholt hat den ersten Preis gemacht im deutschsprachigen BoB! Hier nachzusehen: http://ontheface.blogware.com/

  3. Lisa Rosa, danke! Ich habe die Zuckermann-Besprechung bei dir schon entdeckt, aber noch nicht ganz gelesen. Markovits kenne ich (nicht ganz gelesen) und muss dazu sagen, dass die Reihe „konkret texte“ für Leute gemacht ist, die es gewohnt sind, wissenschaftliche Abhandlungen zu lesen. Diese „kulturkampf“-Schriften brauchen enorm viel Lesekraft und eigenen sich m.E. überhaupt nicht, die eigene Position zu überdenken, höchstens sie zu bestätigen.
    Ja, Lila lese ich seit sie mit Bloggen begonnen hat. Ich finde es ein gutes Zeichen, dass sie so viel gelesen und gelobt wird. Ich war als Kind mal eine Weile in dem Kibbuz, aus dem sie bloggt. Aber auch Vered schreibt gute Sachen aus dem Land.
    Was die Diskussion um das Existenzrecht von Israel angeht, so ist die Volksmeinung in der Schweiz eindeutig dran, gegen Israel zu kippen. Broder geht in seiner Polemik neben der offiziellen politischen Debatte auch darauf ein – allerdings hauptsächlich in Bezug auf Deutschland. Leider ist es ihm wie gesagt nicht gelungen, das was er anprangert (unbegründete Vorurteile, latenten Hass) selber zu vermeiden. Und hier liegt das Problem dieses Buches, welches ich allenfalls als Ergänzung/Sammlung empfehlen kann, aber nicht als Einblick oder gar Überblick über den „Kulturkampf“ oder wie auch immer wir diesen Konflikt, der inzwischen schon den Lehrer- und Buchhändleralltag prägt, nennen wollen. Hier gibt es eben fast nichts gut Leserliches. Aber es kommt noch, da bin ich sicher. In der Belletristik sind schon erste Schritte zu sehen.

  4. Hätte man was gegen die Existenz Israels unternehmen wollen, hätte man das in den vierziger Jahren und sehr konsequent tun müssen. Derzeit ist allein das Faktum der langjährigen Existenz dieses Staates ein Grund, diese zu akzeptieren und zu schützen. Auch hier wächst eine antiisraelische Stimmung, manchmal gut durchmischt mit Antisemitismus. Allerdings meine ich, daß man Regierungshandeln nicht dem ganzen Volk aufbürden sollte, zumal es ja kräftige Gegenpositionen gab und gibt – siehe Rabin oder jetzt Grossman. Und ich halte auch die USA, besonders die jetzige Regierung für mitverantwortlich an der jetzigen Lage (und hoffe dringendst, daß Olmert nicht die bedingungslose Unterstützung von Bush bekommt, die er im heutigen Gespräch erlangen möchte, denn das könnte militärische Maßnahmen gegen den Iran ermöglichen… ) LG rollblau

  5. Liebe Lisa Rosa – es ist nicht mein Anspruch, alle Bücher zu empfehlen, die ich lese (das wäre mir dann doch zu privat 🙂 Zum Glück gibt’s ja gute Buchhandlungen.
    Aber der neue Updike und der neue Khadra sind ja Bücher zum Thema.
    Ich habe beides nur angelesen, es ist mir zu konstruiert, konstruiert anmutende Romane langweilen mich einfach. Da lese ich dann noch lieber ein Sachbuch oder einen rasend einseitigen Reporter.
    Das beste Buch, das ich bisher über Terrorismus gelesen habe, ist Khadras Wovon die Wölfe träumen. Es geht um Algerien, nicht um Palästina/Israel. Ich finde, dass es ganz gut ist, sich zwischendurch nicht von der dummen Theorie einlullen zu lassen, die ganze Terrorismus-Entwicklung sei Verdienst/Verschluden dieser Region.
    Lieber Rollblau – ich sehe einiges anders, aber auch ich zähle auf diplomatische und gescheite Köpfe mit Verhandlungsgeschick, die einen Krieg im Iran zu vermeiden wissen. (Genau deshalb beteilige ich mich nie am UNO-Bashing, auch wenn die zweifelsohne Fehler machen.)

  6. Danke, Tanja – die Empfehlung Khadras nebst Buchbesprechung im Freitag ist ja genau, was ich mir vorgestellt habe! Das wäre etwas für meinen Winterurlaub und wird sofort notiert. Was Buchhandlungen als Ort angeht, so dürfte ich sie eigentlich nicht betreten, denn ich lasse immer zuviel Geld da – das wird auch nicht durch unseren bescheidenen ALDI-Lebensmitteleinkauf ausgeglichen. Und meine beiden Buchhändler kennen meine Lese-Interessen inzwischen so genau und haben so viel zu empfehlen, und ich kann bei Büchern so schlecht Nein sagen … ;-(

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