Keine Bange

„Mein geliebtes Deutsch“ [1] – seine Einheit und Ganzheit besteht nicht in einem Geist oder Wesen, das wir irgendwo dahinter ahnen [2] oder sprachphilosophisch konstruieren. Die Einheit und Ganzheit besteht allein in unserer Liebe. Was ich liebe, steht lebendig vor mir und ist doch tausendfältig und immerzu bewegt und niemals auszuschauen. Die Liebe ist unsere höchste schöpferische Kraft. Solange wir der Fülle und Vielfalt deutscher Sprache, deutscher Literatur mit neugieriger Liebe begegnen, braucht uns um sie auch in Zeiten der Anglizismen, der Korrekturprogramme und der Gedichte per SMS nicht bange zu sein.

aus:
Peter von Matt [3]
Das Wilde und die Ordnung
Zur deutschen Literatur
Hanser 2007
978-3-446-20840-7

(Mit dieser Lektüre bin ich im Moment glücklich und aus Gründen verständnistechnischer Zweimal-Lesung sehr beschäftigt.)

[1] Bezieht sich auf Goethes Faust, der sich nach dem Osterspaziergang, aber noch vor der Entdeckung des Pudels Kern, daran macht, die Bibel endgültig ins Deutsche zu übersetzen:

Mich drängt’s, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.


[2] Bezieht sich auf Hofmannsthals Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, die ungefähr so klingt:

In einer Sprache finden wir uns zueinander, die völlig etwas anderes ist als das blosse natürliche Verständigungsmittel; denn in ihr redet Vergangenes zu uns, Kräfte wirken auf uns ein und werden unmittelbar gewaltig, denen die politische Einrichtungen weder Raum zu geben, noch Schranken zu setzen mächtig sind, ein eigentümlicher Zusammenhang wird wirksam zwischen den Geschlechtern, wir ahnen dahinter ein Etwas waltend, das wir den Geist der Nation zu nennen und getrauen.

und die von Matt entschieden zerpflückt. Er plädiert für unzimperliche Klarheit und Überprüfung der Ausführungen verehrter toter Vertreter deutscher Sprache.

[3] Peter von Matt (*1937) ist schweizerischer Germanist, einer der fähigsten Kritiker deutschsprachiger Literatur und Kenner ihrer Geschichte. Mit Absicht sage ich nicht „Kritiker deutscher Literatur“, weil er nämlich den alten Schweizern wie auch den alten Österreichern durch konsequente Erwähnung immer wieder zu Aufmerksamkeit verhilft.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.