Lieber Gilles
33 Mal hast du an der praktischen Prüfung im vergangenen Juni Bücher gekauft. Du hast das Hin- und Her, das Notebookgetippe und die Hitze gelassen ertragen. Du hast dein Kundenprofil von Medizin über Kochbuch via Theologie bis zum Kinderbuch spielend geändert. Cool hast du im Bauch deiner Expertinnen-Mutter gesessen und dich schlau machen lassen von den engagierten Lehrlingen der Abschlussklasse, von denen nicht eine/r ungenügend war beim Verkaufsgespräch.
Seit dem 9. Oktober bist du nun auf der Welt. Willkommen! Grüss mir deine Expertinnen-Mutter und rüste dich für die nächste Runde, die LAP-Planung hat schon begonnen.
Freude über Freude
Letzte Woche hat mich eine Lehrfrau gefragt, ob ich ihr meinen SPIEGEL zum Schillerjahr (sein 200 Todestag wird am 9. Mai 2005 sein) überlassen könne. Konnte ich nicht, war noch nicht fertig mit Lesen, aber habe versprochen, diese Woche mitzubringen. Habe ich gestern auch gemacht. Sie hatte grosse Freude, dass ich es nicht vergessen hatte, ich hatte grosse Freude über ihre grosse Freude. Und so ist der schöne Götterfunken über die Jahrhunderte gesprungen, just zu mir ins Schulzimmer.
Reflexion über ein Gedicht
„Unterrichten als Kunst“ ist ein Buch und ein Gedicht von Peter Wanzenried.
Unterrichten als Kunst,
in den Vordergrund zu treten:
Erzählend, darstellend, gestaltend
der Sache ihre Bedeutung geben.
Präsent und glaubwürdig vertreten,
was mir wichtig ist.
Unterrichten als Kunst,
in den Hintergrund zu treten:
Betrachtend, begleitend, ermunternd
dem Menschen seine Bedeutung geben.
Sorgfältig und zurückhaltend verstehen,
was er erkannt hat.
Unterrichten als Kunst,
in den Kreis zu treten:
Teilnehmend, aufnehmend, mitteilend
der Klasse ihre Bedeutung geben.
Befreidend und schützend miterleben,
was uns geschieht.
Unterrichten als Kunst,
aus dem Kreis heraus zu treten:
Bestimmend, fordernd, kontrollierend
der Aufgabe ihre Bedeutung geben.
Verbindlich und zuversichtlich verlangen,
was zu leisten ist.
Unterrichten als Kunst,
im Gleichgewicht zu bleiben
im Wechselspiel dieser Bewegung.
Das Gedicht als solches trifft meinen Geschmack nicht, Metrum und Form widerstreben mir regelrecht. Und weil ich hier reflektieren will und muss, frage ich mich, warum mir das nicht gefällt. Es ist mir zu „gspürig“ „auserwählt/esoterisch“ und der „Kreis“ nervt mich besonders, weil er in der Lehrerfortbildung einfach überstrapaziert wird.
(Klammer auf für das Wort „Lehrerfortbildung“. Fortbildung am Schwarzen Brett des Lehrerzimmers, in der Mailbox und auf der Powerpointvorlage sowie in der Einladung zur gemeinsamen Bildungsreise erinnert mich immer ans Wegrennen. Und beinhaltet für mich auch einen Befehl, der „fort Bildung!“ heisst. Klammer zu.)
Ich weiss, der „Kreis“ – der gehört einfach zum Unterrichten und „Zirkel“ ist auch keine Alternative.
Was mir am Gedicht gefällt, sind die Aussagen, dich ich hier hervorgehoben habe. Was mir im Gedicht fehlt, ist das „Mitgefühl“ das „sich Hineinversetzen in die Lernenden“, „teilnehmend“ ist mir nicht genug . Dieses „Mitempfinden“ ist für mich der essentielle Teil der Pädagogik und lustigerweise auch der wichtigste Teil meines Berufes als Buchwerberin.
Feuilleton
Heute will ich mit dem 2. Lehrjahr ansatzweise Rezensionen schreiben. Ziel ist, dass die Lernenden Buchtipps und Rezensionen unterscheiden und beurteilen können.
Buchtipps sind Empfehlungen, das kennen in der Regel alle angehenden Buchhändlerinnen und Buchhändler.
Rezensionen sind Kritiken. Das ist schwieriger zu machen, denn das ist journalistische Arbeit und ein Bestandteil des Feuilletons.
Und jetzt das. Jetzt sagt die Frankfurter Rundschau das Feuilleton tot. Völlig ungeachtet meines „Präps“.
Portfolio nach Dr. Jabornegg
Dem Dr. Jabornegg verdankt dieses Weblog seinen Namen. Im Gegensatz zu mir liebt er Powerpointvorlagen und hat eine originelle Folie kreiert:
Portfolio-Ansatz: Kern
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Portfolio = Lernprodukt + Schulung der Lernkompetenz
Ich bin dafür, die Dinge so kurz wie möglich zu formulieren, aber lieber nicht kürzer. Diese Formel sagt nur denen etwas, die es ohnehin schon wissen. Es ist eine Reduktion auf Null. Das macht sie absurd und darum gefällt sie mir.
Dur und Moll
Theres‘ Denkaufgabe hatte noch einen zweiten Teil:
2. Suche je ein positives und ein negatives, prägendes schulischen oder ausserschulisches Lernerlebnis [Lerner-Lebnis] und überlege dir:
a) Welche Personen, Orte, Institutionen spielten eine wichtige Rolle?
b) Welche weiteren „Faktoren“ spielten möglicherweise auch eine zentrale Rolle? Z.B. Lebensphase, Lernklima, Lernbereitschaft, Lernerfolge.
c) Welche Gefühle waren damit verbunden?
Das Positive habe ich beschrieben. Ich hatte wenige negative Lernerlebnisse in Schulen oder Institutionen, ich habe immer gerne gelernt und selten Motivationsprobleme. Als negatives Lernerlebnis kann ich höchstens den Singunterricht nennen. Wegen der Singlehrerin die mich stets warnte, dass meine mangelnde Fähigkeit Dur und Moll zu unterscheiden mir lebenslang jedes Konzert vermiesen würde. Das habe ich gehasst und sie selber habe ich auch nicht gemocht, sie war eine Sopranistin mit Kinderlähmung und ihr Name ist mir entfallen (Fräulein Lüscher könnte sein). Ich nehme an, dass sie der Grund dafür ist, dass ich noch heute sehr ungern aufgrund von Musik den Komponisten errate, während ich Autoren, Dichter, Geschichts- oder Literaturepochen begeistert aufgrund von Werken ermittle.
Im übrigen, ausserschulischen Leben habe ich viel aus negativen Erfahrungen gelernt und in meinem Bekanntenkreis scheint es nicht viel anders zu sein. Wenn man sagt, „daraus hat man seine Lehren gezogen“ oder „das wird ihr eine Lehre sein“ hängt das ja auch mit einem negativen Lernerlebnis zusammen.
Liegt es an unserer Undankbarkeit für das Glück? An unserem kritikorientierten Alltag? Oder unserer Angstgesellschaft?
Sonnenblumen
Ich habe eine kleine Denkaufgabe von Theres erhalten.
Meine Lerngeschichte:
1. Gehe in Gedanken in deiner Lerngeschichte zurück und vergegenwärtige dir Momente, von denen du sagen kannst: „Da habe ich etwas gelernt.“
Spontan fällt mir Herr Hari ein, mein Lehrer in der Rudolf-Steiner-Schule, den ich von der 1. Klasse bis zur 8. Klasse hatte. Am ersten Schultag hat er mir die Hand und ein paar Sonneblumenkerne gegeben. Er bat mich, sie gut aufzubewahren, es war ein Gedränge von vierzig Kindern in der Schulbaracke und es war anspruchsvoll für jedes, die Kerne zu hüten.
Ich durfte einen Blumentopf auswählen und ihn mit neuen, honigduftenden Wachskreiden (Marke: Stockmar) bemalen. Ich hatte genügend Zeit und kann mich an keinerlei Stress erinnern. Sobald ich mit der Verzierung zufrieden war, ging ich von meinem Platz aus nach vorne. Dort sass Herr Hari an einem Tisch, auf dem ein kleiner Berg von Tonscherben lag. Neben ihm stand ein schwerer Sack mit Erde, der beinahe so gross war wie ich selber. Herr Hari nahm meinen Blumentopf in die Hand, drehte, wendete und lobte ihn und fragte vielleicht sogar etwas nach. Er nahm eine Scherbe, legte sie auf das Loch im Topfboden und kippte mit einer kleinen Schaufel Erde darauf. Er bat mich, meine Kerne herauszuholen und die in die Erde zu legen. Als ich das getan hatte, legte wiederum er eine Schaufel Erde nach.
Alle haben ihre Töpfe auf die lange Fensterbank der Baracke gestellt, die Frühlingssonne schien warm darauf. Im Turnus hatten wir das „Ämtchen“ die Sonnenblumen zu giessen. Wenn es jemand vergass, wurde er von einem anderen aus der Klasse daran erinnert, denn wir hatten die Töpfchen den lieben langen Schultag im Blickfeld. Und wenn wir nicht da waren, konnten wir uns darauf verlassen, dass Herr Hari unsere Blumen goss. [Ich bin sicher, dass er die einen oder anderen neu gesetzt hat. ] Die Sonnenblumen aller vierzig Kinder wuchsen und standen in prachtvollster Blüte, als wir nach den Sommerferien in die Schulbaracke an der Effingerstrasse zurückkehrten.
Ende des Sommers konnten wir selber entscheiden, welche Kerne wir essen, welche wir neu pflanzen und welche wir den Vögel füttern wollten, sobald es gefrieren würde.
Bewertungskriterien
Ich zitiere zuerst die sechs „Leitfragen“ aus dem Leitfaden:
1. Sind die Rahmenbedingungen eingehalten?
2. Wird der Lernzuwachs, der Erkenntnisgewinn in den Darlegungen sichtbar?
3. Erkennt die Teilnehmerin die kritischen Phasen in ihrem Lernprozess?
4. Beziehen sich die Reflexionen auf relevante Aspekte der Ausbildung und der Lehrtätigkeit?
5. Werden aus den Überlegungen Schlussfolgerungen für das eigene Lehrverhalten und Unterrichten gezogen?
6. Sind die Darstellungen (Gedanken / Gefühle) für einen Aussenstehenden nachvollziehbar?
Dann zitiere ich die sieben Beurtielungskriterien, die ich auf einem weiteren Blatt erhalten habe:
1. Der Lernzuwachs und der Erkenntnisgewinn werden in der Darlegung sichtbar.
2. Die Verfasserin erkennt die kritischen Phasen in ihrem Lernprozess.
3. Die Reflexionen beziehen sich auf relevante Aspekte der Ausbildung und der Lehrtätigkeit.
4. Aus den Überlegungen werden Schlussfolgerungen für das eigene Verhalten gezogen und Optionen für das berufsspezifische Verhalten entwickelt.
5. Feedbacks werden so verarbeitet, dass handlungsleitende Imperative erkennbar sind.
6. Die Darstellungen (Gedanken/Gefühle) sind für einen Aussenstehenden nachvollziehbar.
7. Die Rahmenbedingungen sind eingehalten.
My way:
1. Dokumentiere ich innerhalb der Rahmenbedingungen?
2. Ist für jeden sichtbar und verständlich, was ich dazulerne?
3. Mache ich regelmässig Standortbestimmungen, auch in kritischen Phasen?
4. Reflektiere ich als Lernende und Lehrende?
5. Setze ich das Gelernte, speziell die Feedbacks der Kolleginnen und Kollegen, um?
Viel Ziel
Meine erste Frage ist die nach dem Ziel. Aber hier hats viele Ziele. Nach der Lektüre der gepostichten und gelochten, breit- und hochformatigen, weissen und farbigen Papiere, einmal in Prosa und einmal in Tabellenform und (fast) alles auch auf CD-ROM, möchte ich nur noch rufen:
Gebt mir einen waschechten Zielkonflikt!
Damit könnte ich umgehen. Aber die Abweichungen der Ziele sind nur ganz leicht. Die Aufgaben in den Aufgaben ganz ähnlich formuliert. Ich versuche es trotzdem, wie ich es meinen Lernenden empfehlen würde: Ziel eruieren und in Worte fassen. Nicht mehr als 10-Punkte, bitte. [Uff, knapp geschafft.]
Die Lerndokumentation:
1. ist eine Sammlung von Arbeiten der Kursteilnehmerin
2. steht in direktem Zusammenhang mit dem Kursgeschehen und der eigenen Lehrtätigkeit
3. dokumentiert die Entwicklung als Prozess während der ganzen Kursdauer
4. ermöglicht Schlussfolgerungen für das eigene Verhalten
5. schafft Optionen für das berufsspezifische Verhalten
6. erleichtert den Transfer in den Unterricht
7. dokumentiert den persönlichen Lernfortschritt.
8. illustriert den Prozess des Lernens und Verstehens
9. zeigt auch kritische Phasen auf
10. ist Arbeit an der eigenen Lernbiografie als Lehrerin
Einschreiben vom Chef?
Thema „Gesprächsführung“ im Rahmen Betriebs- und Verkaufskunde: Zum Start habe ich wieder einmal einfach so in die Klasse des zweiten Lehrjahres gefragt:
Was denken Sie, wenn Sie von Ihrem Chef unverhofft einen eingeschriebenen Brief bekommen?
Die Hälfte glaubte, es handle sich um die Kündigung des Lehrvertrages, die übrigen hielten den Brief für eine Vorladung, einige waren unentschlossen. Niemand glaubte, es sei etwas Positives, wie zum Beispiel eine Lohnerhöhung.
Noch nie habe ich auf diese Frage, ob sie schriftlich oder mündlich, in Gruppen oder einzeln gestellt wurde, eine wesentlich andere Antwort erhalten.