Marginalie mit Langzeitwirkung

Neulich an der Buchmesse hat mich eine österreichische Verlegerin gebeten, ein wenig über den Unterricht an der Berner Berufsschule für den Buchhandel zu erzählen. Da mir das noch nie im Leben passiert ist, dass sich jemand aus der Branche freiwillig um Unterrichtsinhalte getan hat, bin ich der Bitte aus meiner Sicht mit viel Begeisterung nachgekommen. Sie hingegen quittierte die Erzählungen mit:

Sehr interessant. Doch scheint’s, als wär’ Ihnen das Unterrichten höchstens ein geteiltes Vergnügen.

Diese Aussage habe ich mir natürlich sofort notiert. Reflexion ist ja schliesslich das A und O für Lehrpersonen, viel mehr noch als der lustig präsentierte D-i-A-l-O-g, den man uns buchstabenspielerisch in der Lehrerfortbildung vorsetzt. Der Tag, an dem diese Pointe Saint-Exupéry überholen wird, ist nicht mehr fern. [1]
Ich habe mir diese Woche also aufgeschrieben, wann ich gern und wann ich nicht gern unterrichtet habe. Nun, die Dame hatte Recht. Es stand 50:50. Hätte ich mich selber einschätzen müssen, hätte ich das ganz bestimmt schön geredet. Solche Zeiten gibt’s, doch muss man zusehen, dass sie nicht zu lange dauern.
Wenn immer möglich, stelle ich am Schluss der Stunde im 2. Lehrjahr eine Neuerscheinung vor und gebe ein paar schnelle Verkaufsargumente dazu. Einige Schülerinnen verderben mir dieses Ende, indem sie äussern, meine Wahl sei bescheuert. Halblaut können auch Kraftausdrücke wie „Scheissdreck“ vorkommen. Kurz gesagt kommt von wenigen viel Widerstand. Wie immer in diesem Programm in Form von Beleidigungen und Killerphrasen. Bei einem Sachbuch zu einem aktuellen Thema: „Wie langweilig! Die ganze Presse war schon voll davon!“, bei einem Erfolgstitel: „Das verkauft sich doch von selber!“, bei einem unbekannten Titel: „Das kauft sowieso kein Mensch!“, beim Buch des Autoren X: „Hmm. Es scheint keine Fans von X in der Klasse zu haben… oder?“
Wäre ich meine Kollegin, würde ich mir empfehlen, die Lernenden vermehrt und reihum Neuerscheinungen vorstellen zu lassen, damit sie besser einbezogen werden und selber Verantwortung übernehmen müssen. Wenn ich Mediatorin wäre, würde ich mit dem Widerstand mitgehen und mich erkundigen, ob ihnen doch etwas daran gefällt? Wenn ja, was denn? Wenn nein, was sie denn an Stelle von vorschlagen würden?
Weil ich aber weder meine Kollegin noch Mediatorin bin, werde ich in Zukunft der Widerständlerinnen die Pause verderben, indem ich sie einzeln zu mir rufe und frage, ob sie sich a) erinnern, was sie gesagt haben, ob sie b) eine Vorstellung hätten, wie das bei mir ankommt und c) werde ich sie darauf aufmerksam machen, dass das Auftreten die Hälfte der praktischen Prüfung ausmacht und diese mit einer Fallnote garniert ist. Das bedeutet, wer sie nicht besteht, wird nicht Buchhändlerin. Pech.
Und diesen pädagogisch unkorrekten Elan, der der Jugendarbeitslosigkeit Vorschub leistet, habe ich einer Messe-Marginalie zu verdanken. Ich lass mir doch nicht so mir nix dir nix das Unterrichtsvergnügen rauben. Nö, nicht mit mir.

[1] Zuerst erscheint das "A" und "O" auf dem Powerpoint. Und dann formt sich daraus "DiAlOg." Das erwähnte und gigantisch überstrapazierte Saint-Exupéry-Zitat lautet: "Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben, und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer."
Wobei "Männer" in der Lehrerfortbildung durch "Menschen" ersetzt wird.

10 Gedanken zu „Marginalie mit Langzeitwirkung“

  1. Starker Text!
    Der D-i-A-l-O-g kam bei uns übrigens in einer Power-point Präsentation reingerollt. Der Schulinspektor, der doziert hat, liess die Buchstaben originellerweise in Sprechblasen von Eisbären auftauchen. Was er uns damit sagen wollte, ist mir bis heute unklar.
    Wahrscheinlich, dass wir Lehrkräfte ein dickes Fell brauchen.

  2. Ich darf Euch in der Schweiz mal um Eure Buchhandelsausbildung kräftig beneiden. Zu meinen Lehrzeiten 1987 – 1990 gab es keinerlei Ausbildung für den Bereich „Verkauf“, zumindest nicht an der normalen Berufsschule in Berlin. Bei der Schule des Deutschen Buchhandels in Frankfurt mag das anders ausgesehen haben. Das hatte betrieblich zu erfolgen. Und wenn da nix passierte, war man darauf angewiesen, sich selbst einigermaßen durchzuhangeln. Ich habe mich quasi über trial and error selbst ausgebildet, und vermutlich nicht sonderlich gut. Im Deutschunterricht, der programmatisch ausschließlich ein solcher war, habe ich noch einmal das wiedergekäut, was ich im Gymnasium schon einmal durchgenommen habe (Werther,z.B. – als ich anzumerken wagte, daß aber Anton Reiser um vieles interessanter sei, fundierter, erklärte mein Deutschlehrer, ihm sei das Buch unbekannt.) Neuerscheinungen, ja ausländische Literatur fielen vollkommen unter den Tisch. Inzwischen gibt es an meiner ehemaligen Berufsschule ein Übungsfirmenprojekt, dessen Einzelheiten ich allerdings nicht kenne. Aber es wird erheblich sinnvoller und zielführender sein, als das, was ich als meine schulische Berufsausbildung erlebt habe. LG rollblau

  3. Habe gerade beim Lesen herzlich aufgelacht: Sie gestehen sich in Ihrem Blog sonst fast nie zu, persönlich genervt oder verletzt zu sein (oh, wie ich das kenne). Deshalb fand ich die Schleife, die Sie hier von Denkanstoß über Bestandaufnahme, Beispiel, Reflexion bis zu gesunder emotionaler Befreiung gemacht haben ganz besonders schön.

  4. Das freut mich aber sehr, nachdem ich unverhofft schnell und für unerwartet lange offline leben musste, so nette Kommentare vorzufinden. Fehler habe ich hoffentlich auch alle korrigiert.
    Tisha, merci beaucoup & jawohl, ohne dickes Fell geht es nicht und leider auch nicht ohne Empathie.
    rollblau, bei uns gehört Verkaufspraxis auch hauptsächlich in den Teil der Ausbildung, den die Lehrfimen anbieten müssen. Geprüft wird bei uns in der Schule, weil das Einzugsgebiet zu gross ist oder anders: unsere Branche keine Experten bezahlen kann (oder will? oder findet?), die in der ganzen Deutschschweiz Prüfungen abnehmen. Wir haben eine Prüfungsbuchhandlung, die die Lernenden selber einrichten und ich hoffe sehr, dass sie bald das ganze Jahr über zugänglich sein wird, damit wir mehr darin üben können, höflich zu bleiben.
    kaltmamsell, danke sehr. Sie haben Recht. Zum Einen ist das ein Resultat des nicht-anonymen Bloggens. Es lesen schon einige aus der Schule hier mit und die Schweizer Buchbranche, an der mein Job hängt, ist ein kleiner Klüngel. Zum Andern habe ich mir überlegt, dass es wohl mehr meiner Art entspricht, geordnete Gedanken denn unordentliche Gefühle zu bloggen. Vielleicht denk‘ ich das aber auch bloss.
    Stolle, das ist ja ein unterhaltsamer Link, danke! Allerdings habe ich die Auswahl der 5 nur mit Schnaps und Brot geschafft (entweder weniger oder viel, viel mehr wäre einfacher gewesen) und hätte Hemmungen, das weiterzuschicken. Und ach? Dich fragt auch niemand? „Wenn nichts gefragt und gesagt wird, dann ist es i.O.“ – gilt wohl überall.

Schreibe einen Kommentar zu Tanja Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.