Homo ludens

Die Altjahrswoche ist da für Spielereien, schon allein, weil alle dann ihre Weihnachtspräsente in Betrieb nehmen. Seit wir – dank beruflicher Veränderungen – in dieser Zeit nicht mehr Jahresabschlüsse machen müssen, haben wir mehr davon.
Ich werde also in den nächsten Tagen die neuen Games den Kindes kennen lernen, Table-Top-Figuren anmalen, mit der ganzen Sippschaft „Wer-bin-ich?“ spielen, endlich passende Pics für die Cover-losen Alben auf meinem iPod laden, meine geschenkte Musik hören, dazu feierlich meinen neuen Skullcandy einweihen, die Fortsetzung von Trickfilmen gucken, ein Dutzend schöne Plätze aufsuchen, an denen ich schon hundertmal war, Fotos machen, die ich schon tausendmal gemacht habe, mich hinter meiner Inwendig-Lern-Gedichtsammlung verschanzen und viele andere Dinge tun, ohne die das Leben problemlos funktionieren würde. (Bloggen gehört nicht dazu.)

Weihn08

Ein liebes Gedicht

In diesem Jahr kam über die Hälfte der Suchenden der Liebesgedichte wegen hierher. Besonders gefällt mir, dass auch „liebe Gedichte“ so viele hierhin führten.
Zu Weihnachten soll nun etwas Angemessenes gefunden werden. Müsst‘ ich mich entscheiden, wäre das Folgende wohl mein liebstes Liebesgedicht. (Mein bester Dichter. Und sehr einfach auswendig zu lernen.)
Der Brief, den du geschrieben,
er macht mich gar nicht bang;
du willst mich nicht mehr lieben,
aber dein Brief ist lang.
Zwölf Seiten, eng und zierlich!
Ein kleines Manuskript!
Man schreibt nicht so ausführlich,
wenn man den Abschied gibt.
– Heinrich Heine

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In der Grossbuchhandlung [4]

Mein Praktikum ist zu Ende. Und ich glaube fast, ich hatte einen Lieblingskunden. In der Grossbuchhandlung ist es einfacher, Kundinnen und Kunden gleich zu behandeln, weil man sie viel weniger gut kennt, als das in der Klein- oder Fachbuchhandlung der Fall ist. Aber ganz neutral ist man ja nie.
Mein Lieblingskunde war ein knapp dreissigjähriger Mann, der eine Nachholbildung in einer Handelsschule machte. Er erzählte, er habe Probleme im Fach Deutsch (es war jedoch ein Muttersprachler) und die Lehrerin habe ihm deshalb nahe gelegt, pro Woche ein Taschenbuch zu lesen. Er habe vorher nie mehr als zwei Seiten auf einmal gelesen und er brauche im Moment noch fast einen Monat dazu. Aber er lasse sich jetzt immer in der Buchhandlung beraten.
Ich freute mich ehrlich über diesen Entschluss und erfuhr, dass er bis jetzt zwei Krimis auf Buchhändlerinnen-Empfehlungen gelesen hatte. Einer war wunder-, der andere furchtbar gewesen. Vom Furchtbaren hätte kaum verstanden worum es ging, geschweige denn erfahren, wer der Bösewicht gewesen sei, obwohl er extra das ganze dumme Buch durchgelesen hätte.
Ich hatte die beiden Titel am Lager, kannte sie aber nur vom Hören. Sie unterschieden sie sich hauptsächlich in dem, was man – streitbar – „literarisches Niveau“ nennt.
Das sind Idealfälle der Beratung. Wenn ein Mensch die Hilfe wirklich sucht, etwas zu seinem Lesegeschmack sagen kann und willens ist, ein guter Kunde zu werden. (Was viele Verkäuferinnen und Verkäufer wissen, aber immer wieder vergessen: Ein guter Kunde kauft nicht per Definition viel, es kann ebensogut einer sein, der viel von dem ihm zur Verfügung stehenden Geld bei einem ausgibt, auch wenn es wenig ist.)
Ich machte dem Kunden eine Skala von 1-10. Der in seinen Augen unleserliche Krimi war die 10, der, den er gemocht hatte, die 5. Ich legte ihm vier Empfehlungen raus. Ich kennzeichnete die Krimis je nach literarischem Niveau und Aufklärungsgrad mit den Zahlen 5-8 (Pos-it). Er fragte, weshalb es keine 4 dabei hätte? Ich antwortete, dass der Abstieg ja wohl keine Option sei, was ihn zum Lachen brachte. Er kaufte die 5 und dazu noch die 6. Die 7 und meinen Namen kritzelte er hinten auf einen Kassenzettel (obwohl ich ihm gesagt hatte, ich sei im neuen Jahr dann nicht mehr da).
Ich wünschte Glück bei der Handelsschule und Freude an der Lektüre und er eilte – mehrmals dankend – von dannen.

Nach der Arbeit

gehe ich einkaufen
mache ich Abendbrot
sehe ich mit dem Kind
den nächsten Tag und
seine Hausaufgaben an
bügle ich ein paar Kleider
packe ich ein paar Geschenke
telefoniere ich mit einem Schüler
trinke ich ein Glas Merlot mit dem Mann
versuche ich mich wieder bei Europeana
schaue ich die UNICEF Fotos des Jahres 2008
lese ich im vom Kollegen empfohlenen Steinfest
bin ich müde

In der Grossbuchhandlung [3]

Ich geniesse es, in der Grossbuchhandlung nur einzuräumen und zu verkaufen. Bestellen (disponieren), Pausenzeiten festsetzen, Stellvertretungen für Kranke organisieren, Telefone abheben, Online-Warenkörbe leeren und Bestellungen verarbeiten – das alles machen andere.
Ich verkaufe gern, besonders in Buchhandlungen. Egal ob sie klein, gross, spezialisiert oder allgemein sind, denn ich schaue gerne zu, was passiert, wenn Menschen und Bücher zusammenkommen.
Zum heutigen Tag ein paar Verbindungen zwischen Theorie und Praxis (ist schliesslich mein Job in der Schule, das zu machen).
Grundlage des Verkaufs ist die Wahrnehmung. Die Wahrnehmung der Buchhändlerin entscheidet darüber, ob eine Kundin kauft und – noch wichtiger – ob sie wieder kommt.
Im aktiven Verkauf muss viel getan werden. Aber in Verkaufsseminaren wird oft erzählt, was man unterlassen soll. Es klingt dann immer einfach. Doch im Verkaufsalltag bedeutet es, Gewohnheiten zu knacken, und das ist schwierig.
Ich nehme als Beispiel die Kontaktaufnahme:

  • Die gleiche Buchhändlerin sollte den gleichen Kunden ganz bewusst und nur einmal grüssen.
  • Der gleiche Kunde sollte pro Buchhandlung oder pro Etage in der Buchhandlung nur einmal ganz allgemein nach seinen Wünschen gefragt werden.
  • Bei Antworten soll die Buchhändlerin Verneinung meiden.
  • Das Grüssen müssen Buchhändlerinnen und Buchhändler im Griff haben, es ist reine Übungssache. Ich kenne meine Kundinnen und Kunden mindestens für einen Tag, auch wenn sie keine Beratung wollen und mehrmals vorbeikommen. (Wenn ich fit bin, kann ich mir für diese Zeit auch Namen merken. Wer etwas bestellt oder bei mir mit Kreditkarte bezahlt hat, den rede ich mindestens am selben Tag mit Namen an.)
    Der nächste Punkt hängt von den Räumlichkeiten ab. In der Buchhandlung, in der ich jetzt bediene, ist es leicht zu merken, wenn ein Kunde bereits von einer Kollegin oder einem Kollegen nach seinen Wünschen gefragt worden ist. In unübersichtlichen Verkaufsräumen muss sich das Team auf ein Vorgehen einigen. Die Buchhändlerin muss vielleicht den Kunden gegenüber zugeben, dass sie unsicher ist, „ob wir Sie schon nach Ihren Wünschen gefragt haben?“.
    Der letzte Punkt ist die grösste Herausforderung. Kunden fragen oft:

  • a) negativ-suggestiv. „Sie haben von dem Buch kein zweites Exemplar mehr da..?“
  • b) positiv-suggestiv: „Die Wandkalender sind sicher oben..?“
  • Bei a) darf sich eine Verkäuferin nicht zum „Nein“ verführen lassen, sie muss antworten: „Ich sehe gerne für Sie nach.“
    Bei b) darf sie nicht „Nein, sind sie nicht, sie hängen direkt da vorn“ sagen. Sie muss die Wandkalender zeigen.
    Denn dass etwas nicht da oder dort ist, will der Kunden nie wissen, auch wenn er danach fragt. Er will immer wissen, ob etwas im Sortiment ist und wo genau.

    Krisen-Abstracts

    Damit ich’s wieder finde: Schöne Zusammenfassung des politisch ohnmächtigen UBS-Deals aus der gestrigen WOZ: „Abnicken im Schwitzkasten“ von Carlos Hanimann.

    Ein kurzer Rückblick: Anfang Oktober, als sowohl JournalistInnen wie auch die meisten ParlamentarierInnen nur über Armeechef Roland Nef, VBS-Vorsteher Samuel Schmid und den desolaten Zustand der Armee reden wollten, forderten SP und Grüne dringend eine Sondersession zur Finanzmarktkrise. Die US-Regierung hatte die ­Kontrolle über die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac übernommen, die Investmentbank Lehman Brothers hatte die Bilanz deponieren müssen, der weltgrösste Versicherer AIG stand vor dem Konkurs – es war absehbar, dass auch die Schweiz bald in den Strudel der Krise geraten würde. Der freisinnige Finanzminister Hans-Rudolf Merz lag derweil wegen eines Kreislaufkollapses im Berner Inselspital – just in der Stunde der Krise. Der Linken gelang es zwar, eine Sondersession einzuberufen, die bürgerlichen Parteien allerdings zeigten sich wenig begeistert. Die wirtschaftliche Situation sei gut, hiess es. Und die UBS kündete zu jenem Zeitpunkt noch Gewinne für das dritte Quartal an. Zwei Wochen später mussten Bund und Nationalbank das Rettungspaket für die UBS mit dem beschönigenden ­Titel «Massnahmen zur Stärkung des Finanz­systems Schweiz» verabschieden – in der Höhe von über sechzig Milliarden Franken, ein Finanzpaket in noch nie gesehener Grösse.
    Es folgte eine Welle der Empörung, die jedoch selten über moralinsaure Kritik an den übertriebenen Managergehältern hinausging. Die Krise schien zu gross, das Thema zu komplex, um grundsätzliche Fragen zu stellen. Die Sondersession wurde trotz oder vielleicht gerade wegen der Brisanz der Finanzmarktkrise verschoben und schliesslich auf den Montag zwei Tage vor der Bundesratswahl angesetzt. Die politische Diskussion um den Finanzplatz war damit für Wochen blockiert, sie lief höchstens – sehr personalisiert – über die Medien.

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    In der Grossbuchhandlung [2]

    Ich mag Kunden und von den Hunderten, die ich schon bedient habe, sind mir nur sehr wenige im Gedächtnis geblieben, weil ich Schlechtes mit ihnen erlebt habe. Dafür viele, mit denen mich über lange Zeit eine gute Beziehung verband und viele, aus deren Wünschen und Ansprüchen ich nachhaltig gelernt habe.
    Aber es ist schon interessant zu sehen, wie wenig sich am Kundenkontakt verändert, obwohl sich die Buchhandels-Landschaft so schnell wandelt.
    Schon am ersten Tag hatte ich jemanden, der mir im Brustton der Überzeugung einen falschen Titel und falschen Autoren angegeben hat. Zuerst stand ich blöd da, weil ich selber nichts wusste und weil der Kunde absolut glaubwürdig klang. Ich konnte ihm erst am nächsten Tag weiter helfen, nachdem ich alle Leute im Kollegenkreis angesimst hatte, die sich im Thema auskennen.
    Am selben Tag war auch ein Autor da, der bei der Kollegin unter falschem Namen sein eigenes Buch bestellt hat. Ich habe ihn erkannt, die Kollegin zum Glück nicht. Denn man kann die Contenance eindeutig besser wahren, wenn man nicht weiss, dass man nur getestet und das Buch nicht verkaufen wird.
    Ich predige in der Schule immer, dass es möglich sei, jeden Kunden zufrieden ziehen zu lassen, auch wenn man das Gesuchte nicht bieten konnte. Bis jetzt ist mir das diese Woche gelungen. Allerdings nur knapp. Bei einem, der richtig wütend darüber war, dass er weder in der Buchhandlung noch in einem anderen Geschäft in der ganzen Shoppingmall eine CD kaufen konnte, habe ich beinahe aufgegeben. Entmutigt habe ich am Ende noch gefragt, was er denn so dringend gesucht hätte (obwohl mir die Frage angesichts meines Nicht-Angebots stupid vorkam). Und er meinte bissig: „Gleichstrom, Wechselstrom“. Ich verstand ihn und konnte ihn aufrichtig bedauern, weil ich selber schon länger gern in die Neue von good old AC/DC reingehört hätte. Wir verabschiedeten uns in Minne.