Nach einem schönen, verlesenen, verschwommenen Sommermonat bin ich zurück im Regen der Schweiz. Die Einhemische unter Touristen zu sein fällt mir gerade etwas schwer. Ich hatte mich an die Rolle der wortkargen Ausländerin in Südfrankreich gut gewöhnt.
Seit drei Tagen wasche ich, lese die Post, verarbeite meine Mails und versuche zu strukturieren, was ich auf dem Memorystick an Unterrichtsvorbereitug aus den Ferien mitgebracht habe. Offline hat seinen Preis und lohnt sich für mich sehr. Denn der Unterschied liegt im Plus – ich fühle mich auch im Hintertreffen, wenn ich online bleibe. Unser Schulhaus ist noch immer eine grosse, kaum zugängliche Baustelle und ich widme mich deshalb zuerst dem, was ich gelesen habe. Ich gebe hier wenig Inhalt, sondern hauptsächlich eine Leseempfehlung.
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Kategorie: Tanjas Bücher
Was ich (unter anderem) gelesen habe
Aus Stellvertretungen werden Bücher
Die letzten Tage hatte ich die meisten Stellvertretungen ever. Dass die Schweinegrippe unbemerkt gekommen und wieder abgehauen sei, wie die Presse vermeldet, kann ich also nicht bestätigen. Und dass nur die Pharma damit verdient hätte, auch nicht. So kaufte ich also Bücher. Weil sie glücklich machen, auch wenn sie traurig sind.
It was like the moon
„Tell me a story, Billy boy.“
„Dresden was destroyed on the night of February 13, 1945,“ Billy Pilgrim began. „We came out of our shelter the next day.“ He told Montana about the four guards who, in their astonishment and grief, resembled a barbershop quartet. He told her about the stockyards with all the fenceposts gone, with roofs and windows gone – thold her about seeming little logs lying around. There were people who had been caught in the fire-storm. So it goes.
Billy told her what hat happened to the buildings that used form cliffs around the stockyards. They had collapsed. Their wood had been consumed, and their stones had crashed down, had tumbled against one another until they locked at last in low and graceful curves.
„It was like the moon,“ said Billy Pilgrim.
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Warum Bücher?
Mehr als mein halbes Leben arbeite ich nun für den Buchhandel. Und die Vorstellung, damit aufzuhören, ist mir ein Graus. Dass der Buchhandel für mich ein Teil der Welt ist, für den sich der hohe Einsatz lohnt, habe ich längst gestanden. Einige Buchhändlerinnen und Buchhändler verlassen die Branche leichten Herzens, vor allem in Deutschland hat der Beruf viel Ansehen eingebüsst. Aber es gehen auch viele ungern weg und versuchen sogar dann noch eine Stelle im Buchhandel zu finden, wenn die Vernunft (Arbeitszeit, Lohn, Zukunfts- und Aufstiegschancen) andere Wege wiese. Weshalb?
Um ein gutes Soritment zu pflegen, muss man aufmüpfig sein, denn das wirklich Neue verkauft sich nicht von Anbeginn – ja, vielleicht nie – in Stapeln. Gleichzeitig hat der Buchhandel auch etwas Konservatives, Bewahrendes. Ich kenne einige in der Buchbranche, die Trends problemlos wittern, aber ihren Kompassnadel nach (vermeintlich) vergangenen Werten ausrichgerichtet halten und genau damit erfolgreich sind. Vielleicht ist es die Verbindung zwischen dem, was war und dem, was kommen wird, die uns gefällt und uns hält?
(…) dann die vielen wunderbaren Bücher und wunderbaren Menschen, die mit Büchern zu tun haben
wie mir ein am Buchhandel „Klebender“ – wie er sich selber nennt – zum Neujahr schrieb.
Vielleicht ist es bei mir auch einfach „Heidi“. Das wichtigste Buch in meinem Leben, weil es ein Jahr lang mein einziges war. Wer gern liest und sich jemals länger in der unschönen Lage befunden hat, (fast) nichts zum Lesen zu haben, wird sich bis ans Ende seiner Tage für Bücher stark machen, Reich-Ranicki ist weissgott nicht das einzige berühmte Beispiel dafür. Der Diogenes Verlag hat neulich erste Leseerfahrungen von Schriftstellern zusammengetragen (soweit ich weiss, ist das entsprechende Büchlein nicht einzeln zu bestellen, trotzdem: 978 3 257 79722 0). Darin habe ich gelesen, dass das prägende Leseerlebnis bei Ingrid Noll ebenfalls das „Heidi“ war. Sie hat ihre Kindheit in China verbracht und schreibt zu ihrem damaligen Lieblingsbuch:
Heidi, das arme Tröpfli, wird gleich zu Beginn der Erzählung zu seinem Grossvater auf die Alm gebracht, dick verpackt in mehrere Textilschichten, damit es alle Habe beisammenhat. Als sant-energische Vorgängerin der Pippi Langstrumpf tut Heid das Unerhörte: Auf halbem Weg zu Höhe schält es sich aus seinen Kokons, entledigt sich der schweren Schuhe und springt von da an nur noch im Unterhemd vergnüglich fürbass.
Ich weiss nicht, wie oft ich mein Heidi-Buch gelesen habe, weil ich keine Ahnung habe, wie schnell oder langsam ich mit zehn Jahren im Lesen gewesen bin. Fünfzig oder hundert Mal? Trivialität hin oder her – fernab von daheim kann man wenig Besseres lesen als Spyris Heidigeschichte. Wie Ingrid Noll beweist, braucht man dafür nicht einmal Schweizerin zu sein:
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Momentaufnahme meiner Lektüre
Ich habe gerade vieles zu tun, was Einfluss auf andere hat. Das finde ich nicht anstengender als anderes, aber es ist mir wichtiger, alles sorgfältig zu machen. Es geht um Unterrichtsbesuche, Mitarbeitergespräche, Gespräche für die Personaleinsätze im neuen Schuljahr, Qualitätssicherung bei der Umsetzung der neuen Bildungsverordnung und anderes in diese Richtung.
In solchen Phasen muss ich mich sehr konzentrieren und lese deswegen neben den notwendigen Unterlagen privat möglichst viele Bücher. Bücherlesen ist für mich eine zugleich beruhigende wie anregende Tätigkeit. Es hilft mir, an einer Sache dranzubleiben, gerade wenn für Zielkonflikte noch keine Lösung in Sicht scheint.
Ich lese im Moment:
Ich bin bei allen drei Titeln über die erste Hälfte raus und empfehle sie gern. Sie sind lesewürdig.
Andres Veiel, Der Kick
Wenn wir in diesem Jahr den 20. Jahrestag dieses großen Ereignisses begehen, schauen wir immer nur zurück. Zum tausendsten Mal schauen wir uns die alten Bilder und Filme noch einmal an. Ich kann diese Bilder nicht mehr sehen, ich kann mit all diesen Heldengeschichten nichts mehr anfangen. Ich weiß nicht mehr, was sie mir noch erzählen sollen. So oft haben wir sie schon gesehen. Warum reden wir nicht endlich über die Gegenwart? Warum fragen wir uns nicht, was die Ostdeutschen in den Jahren seither erlebt haben? Ist das so schwer?
Das ist ein legitimer Wunsch Jana Hensels (Zonenkinder). Leider hat sie recht, es gibt neben ihren nicht viele Bücher, in denen nach einer differenzierten Antwort auf die Frage gesucht wird, wie es den Menschen im und aus dem Osten Deutschlands geht. Ich möchte eines der wenigen besprechen, auch wenn es ein „Problembuch“ ist:
Andres Veiel
Der Kick
Ein Lehrstück über Gewalt
2009 cbt
ISBN 978-3-570-30624-6
„Problembuch“ nennen wir im Buchhandel die Titel, die sich mit Problemen von Jugendlichen befassen und sich für den Deutsch- und Kompetenzunterricht eignen. Ich weiss aus buchhändlerischer Erfahrung, dass derlei Bücher entweder Fans oder Feinde haben. Ich selber schätze solche Titel, solange sie aktuell sind, das heisst die Handlung sollte nicht länger als zehn Jahre zurück liegen.
«Der Kick» ist leicht verständliche Lektüre. Trotzdem wird hier nicht versucht, einen komplexen Sachverhalt vereinfacht darzustellen, was bei «Problembüchern» eine Gefahr ist. Man merkt, dass der Autor Regisseur und Dramaturg ist, der aus dem Stoff auch ein Theaterstück und einen Film gemacht hat und es gewohnt ist, Zugang zu einem schwierigen Thema zu verschaffen.
In diesem «Lehrstück über Gewalt» wird einer wahren Begebenheit aus dem Jahre 2002 nachgespürt: Damals misshandelten das Brüderpaar Marco und Marcel und deren Kumpel Sebastian den sechzehnjährigen Marinus grausam und ermordeten ihn schliesslich mit einem «Bordsteinkick» (Genickbruch durch einen Tritt), den sie dem Film «American HistoryX» nachahmten. Obwohl es Zeugen und Mitwisser gab, blieb die Tat monatelang unentdeckt. Dieser Umstand war der Aufhänger der endlosen Medienberichterstattung, die nichts als den Empörungskult bediente. Vor sieben Jahren war das noch weniger üblich als heute, wo sich die Berichterstattung über die Jugend im Normalfall auf deren delinquente Anlagen beschränkt. Obwohl es enorm viel Zeit in Anspruch nahm, fand Veiel damals die finanzielle und ideelle Unterstützung für sein Projekt. Ich bezweifle, dass es heute noch so wäre.
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Buchumschlag 2009 (mit Vorgeschichte)
Das Bild ist aus dem Buch „Bücher und Büchermacher“ von Erhardt Heinold, 2. Auflage 1988. Der S. Fischer Verlag hat eine turbulente Verlagsgeschichte, nach der Gründung 1886 folgten vor allem im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg verschiedene Metamorphosen, die im Konzentrationsprozess des neuen Jahrhunderts natürlich weiter gehen. Otto Eckmann hat 1895 das Signet mit dem Fischer und seinem Netz entworfen (s.a. Kommentar unten von S. Fischer). Die Idee dahinter war, dass Fischer die Literatur aus dem Weltmeer einholt und Weltliteratur zur Nahrung macht. Emil Rudolf Weiss (1) hat dem Fischer noch eine Fischerrute und einen Rahmen gegeben, Walter Tiemann (2) hat die Fischer-Buchstaben besonders für schmale Buchrücken tauglich gemacht. 1958 wurde das Signet dann von Jan Buchholz und Reni Hinsch (3) als Logo mit Rahmen, Fischer-Initialen und dem Fischer mit Netz neu aufgelegt.
Noch heute arbeitet der Verlag mit dem Fischer mit dem kräftigen Zug. Mein Favorit unter den Buchumschlägen dieses Jahres kommt ebenfalls aus dem Hause S. Fischer, zeigt mein Traumhaus und passt erst noch zum Inhalt. Letzteres ist bei Romanen ja seit jeher ein seltenes Vergnügen.
Daniel Pennac, Schulkummer
Daniel Pennac
Schulkummer
Kiepenheuer & Witsch 2009
ISBN 978-3-462-04072-2
Originaltitel: Chagrin d’école
Zuerst muss man den «Cancre» kennen lernen. Pennacs Übersetzerin Eveline Passet hat ihn völlig zu Recht beibehalten, denn der Begriff «Cancre» ist nicht ins Deutsche übertragbar. Im Wörterbuch steht zwar «Krebs, Krabbe, bösartige Geschwulst, schlechter Schüler.» Das französische Wort bezeichnet alles zusammen und vor allem nicht nur den «schlechten Schüler», sondern den Schmerz, den schlechte Schüler erleben. Und genau darum geht es Pennac, dem Schulversager.
Eine leicht verkäufliche Lektüre, die viele Leser mögen: ideenreich, einfühlsam und mit einem Appell versehen. Letzteres aber nur nebenbei, wer nicht will, kann den bildungspolitischen Aspekt auch überlesen und sich hier ganz und gar der eigenen oder Pennacs Schulbiografie widmen. Der Autor blickt nämlich auf eine besonders lange Schulzeit zurück, denn er musste manche Klasse wiederholen und ist erst nach vielen gescheiterten Versuchen, Abitur und Studium zu überstehen, Lehrer geworden.
Die Wechselwirkung der Schüler- und Lehrerperspektive macht dieses Buch besonders. Bei Pennacs Biografie sind beide Sichtweisen gegeben und das ist sein Vorteil. (Auch Guggenbühl, Largo oder Jegge sind in Sachen «Schulkummer» stark, aber sie scheinen selber sehr effizient und kennen den Schulversager meines Wissens nur als Klienten.) Nun ist die Fähigkeit, sich ineinander hineinzuversetzen für Lernende und Lehrende sehr praktisch, beide Parteien können bei Pennac viel abgucken. Seine Strategie als Schulversager waren Ausflüchte und Auswendiglernen, sein Gefühl war, eine Null zu sein. Er war stets überzeugt, «es» sowieso nicht zu begreifen. Als Lehrer schaute er «es» mit seinen Schülern an. Was verbirgt sich dahinter? Pennac analysierte die Ausreden grammatikalisch und liess seine Cancres den Satzbau ihrer Antworten sezieren. Natürlich gab es in Pennacs Klassen auch «Leckerbissen», wie er seine guten Schüler insgeheim nennt. Pennac unterrichtete Muttersprache und musste seine Aufgabenstellung im Einwanderungsland Frankreich auf unterschiedliche Niveaus ausrichten. Er machte deswegen gerne Experimente.
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Ich habe dich beim Namen gerufen
Ich habe schon ein paar Tage Kopfschmerzen und das ist jeweils das Zeichen für mehr Schlaf und PC-frei. Aber bevor ich die Maschine für mindestens drei Tage herunterfahre, noch eine Buchempfehlung, die ich schon lange machen wollte.
Dieser Band ist bei der Kritik durchgefallen. Von der Anderen Bibliothek hatte man mehr erwartet als ein gefällig aufgemachtes Namensbuch. Man sah darin den Anfang vom Abstieg in die Trivialität nach Enzensberger. Aber wie so häufig waren sich Kritiker und Käufer nicht einig und der Titel ging im Dezember 2007 viele Male über den Ladentisch.
Zu Recht. Das Buch vereint bekannte aber auch unbekannte Namensgedichte, jedes mit einer Bemerkung zur Herkunft des Gedichtes und – wo eruierbar – zur Motivation des Dichters. Etwas zur Etymologie der Vornamen ist wie in allen Namensbüchern auch dabei.
Hier wurde viel Lesenswertes von deutschen Dichtern und erstaunlich vielen Dichterinnen seit dem 17. Jahrhundert gesammelt. Konrad Bayers „für judith“, Elisabeth Borchers „Für Maximilian am ersten Schultag“, Paul Celans „Marianne“, Matthias Claudius‘ „An Frau Rebekka“, Theodor Fontanes „An Georg Fontane“, Marie Luise Kaschnitzs „Meine Schwester Lonja“, Else Lasker-Schülers „An den Prinzen Benjamin“, Doris Runges „für Kasper – du also“ und Karl Stamms „Sonnett an Inez“ sind nur einige Beispiele von Gedichten, die nicht jeder kennt.
Es handelt sich dabei – das liegt in der Natur der Sache – zu einem grossen Teil um gewidmete Lyrik. Aber genau diese ist ein wichtiges Zeugnis dafür, wie Menschen über die Jahrhunderte Gefühle teilen, wie sie Liebe, Freude, Sehnsucht, Not und Leid in Worte fassen, wenn es mindestens so sehr wie um sie selber, um einen anderen geht.
Lesebilanz
Im Moment muss ich viel schreiben (Lehrpläne, Pegasus, Konzepte, Berichte) und deswegen fehlt mir die Musse, hier so richtig sorgfältig Bücher zu empfehlen.
Aber am Sonntag ziehe ich traditionell Bilanz über meine Leserei und schaue, was ich in der nächsten Woche lesen will. Das kommt davon, dass viele Literaturbeilagen und Feuilletons am Samstag erscheinen und auch davon, dass man als Buchhändlerin gar keine andere Zeit hat zum reflektierten oder sekundären Lesen als den Sonntag.
Ich habe letze Woche gelesen und kann jedem ans Herz legen:
Ich lese gerade oder in Bälde:
Ich möchte lesen, aber trau es mir gerade (noch) nicht zu: