Es geht weiter mit Ferienlektüre in Form von Lesexemplaren (=unfertige, kostenlose Bücher, die der Verlagsvertreter dem Buchhandel vor dem Erscheinungstermin zur Verfügung stellt):
-Joey Goebel, Vincent
Immer die gleiche Geschichte von Begabten und so, mochte ich nicht lesen.
-Stephen Clarke, Ein Engländer in Paris
Hab ich von anderen lesen und dann erzählen lassen, was sich als sand- und strandfeste Variante ausgezahlt hat. Es geht um einen Engländer, der eine Teehaus-Kette in Frankreich ankicken soll. Zwischen den beiden Ländern Frankreich und England gibt es genügend Gräben, die ein pfiffiger Schreiber mit Anekdoten füllen kann und dieser Clarke scheint so einer zu sein. Und wenn man wie ich noch in Frankreich selber sitzt, stets um Hundehaufen zirkelt und nicht weiss, ob jetzt ein guter Nachmittagsschluss „bon fin d’après-midi“ gewünscht werden soll oder schon ein guter Abend „bon soir“, dann ist das halt einfach passend.
-Tariq Ali, Der Sultan von Palermo
Ich hatte keine Lust auf dieses Buch, sorry. Es kann nichts dafür.
-Azar Nafisi, Lolita lesen in Teheran
Gute, subjektiv gefärbte Dokumentationen haben es mir angetan, ich lese politische Ereignisse am liebsten in dieser Form. Also war das genau das Richtige für mich. Ein Feuerwerk von Erlebnissen, Argumenten, Frauengedanken. Azar Nafisi ist im Iran aufgewachsen, studierte in England und Amerika und kommt zurück nach Teheran als Khomeini die Macht übernimmt und das Land mit entsprechenden Schergen und perfiden Methoden von der Moderne wegkatapultiert. Er baut in dieser Diktatur am Faschismus, wie es schon so oft gemacht wurde und immer wieder gemacht werden wird. Der Titel des Buches bezieht sich auf Nafisis Lese- und Diskussionsgruppe, die sie bei sich daheim mit ihren Studentinnen macht. Mein Nachteil bei der Lektüre war, dass ich mich nicht so gut mit original englischer Literatur auskenne, das aber genau das Thema ihrer Seminare war. Ich kam mir also ein wenig dumm vor. So oder so ist das ein Buch, das ich kaufen, nochmal lesen und ausführlicher besprechen werde.
-Kjell Eriksson, Die grausamen Sterne der Nacht (altes Leseexemplar, bereits erschienen.)
Da bin ich (trotz nordisch Krimi) dran geblieben, weil jemand der Müga das Buch schlecht fand. Mir gefiel die Kriminalgeschichte im Grunde gut, und die Kommissarin Ann Lindell ist in Ordnung. Als Leserin verfolgte ich hauptsächlich die ziemlich irre geleitete superintelligente Tochter eines verschwundenen Petrarca-Experten. Und dagegen hatte ich wirklich nichts, das war packend. Das Mordmotiv blieb mir jedoch irgendwie verschlossen und die Übersetzung war wohl noch nicht ganz fertig.
Die Verlage können auch nicht zaubern und haben jetzt schon Mess-Stress.
Autor: Tanja
On
Passend zu Beruf und Berufung starte ich mit den Büchern (in a Nutshell) aus meinen Sommerferien:
-Haruki Murakami, Untergrundkrieg
Das ist Murakamis Zeugnis zum Giftgasanschlag in der U-Bahn von Tokyo im März 1995. Murakami ist ein Autor, der nie etwas übereilt, eine Liebesgeschichte ebenso wenig wie eine Dokumentation. Ähnlich wie Alexijewitsch tastet er sich vor, recherchiert über Information und Desinformation, stellt zurückhaltend die passenden Fragen zum richtigen Zeitpunkt und macht einfach gute Arbeit als Autor wie als Relais.
-Primo Levi, Anderer Leute Berufe
Habe ich dann doch nicht gelesen. Es war zu sehr eine andere Welt. Vielleicht später.
-Anne Holt, In kalter Absicht
Habe ich auch nicht weiter gelesen, soll aber spannend sein. Nordische Krimiautorinnen tendieren zunehmend zu Brutalitäten, die ich nicht brauche. An Eltern zurückgeschickte Leichenteile entführter Kinder, nur weil das grad noch niemand sonst schreibt? Die Krimischreibenden stehen einander im Norden zu sehr auf den Füssen rum.
-Plina Daschkowa, Nummer 5 hat keine Chance
Ein sehr kurzes und sehr feines Stück russischer Literatur. Immer an der Grenze zur Tradition russischer Klassiker, schleicht die Novelle den Ungerechtigkeiten im heutigen Russland nach. Aus alter Bauernfängerei wird neue und zuletzt verliert eine freundliche Lehrerin vom Land ihr ganzes Geld für den Rollstuhl ihrer Tochter im Spielcasino. Nein, das ist noch nicht ganz der Schluss, die Bösen büssen.
-Inger Frimansson, Die Treulosen
Nicht gelesen, siehe Holt.
-Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon
Habe ich während der Ferien ausgeliehen, lese ich später. Ist aber 1000 Mal besprochen und lobend dazu.
-Kaspar Wolfensberger, Glanzmann
(M)Eine Neuentdeckung! Der Protagonist Zangger, der Psychologe und geforderte Familienvater fast erwachsener Kinder, ist eine sehr gelungene Figur, auf die ich in jedem Buch warte, sie aber selten finde. Hier hat ein Autor geschliffen, an Personen und Situationen, hier kippen weder Geschichte noch Charaktere ins Konstruierte. Denn das ist oft die Gefahr, wenn eine heutige Geschichte in Schweizer Familien und erkennbaren Schweizer Städten spielt. Dieser Zangger lässt sich auf Grund beruflicher Verpflichtungen in einen Fall verwickeln, in dem auch die Zürcher Polizei ermittelt und gerät zwischen alle Stühle und Bänke. Ich werde noch den anderen Zangger-Titel von Wolfensberger lesen und die Bücher dann ausführlicher besprechen.
-Guido Bachmann, lebenslänglich
Ich habe selten jemanden gelesen, der so gelassen wie pointiert und selbstironisch vom Leder ziehen kann. Über die Eltern, die Lehrer, die Schweiz, sowohl im zweiten Weltkrieg als auch in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs. Aus dieser Autobiografie werden mir sehr viele Szenen im Gedächtnis bleiben. Zum Beispiel, als der Bub Bachmann endlich herausfindet, wo er ein Aufklärungsbuch hernehmen könnte, mit Herzklopfen in den Lesesaal der Stadtbibliothek vordringt, nichts als Kapseln mit gehefteten Katalogkarten aus dem Gestell zieht, diese aufschlägt, liest und wieder liest und weint.
-Qiu Xiaolong, Tod einer roten Heldin
-Qiu Xiaolong, Die Frau mit dem roten Herzen
Ich bereue, diese Bücher – trotz Empfehlung von zuverlässiger Seite – nicht schon lange gelesen zu haben. Die beiden Fälle für Oberinspektor Chen waren für mich als Leserin der Türöffner zum heutigen China samt Rückblick und Ausblick. Aber nie verliert sich der Autor in Reiseführerbeschreibungen, immer schafft er Zusammenhänge, kleine Erklärungen und wunderbar fremde Dialoge. Beide Fälle handeln im Kern von der Verletzung, als „zu gebildet“ „zu schön“ „zu dekadent“ deklariert zu werden und einer permanenten Umerziehung ausgesetzt zu sein.
Von den Büchern, die ich wiederholt lesen wollte, habe ich es nur bei Kafka getan. „Der Prozess“ ist sicher keine typische Ferienlektüre, aber dafür ein Meisterwerk an Beschreibung. Hat mich dieses Mal ein wenig an Kunerts Kurzgeschichte „Zentralbahnhof“ und an den Film „Dogville“ erinnert, die Bilder habe sich alle übereinandergeschoben. Markus Werners „bis bald“ habe ich weg gelegt. Ich denke, das Buch hatte mir damals viel bedeutet, weil ein Freund zu dieser Zeit an einem Herzinfarkt gestorben ist. Heute tendiere ich eher zur Bestätigung eines Kunden, der mir sagte, ich überschätzte dieses Buch Werners.
Off

Im Juli lese ich…
…erstmals:
-Haruki Murakami, Untergrundkrieg
-Primo Levi, Anderer Leute Berufe
-Anne Holt, In kalter Absicht
-Plina Daschkowa, Nummer 5 hat keine Chance
-Inger Frimansson, Die Treulosen
-Kjell Eriksson, Die grausamen Sterne der Nacht
-Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon
-Kaspar Wolfensberger, Glanzmann
-Guido Bachmann, lebenslänglich
-Qiu Xiaolong, Tod einer roten Heldin
-Qiu Xiaolong, Die Frau mit dem roten Herzen
…zum zweiten oder x-ten Mal:
-John Steinbeck, Von Mäusen und Menschen
-Elias Canetti, Das Gewissen der Worte
-Markus Werner, Bis bald
-Franz Kafka, Der Prozess
…Leseexemplare (erscheinen demnächst):
-Joey Goebel, Vincent
-Stephen Clarke, Ein Engländer in Paris
-Tariq Ali, Der Sultan von Palermo
-Azar Nafisi, Lolita lesen in Teheran
…. alles offline.
Herzlichen Dank den treuen Mitlesenden, herzlichen Dank den vielen, die „enaktiv“ ergoogeln, herzlichen Dank denen, die sich für meine Unterrichtsmaterialen interessieren, herzlichen Dank denen, die hier regelmässig PISA-Ergebnisse holen und besonderen Dank jenen, die nach Davy Sidjanski suchen.
Ich habe fertig*
Wenn in den letzten Schultagen viele Kolleginnen und Kollegen Filme zeigen, will ich nicht auch noch. Nachdem Trivial spielen nicht wirklich der Brüller war, habe ich begonnen, in den letzten Lektionen einen Workshop durchzuführen. Themen-Wunsch aus den Klassen war möglich und dieses Jahr war es „Zensur“.
Ich habe in der Vorwoche das Thema by Cluster erschlossen und dazu eine Zusammenfassung abgegeben. Das war anspruchsvoll für die Schülerinnen und Schüler, weil ich mich in meinem Referat auf die politische Dimension konzentriert habe, besonders auf die Wechselwirkung zwischen Staatsform und Zensur. Das ist trotz des Frontalunterrichts erstaunlich gut angekommen, niemand wirkte ausgeknippst (eine Erfolgskontrolle gab es allerdings keine).
Diese Woche haben wir dann Stühle und Pulte umgestellt, und Inseln für die verschiedenen Posten geschaffen, an denen die Lernenden selber und freiwillig arbeiten konnten. Auch hier haben sie sehr gut mitgemacht, ich bin ziemlich stolz. Die weniger Interessierten, die zwischendurch ein paar SMS verschicken mussten, haben mich nicht einmal genervt.
Der Ablauf war so, dass ich nach einer kleinen Einführung den Werkstatt-Pass verteilt habe und die Leute machen liess. Die meisten Posten bestanden aus Gedrucktem, einer war ein Notebook mit Dateien mit Listen zu zensiertem Schrifttum in der Geschichte, vor allem im Deutschland des zweiten Weltkrieges und in Deutschland heute.
Die Literaturliste mit den aufliegenden Titeln konnten Interessierte selber nehmen. Ich habe die Lernende einzeln „besucht“, ihnen die letzten Tests zurückgegeben und die Semsternote gelobt oder halt genauer besprochen, was zu verbessern wäre. Danach war genug Zeit und Ruhe, um mit Interessierten einzeln über das Thema Zensur zu reden und wirklich alle Fragen zu beantworten, was ich als besonderen Gewinn und erfolgriechen Abschluss ansah.
Als die Pulte zurückgestellt und alle pünktlich eine Viertelstunde vor Ende der Doppellektion auf ihren Plätzen waren, machte ich eine Feedbackrunde (sehr positiv), einen kurzen Rückblick (das Schuljahr aus meiner Sicht) und einen schnellen Ausblick (wichtige Termine im neuen Semester).
Es gibt Schultage, die leuchten fast ein wenig in der Erinnerung. Das war bestimmt so einer.
[*Quelle: Trainer Trapattonis unvergessliche Rede.]
Unterrichtsbeurteilung 2005
Heute was das Couvert mit der Unterrichtsbeurteilung bei mir im Briefkasten. Denn ausser mir und zwei anderen darf niemand die Daten sehen (an die Informatiker, die irgendwo irgendwas sichern, denkt wiedermal keiner).
Was mich im Vorfeld immer stört, ist die ewige Erklärung meiner Vorgesetzten, es handle sich nicht um eine Beurteilung meiner Person, nein, nein, es gehe rein um die Beurteilung meines Unterrichts. Es wird nicht wahrer, indem man es wiederholt.
Kinder und Jugendliche beurteilen in erster Linie die Lehrpersonen, nicht den Erfolg des Unterrichts, hab ich auch gemacht, finde ich auch nicht schlimm. Es ist an der Lehrperson, die Brücke zu schlagen zwischen Vertrauen und guter Wissensvermittlung, sie muss offen und freundlich sein und trotztdem konsequent Anforderungen an das Hirn stellen.
Folgende 13 Fragen haben 26 meiner Schülerinnen und Schüler im 1. Lehrjahr beantwortet. Ich unterrichte sie in einer Lektion pro Woche in Betriebs- und Verkaufskunde.
[Antwortmöglichkeit: immer | oft | selten | nie | kann ich nicht beurteilen]
1. Die Lehrperson ist gut auf den Unterricht vorbereitet.
2. Der Unterricht ist abwechslungsreich.
3. Die Lehrperson zeigt uns, wie wir lernen und die Aufgaben lösen sollen.
4. Die Lehrperson bezieht alle Lernenden in den Unterricht ein.
5. Im Unterricht gibt es Gelegenheit für Übungen und Fragen.
6. Die Proben der Lehrperson entsprechen dem angekündigten Inhalt.
7. Die Lehrperson sorgt für ein gutes Lernklima während des Unterrichts.
8. Die Lehrperson geht auf Anregungen der Lernenden ein.
9. Die Lehrperson macht einen motivierten Eindruck.
10. Die Lehrperson ist fair.
11. Die Lehrperson zeigt den Nutzen des Stoffs auf.
12. Die Anweisungen und Erklärungen der Lehrperson sind verständlich.
13. Wenn die Lehrperson zusätzliche Unterlagen austeilt, sind diese nützlich.
Kurz zusammengefasst sind die Rückmeldungen postitiv,“immer“ überwiegt bei weitem. Der einzige Knackpunkt, der mich bei sämtlichen ersten Lehrjahren meiner Schulkarriere begleitet, ist die „Verständlichkeit“ meiner Answeisungen und Erklärungen. Da sagen nur 10 „immer“ und 16 „oft“. Zu meiner Erleichterung sagt niemand „selten“, das hatte ich auch schon – vielleicht habe ich mich ja doch verbessert. Die ergänzenden Bemerkungen der Lerndenden sind dieses Jahr hilfreich und ich bin zuversichtlich, dass wir nützliche neue Abmachungen werden treffen können.
Eine Premiere habe ich bei dieser Befragung erlebt: Auf zwei Lernende wirke ich selten motiviert. Das steht im krassen Gegensatz zu den übrigen Antworten und den Antworten der Vorjahre.
Die schon fast philosophische Frage lautet: Woran erkennt man die Motivation einer Lehrerin? Und erkennen alle Menschen das gleiche Verhalten als „motiviert“? Es wird interessant, mit den beiden – die nebeneinander sitzen – dieser Frage nachzugehen.
Art Ordnung

Die Notizen sind immer überall endlich.
Die Notizen sind immer überall.
Die Notizen sind immer.
Die Notizen sind.
Die Notizen.
Die!
Open Space
Open Space ist eine Methode. Viele Beteiligte mit unterschiedlicher Erfahrung können mit dieser Methode eine komplexe Herausforderung angehen und dies mit realistischer Aussicht auf Erfolg.
Wir haben eine solche Situation im Buchhandel mit der Berufslehre. Wir sind konfrontiert mit einer neuen Berufsbildungsverordnung, die es möglichst gwinnbringend (win-win, versteht sich), aber auch kostenneutral (wie könnte es anders sein) umzusetzen gilt.
Das ist eine riesige Aufgabe. Vor allem, weil wir hier nicht für heute und morgen, sondern für die nächsten zwanzig Jahre vorspuren. Das verlangt unserer Branche einige Prognosen und mehr Konsens ab, als wir es gewöhnt sind.
Ich bin Mitglied der Projektgruppe, die für das Kick-Off zuständig ist. Wir haben uns relativ schnell auf „Open Space“ einigen können, weil wir genau in einer solchen Lage sind. Und unser Erfolg hängt von der Zustimmung der Branche ab, denn am Schluss zählt einzig: werden die Buchhandlungen diese Lehrstellen anbieten oder werden sie es sein lassen?
Wer an der Zukunft des Schweizer Buchhandels interessiert ist, reserviere sich folgende Termine:
Montag, 19. September 2005 (ganzer Tag)
Dienstag, 20. September 2005 (halber Tag)
Als Lehrerin weiss ich, dass ich nie davon ausgehen darf, dass etwas gelesen wird (Kollegen sind mitgemeint), und deshalb wiederhole ich:
Am 19. und 20. September dieses Jahres findet unsere Open Space Konferenz statt und die ganze Branche ist geladen. Es wird nicht gratis sein, aber kostengünstig. Wir haben uns um Sponsoren getan und auch schon welche gefunden (danke, Schule!).
Es geht hier um die Ausbildung im Buchhandel und die wiederum geht vom Lerndenden bis zur Geschäftsleitung alle an.
Die Konferenz wird bei Bern stattfinden. Ich wünsche mir, dass viele Angereiste hier ihr Lager aufschlagen und das Ganze zu einem buchhändlerischen Klatsch-und-Tratsch-und-weisst-du-noch-Abend in der Hauptstadt wird.
Die offiziellen Informationen folgen in den nächsten beiden Ausgaben des Schweizer Buchhandels.
Vor Urteil
Letzte Woche begann die Verhandlung für die jugendlichen Täter im schlimmsten Raubüberfall, den diese Stadt wohl je erlebt hat und von dem ich an anderer Stelle schon kurz berichtet habe.
In Bern gibt es eine ausgesprochene Leserbrief-Kultur. Schulklassen, Eltern, Angestellte, Seniorinnen, Zugewanderte, Ausgewanderte, die irgendwo mitlesen: zu solchen Ereignissen äussern sich verschiedenste Menschen. In der Folge der täglichen Berichterstattung erschienen also vergangene Woche besonders viele Statements. Auch die Schulklasse des Opfers hat einen ausgezeichneten Brief verfasst.
Und ich stelle fest, dass die so geäusserte Meinung, ob von Jugendlichen oder älteren Menschen, ob von Männern oder Frauen, recht eindeutig ist. Einerseits macht mir das Sorgen, weil die vehementen Äusserungen ja auch ein wenig an Lynchjustiz erinnern und ich eigentlich dankbar bin, dass wir Fachleute haben, die es sich nicht leicht machen. Andererseits bin ich überzeugt, dass das Gesetz allen Menschen dienen soll.
Sich nicht von Volkes Stimme leiten lassen, appelliert die Verteidigung an das Kreisgericht, „nicht einfach aufgeben und wegsperren,“ ist die Einstellung von Kriminologin und Psychologen. „Zuchthaus“ ist die Forderung der Bürgerinnen und Bürger.
Sehr repräsentativ finde ich die Leserbriefe aus dem gestrigen „Bund“. Die Leserbriefschreiber schreiben nicht irgend etwas, die haben nachgedacht und eigene Erfahrungen eingebracht. Und weil das hier auch mein Archiv ist, habe ich diese sicherheitshalber noch gescannt.
Am 4. Juli wird das Urteil eröffnet.
Bahn frei
Wir bitten unsere Kundinnen und Kunden um Entschuldigung.
Und bedanken uns für Ihre Geduld.
Ihre SBB.
Das ist der Text (auch französisch und italienisch) in ganzseitigen Inseraten der Schweizer Zeitungen von heute. Und die Analyse war wenige Minuten nach der Pressekonferenz gestern schon online.
Daraus können Thalia und Aldi einiges lernen. Typisch Schweizerische Unternehmen zu konkurrenzieren wird schwierig, sie zu übernehmen auch.
Die Identifikation der Leute mit Unternehmenskulturen und Namen ist sehr gross, denn die Kommunikation gegenüber Presse und Kundschaft wird von Schweizer Firmen hoch gewichtet. Mit Erfolg.

Aufklärung nach Fest
Im neusten SPIEGEL stellt sich der Hitler-Biograf, Autor des neuen (gut laufenden) Titels „Die unbeantwortbaren Fragen: Gespräche mit Albert Speer“ und legendärer Feind von MRR, dem Interview. Ich zitiere S. 142 aus SPIEGEL 25/2005:
Fest: Ich glaube nur, dass wir es uns im sicheren Abstand der Jahre oft zu leicht machen mit der moralischen Verdammung des „Dritten Reiches“. Totalitäre Versuchungen treten an die Völker von Zeit zu Zeit heran. Es gibt zwei Wege des „Halbwegs-sicher-Machens“: Moral oder Erkenntnis. Ich setze auf Erkenntnis.
SPIEGEL. Das klingt so, als wollten Sie Hitlers Diktatur moralisch nicht verurteilen?
Fest: Das „Dritte Reich“ hat mir moralisch nichts zu sagen. Dass man Menschen nicht grundlos einsperren und schon gar nicht totschlagen darf, sind Selbstverständlichkeiten. Geht es Ihnen anders? Das „Dritte Reich“ hat mir politisch etwas zu sagen. Und es hat mir zu sagen, dass das hochherzige Menschenbild der Aufklärung falsch war.
SPIEGEL: Sie meinen, die Verbrechen des Nationalsozialismus widerlegten die Annahme, der Mensch sei vernunftbestimmt und im Kern gut?
Fest: Die Aufklärung hat geglaubt, die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse oder die Erziehung führten uns auf Abwege. Das ist irreal. Der Mensch steht dem Bösen näher als dem Guten. Wenn man ihm alles erlaubt und ihn sogar für das Böse auszeichnet, dann tut er das Böse mit Lust.
Mich irritiert diese Definition der Aufklärung. Ich habe zum Beispiel Kant nie so verstanden, ganz im Gegenteil. Ethik wäre möglich, Wertbürgertum wäre möglich, wenn der Mensch sich auf seine Vernunft in seinem eigenen Kopf anstatt auf Anführer und deren Indoktrination berufen würde. Nur menschliches Selbstverständnis kann Menschlichkeit selbstvertsändlich machen. Also lese ich zumindest einen Aufklärer umgekehrt und dass das Sein allein das Bewusstsein bestimme, ist meines Wissens Postaufklärung. Aber ich muss noch viel lernen.