Frustursachen bei Lehrern

In den letzten beiden Tagen hat die neue Arbeitszeiterhebung der Lehrpersonen ein wenig Öffentlichkeit gefunden. Natürlich wurde sie auch kritisiert, weil sie auf Selbstdeklaration beruht. Aber das ist meiner Erfahrung nach völlig unerheblich. Egal, ob die Studien intern oder extern, per Selbstdeklaration oder per Fremdbeobachtung, Top-down oder Bottom-up gemacht werden, es kommt immer das Gleiche dabei raus: Lehrerinnen und Lehrer sind im Schnitt nicht faul, sondern fleissig, sie haben kaum mehr Ferien als andere und leisten ziemlich viele unbezahlte Überstunden.
Ein Grossteil meiner Arbeit besteht darin, mit Lehrpersonen zu sprechen, ich bin daher immer froh um Fakten und Durchschnittswerte. Dass die Lehrpersonen den Grund für ihre Belastung und ihren Frust in der Adminstration und in den Reformen sehen, höre ich viel. Ich selber freue mich oft auf Neuerungen, aber ich leide ebenfalls unter ihrem Tempo, weil keine seriöse Planung möglich ist. Nachfolgend einige Beispiele für Veränderungen in den letzten 10 Jahren:

  • Einführung Schulleitungen, lokale Schulentwicklungsprozesse, Mitarbeitergespräche, Zielvereinbarungen etc.
  • Einführung von Qualitätsmanagement, 360°-Feedback, externer Schulevaluation u.ä.
  • Beteiligung von Schulen an Leistungsvergleichen, Befragungen, an spezifischen Evaluationen
  • Maturitätsreform und Einführung der Berufsmaturität, neue Übertrittsregelungen
  • Einführung einer zweiten Fremdsprache in der Primarschule, Folgen für die abnehmenden Stufen
  • Einführung von Blockzeiten, Ausbau der schul-/familienergänzenden Betreuungsangebote
  • Andere Schülerpopulation, v.a. im städtischen Kontext
  • Integration von leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern in die Regelklassen
  • In der Folge: Aufhebung von Kleinklassen
  • Delegation von Aufgaben wie Gesundheitsförderung/Suchtprävention an die Schulen
  • Verlegung der Lehrerausbildung an die Universität
  • Einführung von Schulsozialarbeit
  • Fachdidaktische Änderungen sind hier nicht dabei, also die Berufsbildungsreform, die mich beispielsweise auf vier Jahre verteilt bestimmt ein halbes Jahr Arbeit gekostet hat, sind zusätzliche Herausforderungen ohne Abgeltung. Genauso wie die neue deutsche Rechtschreibung oder die Umstellung auf Standarddipolome im Informatikunterricht.
    Ausser beim letzten der aufgeführten Punkte empfinden Lehrerinnen und Lehrer gemäss Umfrage diese Veränderungen einzig und allein als Belastung. Weshalb ist das so? Ich sehe dafür vier Gründe.
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    Rührung bei Lehrern

    Dies ist unsere letzte Schulwoche vor Weihnachten. Die angehenden Buchhändlerinnen und Buchhändler haben zwei Wochen früher schulfrei als alle anderen, weil sie in den Buchhandlungen gebraucht werden. Ich mache zu dieser Zeit nicht ganz „courant normal“, manchen Klassen spiele ich ein Lied vor, anderen verteile einen passenen Zeitungsartikel und etwas Schokolade. Die anderen Lehrerinnen und Lehrer tun Ähnliches.
    Mein Kollege in Deutsch liest zum Abschluss ein Weihnachtsgedicht. Vor der letzten Zeile von Brechts „Die gute Nacht“ macht er eine kleine Pause, weil er so gerührt ist. Auch ich muss kurz schlucken, als mir eine Schülerin mir selbst Gebackenes bringt. In solchen Momenten schätze ich mich wirklich glücklich, Lehrerin zu sein.
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    Präambel

    Entgegen landläufiger Meinungen (Bauchentscheid, Fehlinformation, Vermischung, vage, diffuse Ängste) bin ich überzeugt, dass die Mehrheit das Abstimmungsresultat der Anti-Minarett-Initiative bewusst herbeigeführt hat, weil sie sich vom Ausschluss der Muslime, deren Unsichtbarkeit und eine putzigere, schönere, schweizerischere Schweiz verspricht und dass diese Mehrheit auch noch weitergehenderen Massnahmen gegen die Freiheit und Rechte muslimischer Bürgerinnen und Bürger zustimmen würde.
    Andererseits habe ich während dem Abstimmungskampf auch die Erfahrung gemacht, dass viele die Bundesverfassung nicht kennen und demnach schlecht ermessen können, was es für uns alle bedeutet, hier einen diskriminierenden Artikel aufzunehmen. Deswegen und wegen des heutigen Welt-Aids-Tages eröffne ich den Dezember in diesem Blog mit der Präambel zu unserer Verfassung, über deren Wortlaut wir vor zehn Jahren letztmals abgestimmt haben. Auf dass sie bekannter werde.
    ***
    Im Namen Gottes des Allmächtigen!
    Das Schweizervolk und die Kantone,
    in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
    im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
    im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
    im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,
    gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,
    geben sich folgende Verfassung
    ***

    Erinnerungen an lateinamerikanische Literatur

    Ich habe meine Lehre in einer Zeit (1988-1991) gemacht, in der lateinamerikanische Autorinnen und Autoren vom Lesepublikum verlangt und deswegen von Verlagen (neu) entdeckt wurden. Der grosse Borges war damals zwar schon tot, aber ein Star und bekannt in der Schweiz, er hatte ja in Genf gelebt. Fuentes‘ Werke aus den Siebzigerjahren wurden gerade neu ins Deutsche übertragen und Cortázar gefiel nicht nur literarisch, sondern auch äusserlich, ich verkaufte in der Buchhandlung eine Postkarte mit seinem Portrait. Auch Puigs „Kuss der Spinnenfrau“ war dank der Verfilmung zum Longseller avanciert, ein Buch, das ich bis heute immer mal wieder empfehle (und dankbar bin, dass Suhrkamp eine umfassende – wenn auch bestimmt nicht rentable – Backlist führt). Neruda wurde Ende Achziger häufig zitiert, in den Medien ebenso wie auf Demos, was heute eher schwer vorstellbar ist. Galeanos historisches Werk „Die offenen Adern Lateinamerikas“ war weniger Buch als eine heilige Schrift der Intellektuellen. García Márquez war mir schon vor der Lehre ein Begriff gewesen, denn meine Mutter hatte alles von ihm und erwartete die Übersetzung seiner Neuerscheinungen jeweils mit Ungeduld. Auch Mauro de Vasconcelos kannte ich bereits, ich hatte ihn schon als Kind gelesen. Allende war im deutschsprachigen Raum mit dem „Geisterhaus“ bekannt geworden und sollte durch den Film mit Meryl Streep ja in den Neunzigern noch viel berühmter werden. Ihr Buch „Eva Luna“ war das allererste Leseexemplar, das ich von einem Vertreter bekommen habe.
    Trotzdem kann ich bis heute der Handlung in lateinamerikanischen Romanen häufig schlecht folgen, es ist, als ob ich in einem riesigen, bunten Wollkorb voller Knäuel keinen greifbaren Faden fände. Das schmälert nicht meine Freude an der meisterhaften Erzählkunst der Lateinamerikaner und ich freue mich sehr auf den Ehrengast an der Buchmesse 2010. Ich höre die Lateinamerikaner alle sehr gerne reden, auch wenn ich mich meist mit Übersetzungen arragnieren muss. Lesungen und Podien mit lateinamerikanischen Autoren sind tiefgründig, hintergründig, politisch und pfiffig, ebenso ihre Interviews:
    Kann der Roman als Form die Komplexität der heutigen Welt denn noch bewältigen?
    Ja, denn er ist ein offenes und flexibles Genre, für alle Arten von Situationen oder Erfahrungen geeignet. Ich glaube nicht an den Niedergang des Romans. Das Problem scheint heute vielmehr, was mit dem Buch geschieht. Ist es dazu verdammt, durch Bildschirme ersetzt zu werden? Das würde unser Verständnis von Kultur nachhaltig beeinflussen.
    Das ganze Gespräch mit Mario Vargas Llosa in der gestrigen NZZ.

    Witz des Tages

    Witz des Tages
    Meiner Lektüre entsprechend könnte ich sagen, ja, Herr Schirrmacher hat recht, unsere Aufmerksamkeit ist irgendwo zwischen Kurznachrichten und Onlinelesen verloren gegangen und wäre selbst ein guter Beweis, weil nämlich heute morgen das Fleur de Sel, welches ich nach dem Abendessen weggeräumt habe, in meinem Spiegelschrank stand. Andererseits war ich im Privaten schon immer sehr Professor Bienlein-ig.

    Momentaufnahme meiner Lektüre

    Ich habe gerade vieles zu tun, was Einfluss auf andere hat. Das finde ich nicht anstengender als anderes, aber es ist mir wichtiger, alles sorgfältig zu machen. Es geht um Unterrichtsbesuche, Mitarbeitergespräche, Gespräche für die Personaleinsätze im neuen Schuljahr, Qualitätssicherung bei der Umsetzung der neuen Bildungsverordnung und anderes in diese Richtung.
    In solchen Phasen muss ich mich sehr konzentrieren und lese deswegen neben den notwendigen Unterlagen privat möglichst viele Bücher. Bücherlesen ist für mich eine zugleich beruhigende wie anregende Tätigkeit. Es hilft mir, an einer Sache dranzubleiben, gerade wenn für Zielkonflikte noch keine Lösung in Sicht scheint.
    Ich lese im Moment:

  • Im Bett: Peter Henning, Die Ängstlichen. Danke, readingease, ohne dich hätte ich ein gutes Buch verpasst.
  • Auf dem Bus oder Tram: Tiziano Terzani, Das Ende ist mein Anfang
  • Beim Morgenkaffee: Frank Schirrmacher, Payback
  • Ich bin bei allen drei Titeln über die erste Hälfte raus und empfehle sie gern. Sie sind lesewürdig.

    Advent ausgekellert

    Adventskalender in process Andventskalender finished
    Weil ich nicht weiss, ob ich nächstes Wochenende in Stimmung sein werde, weil ja Abstimmung sein wird, habe ich schon dieses die Adventssachen aus dem Keller geholt. Der Andventskalender für eine Nichte und einen Neffen ist fertig, der für das Kind noch in Entstehung. Die letztjährig gezogenen Adeventskranzkerzen riechen betörend und sollten aufgrund guter Lagerung besonders lange brennen. Mit dem Auflegen der Weihnachtsliederbücher bin in dieses Jahr ebenfalls früher dran. Frühzeitiges Singen wird uns gut tun, im Moment kann man ja in diesem Land gar nicht so viel Informationen aufnehmen, wie man kotzen möchte (z.B. die Weltwoche: Köppels flammendes Editorial für die Anti-Minarett-Initiative, ein gefaktes Arschkriecherinterview mit Blocher, danach „die Deutschen“ rundumschlagend wegen der Enke-Trauerfeier in die Pfanne hauen und wenig später noch den Datenschützer als Verteidiger einer von den Nazis platzierten Zensurmassnahme hinstellen, weil er etwas gengen Google Street View hat; mehr an den Haaren herbeireissen geht nimmer). Darum: diese Woche tröstlich-weihnächtliche Lieder, ab nächster dann inneres Exil.