Krisen-Abstracts

Damit ich’s wieder finde: Schöne Zusammenfassung des politisch ohnmächtigen UBS-Deals aus der gestrigen WOZ: „Abnicken im Schwitzkasten“ von Carlos Hanimann.

Ein kurzer Rückblick: Anfang Oktober, als sowohl JournalistInnen wie auch die meisten ParlamentarierInnen nur über Armeechef Roland Nef, VBS-Vorsteher Samuel Schmid und den desolaten Zustand der Armee reden wollten, forderten SP und Grüne dringend eine Sondersession zur Finanzmarktkrise. Die US-Regierung hatte die ­Kontrolle über die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac übernommen, die Investmentbank Lehman Brothers hatte die Bilanz deponieren müssen, der weltgrösste Versicherer AIG stand vor dem Konkurs – es war absehbar, dass auch die Schweiz bald in den Strudel der Krise geraten würde. Der freisinnige Finanzminister Hans-Rudolf Merz lag derweil wegen eines Kreislaufkollapses im Berner Inselspital – just in der Stunde der Krise. Der Linken gelang es zwar, eine Sondersession einzuberufen, die bürgerlichen Parteien allerdings zeigten sich wenig begeistert. Die wirtschaftliche Situation sei gut, hiess es. Und die UBS kündete zu jenem Zeitpunkt noch Gewinne für das dritte Quartal an. Zwei Wochen später mussten Bund und Nationalbank das Rettungspaket für die UBS mit dem beschönigenden ­Titel «Massnahmen zur Stärkung des Finanz­systems Schweiz» verabschieden – in der Höhe von über sechzig Milliarden Franken, ein Finanzpaket in noch nie gesehener Grösse.
Es folgte eine Welle der Empörung, die jedoch selten über moralinsaure Kritik an den übertriebenen Managergehältern hinausging. Die Krise schien zu gross, das Thema zu komplex, um grundsätzliche Fragen zu stellen. Die Sondersession wurde trotz oder vielleicht gerade wegen der Brisanz der Finanzmarktkrise verschoben und schliesslich auf den Montag zwei Tage vor der Bundesratswahl angesetzt. Die politische Diskussion um den Finanzplatz war damit für Wochen blockiert, sie lief höchstens – sehr personalisiert – über die Medien.

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In der Grossbuchhandlung [2]

Ich mag Kunden und von den Hunderten, die ich schon bedient habe, sind mir nur sehr wenige im Gedächtnis geblieben, weil ich Schlechtes mit ihnen erlebt habe. Dafür viele, mit denen mich über lange Zeit eine gute Beziehung verband und viele, aus deren Wünschen und Ansprüchen ich nachhaltig gelernt habe.
Aber es ist schon interessant zu sehen, wie wenig sich am Kundenkontakt verändert, obwohl sich die Buchhandels-Landschaft so schnell wandelt.
Schon am ersten Tag hatte ich jemanden, der mir im Brustton der Überzeugung einen falschen Titel und falschen Autoren angegeben hat. Zuerst stand ich blöd da, weil ich selber nichts wusste und weil der Kunde absolut glaubwürdig klang. Ich konnte ihm erst am nächsten Tag weiter helfen, nachdem ich alle Leute im Kollegenkreis angesimst hatte, die sich im Thema auskennen.
Am selben Tag war auch ein Autor da, der bei der Kollegin unter falschem Namen sein eigenes Buch bestellt hat. Ich habe ihn erkannt, die Kollegin zum Glück nicht. Denn man kann die Contenance eindeutig besser wahren, wenn man nicht weiss, dass man nur getestet und das Buch nicht verkaufen wird.
Ich predige in der Schule immer, dass es möglich sei, jeden Kunden zufrieden ziehen zu lassen, auch wenn man das Gesuchte nicht bieten konnte. Bis jetzt ist mir das diese Woche gelungen. Allerdings nur knapp. Bei einem, der richtig wütend darüber war, dass er weder in der Buchhandlung noch in einem anderen Geschäft in der ganzen Shoppingmall eine CD kaufen konnte, habe ich beinahe aufgegeben. Entmutigt habe ich am Ende noch gefragt, was er denn so dringend gesucht hätte (obwohl mir die Frage angesichts meines Nicht-Angebots stupid vorkam). Und er meinte bissig: „Gleichstrom, Wechselstrom“. Ich verstand ihn und konnte ihn aufrichtig bedauern, weil ich selber schon länger gern in die Neue von good old AC/DC reingehört hätte. Wir verabschiedeten uns in Minne.

In der Grossbuchhandlung [1]

  • Buch der Unruhe
  • Die Mittagsfrau
  • Memed mein Falke I
  • Geburtstagskalender
  • Kühlschrankpoesie
  • Misterioso
  • Die Firma
  • Ich mache diesen Dezember ein Praktikum in der Grossbuchhandlung. Obiges habe ich heute erfolgreich empfohlen. Nicht so viel, dafür ein schöner Mix.
    (Im sog. Vollsortiment ist der persönliche Buchtipp weniger gefragt, die Bücher werden möglichst frontal präsentiert und die Kunden bedienen sich häufig lieber selber.)
    Ein neues Warentwirtschaftssystem kennen gelernt.
    Und viele neue Menschen.

    Advent: Was ich daran mag

  • Sonne am Winterhimmel
  • Geschenke machen
  • Geburtstag haben
  • Samichlousestiefel
  • Briefe schreiben
  • Familientreffen
  • Adventskalender
  • Adventskränze (ohni Chrisescht)
  • Stoffservietten
  • Wohnblöcke bei Nacht
  • Bücher kaufen
  • Fotos ohne Blitz
  • Beim Backen zusehen
  • Bundesratswahl
  • Chorkonzerte
  • Berner Restaurants
  • Die Aare von oben
  • Das Münster von Weitem
  • Kerzen ziehen in Bethlehem
  • Glühwein trinken auf Kopfsteinplätzen
  • Als ich zwanzig war

    Als ich zwanzig war, war es so kalt, dass der Zürichsee gefroren war.
    Als ich zwanzig war, schrieb ich meinen Matura-Aufsatz über Kräfte, die jenseits von Politik und Wissenschaft unser Leben bestimmen. Ich schrieb vor allem über die Phantasie.
    Als ich zwanzig war, durfte ich zum erstenmal abstimmen. In meinem Primarschulhaus betrat man eine Wahlkabine, konnte dort seinen Stimmzettel mit „Ja“ oder „Nein“ beschriften und ihn nachher in die Urne werfen. Ich weiss nicht mehr, wozu ich damals Ja oder Nein gesagt habe. Stimmen durften, als ich zwanzig war, nur die Männer.
    Als ich zwanzig war, gab es an der Universität so viele Studenten, dass man für die Vorlesungen des berühmten Germanistikprofessors Platzkarten lösen musste. Etwa 700 andere studierten auch Germanistik. Mindestens die Hälfte davon waren Frauen. Darunter, dachte ich, müsste auch eine für mich sein. Ich hatte Recht.

    aus:
    Franz Hohler
    Das Ende eines ganz normalen Tages

    Der Lyrik auf den Versen

    „Der Lyrik auf den Versen“ ist ein Rubrik in unserer Schulzeitung, in der ein geschätzer Kollege Gedichte interpretiert. Auch der schöne Titel stammt aus seiner Feder.
    Als Steinerschülerin kann ich glaubwürdig versichern, mit Goethe-Interpretationen umfassend bedient worden zu sein. Auch dachte ich bisher, klassische Lyrik ganz passabel deuten zu können. Das denke ich jetzt nicht mehr.
    Das Heidenröslein.
    Das Veilchen.
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    Bombay 1979

    Leben auf der Strasse in Bombay 1979
    In meiner Erinnerung ist diese Stadt nur in Bildern bitterster Armut gespeichert. Wir haben kaum Fotos von Bombay, das obige ist eines von drei mit Menschen, die damals dort auf der Strasse lebten.
    Von Luxushotels ahnte ich nichts, aber die Bahnhofhalle lernte ich sehr gut kennen.
    Wir waren nicht mit dem Dyane, sondern mit dem indischen öffentlichen Verkehr unterwegs. Meine Eltern sagten mir, das sei wegen der gefährlichen Strassen, aber in den Briefen, die meine Mutter nach Hause schickte, begründet sie es auch mit den steigenden Benzinpreisen.
    Wir erreichten Bombay nach einer 24-stündigen Fahrt auf einer rostigen Fähre (ab Goa), die wie jedes andere Fahrzeug in Indien überladen war. Ich erinnere mich an einen schönen Ausblick auf die Küste und die Gewissheit, dass ich sie auch schwimmend erreichen würde, sollte der Kahn sinken.
    Bombay war der armseligste Fleck Welt, den ich bis dahin gesehen hatte. Die Leute jeden Alters hungerten, bettelten, hatten Lepra, wurden mit Fusstritten weggescheucht und harrten dem Nirvana.
    Wir wollten auf den Zug nach Agra. Während mein Vater zu Billetten und Abfahrtszeiten zu kommen versuchte, warteten meine Mutter und ich in der Bahnhofshalle. Diese sah genau gleich aus wie auf den blutigen Bildern von heute, nur die Schilder waren noch gemalt und nicht beleuchtet. Die Menschen sassen dicht gedrängt auf dem Boden, es fehlten Toiletten und Luft. Aber wer nicht dort wartete, bekam keinen Platz im Zug. Denn entscheidend war nicht nur das Ticket, sondern auch die Fähigkeit, sich an vorderster Front einen Platz – und damit meine ich nicht einen Sitzplatz – zu erkämpfen. Es war für junge Männer aus der Stadt eine der raren Verdienstmöglichkeiten, Passagieren den Weg frei zu boxen oder sie von aussen durch das Zugfenster zu schieben, weshalb sich weit mehr Leute in der Halle aufhielten, als abreisen wollten.
    Meine Mutter breitete ein frisches rot-weisses Handtuch für mich aus und ich war noch zu jung, um mich zu fragen, wo sie die sauberen Tüechli immer hernahm. Nach Stunden steiss mein Vater zu uns und sagte, der Zug nach Agra sei weg oder voll – jedenfalls unerreichbar. Der nächste fahre Tage später.
    Ich weiss nicht mehr, wo wir dann übernachtet haben und wie lange ich schlussendlich in dieser gehassten Stadt bleiben musste. Aber Bombay hat mich gut auf die folgende unbeschreibliche Zugfahrt nach Agra und eine Heimreise durch Kriege und Krisen vorbereitet.
    (Ich habe mir als Kind verboten, schlecht über Indien zu denken, denn ich fürchtete, zur Strafe für meine Überheblichkeit dort wiedergeboren zu werden. Ganz überwunden ist diese Angst noch nicht.)

    Unterrichtsbesuche

    Es gibt vier Sorten Unterrichtsbesuche, die ich mache:

  • 1. Kollegiale Hospitation: Das ist, wenn Lehrpersonen einander besuchen. Also gegenseitig.
  • 2. Unterrichtsbesuch vor dem Mitarbeitergespräch „MAG“: Das machen die, die dann das MAG führen.
  • 3. Unterrichtsbesuche bei Lehrpersonen meiner Abteilung.
  • 4. Unterrichtsbesuche auf Einladung von anderen Schulen.
  • Das Erste mache ich kaum mehr. Ich kann das nur mit Lehrpersonen, die nicht in meiner Abteilung arbeiten, sonst kritisieren die ja viel zu zurückhaltend. Es steht auf meiner „Do-To“-Liste, aber ich habe ein Koordinations- und Zeitproblem.
    Das Zweite mache ich verteilt auf die Zeit zwischen Neujahr und Frühling. Ich bin in der glücklichen Lage, nur so viele Mitarbeitergespräche führen zu müssen, wie ich noch seriös vor- und nachbereiten wie auch dokumentieren kann.
    Das Dritte gehört zu meinem Alltag. Es ist für mich selbstverständlich, dass ich die Lehrerinnen und Lehrer meiner Abteilung alle (paar) Jahre besuche, sonst fehlt mir völlig die Grundlage. (Für die, die es noch nicht wissen: Lehrer sind ziemlich unterschiedlich.) Ich öffne mein Schulzimmer auch selber gern, aber bis jetzt kommen fast nur Leute aus Lehrbetrieben in meinen Unterricht, selten Kollegen.
    Das Vierte mache ich besonders gern. Allerdings sind Schulstunden, denen man auf Einladung anderer Schulen hin zuschaut, immer besonders gut vorbereitet und lassen einen vor Neid erblassen. (Ich jedenfalls habe meistens das Gefühl, dass die anderen Schulen besser unterrichten, besser eingerichtet wind und besser kommunizieren.)
    Aber was ich eigentlich notieren wollte:
    Heute war ich bei einem „meiner“ Handelslehrer im Unterricht und es war genial: Die richtige Dosis an Ernst, die richtige Prise Witz, alles wunderbar an der Tafel und am Projektor entwickelt (ich wünschte, ich könnte so schön schreiben!), gute Aktivierung, hohe Konzetration in der Klasse, gute Beispiele und immer verknüpft mit dem, was bereits durchgenommen worden ist.
    Und das in dem Fach, das die Azubis des Buchhandels seit Generationen mehrheitlich als „doof“ bezeichnen: Buchhaltung.