1. Weihnachtsgeschäft (2005)

Wieder habe ich die Klassen des 1. Lehrjahres nach ihren Tops und Flops im Weihnachtsgeschäft gefragt. Ich habe die Erhebung gemacht wie im Vorjahr, und auch die Ergebnisse ähneln sich. Aber es gibt doch immer wieder Überraschungen auf beiden Seiten, im Schönen wie im Mühsamen. Lehrreich ist alles.
Wir werden uns nun, bis zum Ende des Lehrjahres, die ersten fünf Minuten jeder Lektion mit je einer positiven und einer negativen Aussagen befassen. Ich mache das im Lehrgespräch und schreibe jeweils ein Protokoll am Whiteboard.
In der Regel ist die Beteiligung sehr hoch und auch Lernende, die sonst nicht viel sagen, sind engagiert. Es werden – da bin ich mir sicher – viele Ideen zusammenkommen, wie im Verkauf gute Erlebnisse zu mehren und schlechte zu meiden sind.
Ergebnisse 1. Lehrjahr A 2005
Ergebnisse 1. Lehrjahr B 2005

Die Schule lebt

Ich gebe zu, zuerst war ich genervt. Vollbepackt angejapst mit vorbereitetem Material, das den Lehrjahren zugeordnet, in Mäppchen gesteckt, in Schränke verstaut werden musste.
Jetzt, wo endlich das Schulhaus wieder offen war und nächsten Montag der Unterricht beginnen soll. Ausgerechnet jetzt konnte ich in meinem Schulzimmer nicht zum Whiteboard, kaum zum Flipchart, zu keinem Schrank und die zusammengeschobenen Pulte waren auch überstellt.
Aber dann – dann hat es mich gerührt zu sehen, dass das Ausprobieren, Experimentieren, Reparieren, das Basteln am Erfolg und Misserfolg weiter gehen, wenn die Leute von den Hausdiensten allein im Schulhaus sind.
Um doch noch etwas auf einem Regal zu deponieren, habe ich vorsichtig eine Kurve angehoben, einen Ölspender verschoben, einen Schraubenzieher verrückt – und mich leise wieder verdrückt.
Heimlich Carrera im Schulzimmer

Nachricht aus dem Schulzimmer

Ich sitze mit meiner Klasse in einem wirklich luxuriösen Informatikzimmer, angenehme Arbeitsplätze, Flachbildschirme, Mastereye, alles perfekt.
Ich musste das Zimmer reservieren und die Lektionen auch von der zeitlichen Einteilung her genau vorbereiten. Und es war wichtig, den Arbeitsplan für den Buchtipp schon in der Vorwoche auszuteilen und erste Fragen zu beantworten.
Als kleine Erläuterung für Nicht-Buchhandelnde hier kurz die vier Teile, die eine Bewertung im Buchhändlerinnen-Hirn immer beinhaltet:
Informationsteil I: Bibliografische Angaben [Hier siebt die Buchhändlerin schon rigoros]
Informationsteil II: Inhalt [Gibt es grundsätzlich Kundschaft für diesen Inhalt?]
Bewertungsteil I: Wie begründe ich den Einkauf? [Flops generieren teure Rücksendungen und Rechtfertigungsdruck]
Berwertungsteil II: Mit welchen Verkaufsargumenten geht das Buch über den Ladentisch? [Kann ich die Argumente schnell ver- und entleihen?]
Meine Klasse braucht dafür erstaunlich wenig Beratung im Moment, arbeitet ruhig und selbständig, ich habe also Zeit zum Bloggen. (Ich finde in meinem Vertrag kein entsprechendes Verbot, gehe aber davon aus, dass ein solches nach diesem Eintrag aufgenommen wird.)
Hey, die ersten Besprechungen sind schon online.
Sehr dynamisch, dieser Nachmittag.

Von Buchmenschen lernen

Viele meiner Schülerinnen und Schüler haben geächzt und der Aufgabenlast, die ich ihnen an die Buchmesse mitgegeben habe. Letztes Jahr hatten die Klassen – es ist immer das 2. Lehrjahr, das eine Exkursion zur Buchmesse macht – eher zu wenig Aufträge. Das ist eben auch nicht gut, weil sie ziellos schneller ermüden. Ich werde die Aufträge nächstes Jahr noch flexibler halten, damit die Lernenden besser selber dosieren können. Einige haben auch Aufträge vom Lehrgeschäft zu erfüllen, und das will ich nach Kräften unterstützen. Denn dabei lernt man einfach am schnellsten und am meisten, die beste Berufsschule der Welt kann das nicht ersetzen.
Aber sie haben trotzdem engagiert referiert. Sie waren beeindruckt von den Koreanerinnen, die alle fliessen Deutsch sprachen und begeistert von der Buchhändlerschule in Frankfurt-Seckbach. Dort gab’s nämlich ein Fest und Freibier und coole Lehrer.
Ich habe mich gefreut über diesen ganz besonderen Messespiegel von Menschen, die knapp zwei und nicht bald zwanzig Jahre, wie ich, mit Büchern arbeiten. Die Folien, die sie zu den Referaten gemacht haben, habe ich für sie selber und ihre Lehrmeisterinnen im Forum für den Buchhandel deponiert. Das förtert die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten.
Speziell erwähnen möchte ich die Besuche beim bilgerverlag, beim Verlag Klaus Wagenbach und beim Limmat Verlag, der heuer sein 30. Jubiläum feiert. Alles Verlage, die viele Lehrlinge nicht mehr von selber kennen lernen. Darum ist es mir so wichtig, dass ich die Begegnungen an der Messe organisieren kann. Gerade weil die Messetage immer hektischer werden, bin ich diesem kleinen Club von Idealisten besonders dankbar, dass sie „meine“ Schülerinnen und Schüler empfangen und ihnen ehrlich und lebendig Auskunft geben.
Der Limmat an der Limmat

dr Härry Potter isch da!

Chronistinnen-Pflicht: Der 6. Band geht seit Mitternacht über den Ladentisch. Und die Buchhändlerinnen und Buchhändler der grossen Läden werden nun, eine halbe Stunde nach Ladenschluss, zufrieden seufzend die Beine hochlegen.
Warum ist Harry Potter für mich ein bemerkenswertes Ereignis?

  • Harry Potter-Bücher sind im Schnitt der verfügbaren Jugendliteratur gute Bücher
  • Es ist absolut genial zuzusehen, wie sich Knirpse auf 600 Seiten stürzen
  • Harry Potter setzt uralte buchhändlerische Traditionen ausser Kraft: Die Bände sind nicht remittierbar (für Laien: man kann sie nicht zurückschicken, wenn man sie nicht verkaufen konnte) und es ist bei Strafe nicht erlaubt, einen neuen Band vor Erscheinungszeitpunkt zu lesen.
  • Harry Potter ist für mich als Fachlehrerin der beste Informant in Sachen Konkurrenzmärkte. Ich brauche bloss nach HP Bd. 6 gugeln, yahuen, msn-nen und „Wuuusch!“ sehe ich praktisch jeden Anbieter, der den Buchhandel als Nebenmarkt entdeckt hat.
  • Einen Eindruck aus Bern vermittelt heute „Der Bund“. Und Jasmin K., eine meiner Schülerinnen aus dem ersten Lehrjahr kommt zu Wort, weil sie Band 6 schon kennt. In Englisch. Da sieht man mal wieder, was für gescheite Azubis ich habe.

    Kiffen neben der Schule

    Kiffen und eine Lehre machen sind zwei Tätigkeiten, deren Auswirkung Züge einer klassischen Tragödie haben, da sie einander je widerstreben. Dafür gibt es etliche Gründe. In den Handwerksberufen ist Kiffen ein Unfallrisiko. Lehrfirmen, die ihren Lernenden vertrauen und Auto- oder Ladenschlüssel übertragen wollen, brauchen allseitig klare Köpfe. Im Detailhandel sind bekiffte Anprechpersonen unzumutbar und auch im Büro sind die bekifft ungenutzen Ausbildungsstunden ein Affront gegen alle, die auf eine Lehrstelle warten.
    Ich bin frustriert darüber, wie viele Lehrerinnen und Lehrer auf bekiffte Lernende überhaupt nicht reagieren. Dank dem Eintrag in Herr Raus Lehrerzimmer habe ich mir wieder einmal Gedanken zum leidigen Thema gemacht. Auch zur Legalisierung, die in der Schweiz von vielen gefordert und in der Politik aktiv diskutiert wird (ich selber gehöre noch zu den Unentschlossenen).
    Grundsätzlich wird das Kiffen in unserem Kanton toleriert. In vielen Berner Schulhäusern ist das auch ums Schulhaus herum so („man kann nicht viel machen…“). Manchmal fühle ich mich schon nach einem Besuch des Pausenplatzes irgendwie stoned, so geschwängert ist die Luft. Unsere Schule gehört allerdings nicht zu den Toleranten, der Konsum illegaler Drogen wird geahndet und es gibt ein Alkoholverbot für das ganze Schulgelände.
    Vor einiger Zeit hatte es eine kleine Gruppe auf dem Pausenhof, die Selbstgedrehte rauchte, ich habe nicht weiter auf sie geachtet. Bis mir ihr „ich mach was Verbotenes“-Ausdruck auffiel. Da bin ich einmal näher getreten und habe freundlich gefragt, ob sie wissen, dass sie von der Schule fliegen? Nein, nein, das sei nur etwas spezieller Tabak meinten sie. Ich lächelte mein strahlendstes Lächeln (hab ich im Verkauf gelernt) und antwortete, jawohl, wunderbar, ich würde die Kippe gerne ins Labor mitnehmen. Diese Gruppe habe ich nie mehr zusammen rauchen sehen. Das tun sie jetzt nicht minder, aber ausserhalb und das war mein Ziel. Kiffen geht nicht zusammen mit Schule, siehe oben.
    Meine wichtigste Frage lautet: Wie könnten Schulen reagieren, wenn Kiffen legal würde? Haben sie eine realistische Chance, es trotzdem und aufgrund der eigenen Hausordnung zu verbieten und das auch noch zu kontrollieren? Man könnte es machen wie die SBB, die nicht zuletzt deswegen die Raucherwaggons gänzlich abgeschafft hat. Allerdings müsste man bei einem Rauchverbot mit breiter Opposition aus dem Lehrerzimmer und den Chefetagen rechnen.
    Und was wäre, wenn wir durch den Geburten- und Lehrstellenrückgang in eine stärkere Konkurrenzsituation mit anderen Schulen kommen? Wer hat bei Legalisierung die besseren Karten? Die Schulen, die Kiffen wie bis jetzt das Rauchen behandeln (nicht unter 16 Jahren) oder die, die es verbieten?

    Ich habe fertig*

    Wenn in den letzten Schultagen viele Kolleginnen und Kollegen Filme zeigen, will ich nicht auch noch. Nachdem Trivial spielen nicht wirklich der Brüller war, habe ich begonnen, in den letzten Lektionen einen Workshop durchzuführen. Themen-Wunsch aus den Klassen war möglich und dieses Jahr war es „Zensur“.
    Ich habe in der Vorwoche das Thema by Cluster erschlossen und dazu eine Zusammenfassung abgegeben. Das war anspruchsvoll für die Schülerinnen und Schüler, weil ich mich in meinem Referat auf die politische Dimension konzentriert habe, besonders auf die Wechselwirkung zwischen Staatsform und Zensur. Das ist trotz des Frontalunterrichts erstaunlich gut angekommen, niemand wirkte ausgeknippst (eine Erfolgskontrolle gab es allerdings keine).
    Diese Woche haben wir dann Stühle und Pulte umgestellt, und Inseln für die verschiedenen Posten geschaffen, an denen die Lernenden selber und freiwillig arbeiten konnten. Auch hier haben sie sehr gut mitgemacht, ich bin ziemlich stolz. Die weniger Interessierten, die zwischendurch ein paar SMS verschicken mussten, haben mich nicht einmal genervt.
    Der Ablauf war so, dass ich nach einer kleinen Einführung den Werkstatt-Pass verteilt habe und die Leute machen liess. Die meisten Posten bestanden aus Gedrucktem, einer war ein Notebook mit Dateien mit Listen zu zensiertem Schrifttum in der Geschichte, vor allem im Deutschland des zweiten Weltkrieges und in Deutschland heute.
    Die Literaturliste mit den aufliegenden Titeln konnten Interessierte selber nehmen. Ich habe die Lernende einzeln „besucht“, ihnen die letzten Tests zurückgegeben und die Semsternote gelobt oder halt genauer besprochen, was zu verbessern wäre. Danach war genug Zeit und Ruhe, um mit Interessierten einzeln über das Thema Zensur zu reden und wirklich alle Fragen zu beantworten, was ich als besonderen Gewinn und erfolgriechen Abschluss ansah.
    Als die Pulte zurückgestellt und alle pünktlich eine Viertelstunde vor Ende der Doppellektion auf ihren Plätzen waren, machte ich eine Feedbackrunde (sehr positiv), einen kurzen Rückblick (das Schuljahr aus meiner Sicht) und einen schnellen Ausblick (wichtige Termine im neuen Semester).
    Es gibt Schultage, die leuchten fast ein wenig in der Erinnerung. Das war bestimmt so einer.
    [*Quelle: Trainer Trapattonis unvergessliche Rede.]

    Spuren

    Mir rauben schlimme Ereignisse in Schulen den Schlaf. Sobald ich die Nachricht gelesen habe, kriege ich sie nicht mehr aus dem Kopf. Während Steinhäusers Tat hatte ich noch den News-Ticker laufen, es war grauenvoll und hat mich gelehrt, Online-News in Echtzeit zu meiden. Doch auch San Giuliano Di Puglia ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Meine italienischen Bekannten haben lange die Hände verworfen, denn sie kannten jemanden, der jemanden dort kannte in dieser kleinen dummen Stadt und – Mafiosi! – Kindermord durch Billigbauten, grauenhaft. Da wusste ich noch nichts von Beslan und verlor noch nicht die Nerven wegen Kollegen, die nicht einmal wissen (wollen), wo der Feuerlöscher steht und kopfschüttelnd zuschauen, wie ich neuen Berufsschülerinnen erkläre, welches Trennglas auf welchem Gang feuerfest ist.
    Aber was täte ich? Würde ich richtig handeln, kühlen Kopf bewahren? Selbstlos retten?
    Wäre ich einer der 31 chinesischen Lehrer gewesen, wären mir bei 352 Kinder im Schulhaus mindestens 11 zur Rettung zugefallen. Chancenlos.

    Futura 2005

    Futura & Fortune!
    Hierhin habe ich heute E-Mails mit Anfragen geschickt. Das ist die Prüfungsbuchhandlung Futura, eine schönere Mini-Buchhandlung gibt’s in keinem Schulzimmer. Das Beantworten von Fragen per Mail gehört auch in diesen Teil der Lehrabschlussprüfung „Praktische Arbeiten im Betrieb“, die ich mit meinen Kolleginnen kommende Woche abnehmen werde.
    Wie läuft das ab?
    Die Kandidatinnen und Kandidaten richten vorgängig zusammen mit mir ein. Wir unterhalten uns laufend über die Geschäftsphilosophie, bei Futura zum Beispiel ist man „kultant, bis die Augen tränen“, wie das Jörg Winter zu nennen pflegt. Daneben kann jeder, der geprüft wird, drei Titel angeben, zu denen er befragt werden möchte.
    Eine Prüfungsexpertin kommt einkaufen. Zuerst in einer Testsituation mit Freiwilligen und dann in der Prüfungssituation bei jedem. Sie tätigt ihren Einkauf genau nach Protokoll und zu einem grossen Teil auf die Arbeitsgebiete der Kandidatinnen und Kandiaten ausgerichtet. Zu den Spezialaufgaben gehören das Beanworten von Telefonanrufen, von E-Mails und die Reaktion auf Reklamationen. Nur mit guter Planung und durch sorgfältige Absprache zwischen der Expertin, die einkauft, und der Expertin die protokolliert, ist Chancengleichheit gewährleistet.
    Wir werden oft gefragt, warum wir das nicht in den Lehrfirmen prüfen? Weil es logistisch und finanziell nicht machbar ist. Wir haben Lernende aus der ganzen Deutschschweiz. Unsere Branche verfügt nicht über genügend finanzielle Mittel und die Buchhändlerinnen und Buchhändler nicht über genügend Zeit, um die praktischen Prüfungen in nützlicher Frist am Lehrort zu Lehrort zu bewerkstelligen und das auch noch gut eingespielt und fair.
    Wo auch immer, für nächste Woche heisst es Daumen drücken. Und noch weit darüber hinaus, ich wünsche allen von Herzen, dass sie eine gute Arbeitsstelle finden. Ich habe mich bemüht, die Lernenden gut zu coachen. Doch das Gefühl, dass ich noch mehr hätte tun können, gehört wohl einfach dazu.