Aus dem Reisenotizbuch [1]

4. April 2007 10:35 MEZ
Kleine Verspätung, noch sind wir am Boden. Ich höre den Stewardessen zu. Sie reisen nicht, sie arbeiten. Wie in einer Buchhandlung oder sonst einem Dienstleistungsbetrieb. Ihr Arbeitsplatz ist ihr Flugzeug, eine fliegende Firma halt. Sie äffen gerade die abwesende Kollegin nach, welche malheuresuement peux pas travailler le soir et les week-end… ja aber wann denn dann? Unterwegs aussteigen?
Neben mir sitzt einer, der gemäss seinem Einreiseantrag Kirchhoff heisst, ich nenne ihn Bodo. Er kaufte seinen Kundera bei Weiland in Hannover, die machen ja immer den roten Kleber mit dem alten Weiland drauf.
4. April 2007 12:30 MEZ
Flug über Nordirland.
Kind: Movie „Casino Royal“
Mann: iPod; Let it Be
Ich: Hakan Nesser, Sein letzter Fall
Bodo: Wirtschaftsbeilage der Times
4. April 2007 13:35 MEZ
Käseteller über den Faröern. Roquefort, Chèvre, Camembert.
4. April 2007 17:05 MEZ
Überquerung Hudson Bay.
Kind: Games
Mann: Movie „Monsters, Inc.“
Ich: iPod; Led Zeppelin
Bodo: schläft
4. April 2007 21:35 MEZ
Langsam absinken gegen Nevada. King Lear Peak, Great Basin, Reno. Turbulenzen. Angurten.
4. April 2007 22:00 MEZ
Sinkflug über Sacramento. Auf Rat des Captains stelle ich die Zeit um.
Wir landen mitten in einem sonnigen Nachmittag in San Francisco.

Aus dem Reisenotizbuch

Bei der Serie „Aus dem Reisenotizbuch“ handelt es sich um einzelne Seiten aus meinem Moleskine, die ich zwischen dem 4. April und dem 20. April 2007 geschrieben habe.
Es sind Momentaufnahmen und Auszüge. Grosse Erkenntnisse, die wenige Seiten später schon wieder revidiert werden, kleine Beobachtungen, die ich vielleicht falsch interpretiert habe.
Das ist ja das schöne an Reisenotizbüchern. Dass sie keinen Moment von einem verlangen, bei seiner Meinung zu bleiben.

Déjà-Fait

Das Glück der Verzettelten ist, wenn sie sich am Ende eines ereignisreichen und ermüdenden Sonntags hinsetzen, um zwei Lektionen für Montag zu planen und feststellen, dass sie diese schon vor 24 Stunden fixfertig vorbereitet haben.
Und das Zusatzglück dabei ist, dass ein gnädiger Kurzschluss im Hirn sie wieder den gleichen unpassenden Dateinamen wählen liess.

Tant mieux

Ich habe alle Tests, die vor Ostern von meinen Lernenden verpasst wurden neu erstellt, durchgeführt und korrigiert. Es hatten viele gefehlt. Die Sachbearbeiterin im Schulsekretariat hat mir gestern erzählt, neun von zehn Lernenden, die sich morgens krank melden würden, hätten Tests oder Referate halten müssen. Würden wir also das Berufschulrad dreissig Jahre zurückdrehen – was mein Chef immer gerne mal wieder propagiert – keine Empfehlungsnoten mehr geben, weder Referate noch Gruppenarbeiten durchführen und einfach Frontalunterricht abhalten – wenn also nichts mehr zählen würde ausser der Lehrabschlussprüfung, könnten wir die Krankheitsfälle vermutlich drastisch reduzieren. „Old School“-Unterricht im Sinne der Volksgesundheit.
Daneben habe ich vergangene Woche ein paar Berge von Wäsche und E-Mails versetzt, mehrmals eingekauft da Etliches vergessen, geputzt, die staubigen Betten gelüftet und von fünf Sitzungen zwei geleitet und drei protokolliert. Das Update der Quartierwebsite habe ich ewig hinausgeschoben, ja, gar eine Aversion dagegen entwickelt, weil ich die Aufträge per Mail, per DVD im Briefkasten, auf Fresszetteln und per Telefon erhalten und den Überblick völlig verloren hatte. Der Mann hat mir zwar heute Abend sehr nett beim Aufdröseln geholfen, doch als ich endlich startbereit war, fiel mir ein, dass der Hoster das ganze Wochenende für Erneuerungen braucht und nicht einmal mehr seine eigene Website funktioniert. Tant pis.
„Tant mieux“ weiterlesen

Am Vorabend des 26. Aprils

Habe ich vor einem Jahr geahnt, dass der Klimaschutz ganz oben auf die Themenagenda rückt und das Atomenergie-PR so richtig echt auf Vordermann gebracht wird? Nicht nur hier, auch in den USA und China. Eher nicht.
***
Jedesmal, wenn das Kind Geburtstag hat, denke ich an eine ferne Bekannte. Sie fragte mich kurz nach der Geburt schnippisch, ob „das Bündel“ wie üblich schön und erst noch gescheit sei? Sie brauchte vom Mann IT-Dienstleistungen. 1995 war OS irgenwas der Hit, man konnte gerade neu mehrere Fenster gleichzeitig aufmachen und das Kind verzögerte die eine oder andere Solution ein wenig. Ich proste ihr seither jährlich in Gedanken zu und sage: Sicher! Arme Kinder, arme Erwachsene, deren Eltern sie nicht schön und gescheit finden. Wer soll es denn sonst tun?
***
War mir vor zwei Jahren klar, dass ich und Kolleginnen und Kollegen hunderte Manhours brauchen würden, um „Die neue Buchhändlerin“ vorzuschlagen? Hätte ich gedacht, dass etwas wie ein neuer Bildungsplan mich auspressen würde wie Alessi die Zitrone? Unterbewusst vielleicht.
Wenn also jemand mit Stossgebeten zur Absegnung des Bildungsplans beitragen möchte: bitte gern! (Und wenn jemand, der stimmberechtigt und am Leben ist, nicht an der Vernehmlassung vom 30. April teilnimmt, so bleibt er für alle Zeiten von diesem Blog ausgeschlossen. Danke.)

Curtains Up

Meine kalifornische Brille ist schön. Und sie funktioniert. Ich gucke mein Daheim durch ihre positiv gefärbten Gläser an. Das reduziert den Rückkehrkoller und erhöht die Tatkraft.
Sieh nach oben! Wie liebevoll diese Leute ihren Balkon beflanzen!
Schau nur, wie lange das chinesische Mädchen auf seinem kleinen Bein hüpfen kann!
Hey, ich sehe die Windows-Hügel! Nur die Kühe haben die wegretouchiert.
Wo ist das Ende des Erdbeerfeldes? Strawberry Fields Forever.
Guck die Kirschblüten. Es ist Frühling.

Entry Japan Town, SF, April 2007

Die Wunderbrille. Bloss nicht verlieren.

Curtain’s Close

Remember postcards? 1975.
Zum 20. Jubiläum unserer Erwerbsarbeit machen wir extra keine, sondern ausserordentliche Ferien. Für den Mann wird es eine Rückkehr in die Kindheit, für das Kind Entdeckung von Neuland, für mich –
ähm.

  • Als Flugneurotikerin (wie kann etwas fliegen ohne mit den Flügeln zu schlagen? Soll ich sieben Winter nicht mehr heizen, um meine Energiebilanz ins Lot zu kriegen?)
  • als Reise-Skeptikerin (im Zweifelsfalle sei der Gedanke der Anschauung vorzuziehen, Schiller und Karl May müssen es wissen. Sowieso bin ich für ein Leben genug gereist, wirklich.)
  • und als Hotel-Laie (wann muss man bezahlen, wann frühstücken, wie viel Trinkgeld? Und wenn ich nicht verstehe, was die gefragt haben? Sie werden mich hassen.)
  • sehe ich riesige Herausforderungen auf mich zukommen.
    Da aber meine zwei Reisebegleiter keines dieser Probleme haben, müssen wir meine bloss fair verteilen. Aufgehen tut’s ja.
    Easy!
    Also: Wenn mein Flugzeug heil landet, ich nicht an der Reisekrankheit verende und mich kein Zimmermädchen in den Tumbler sperrt, bin ich am 21. April zurück.
    Bye, bye.

    Hurra! Ich partizipiere!

    Die Entwicklungshilfe ist zur Entwicklungszusammenarbeit geworden und die Entwicklungszusammenarbeit zur Kohäsion.
    Kaum erstaunlich, dass das Globale nun auch auf das Lokale abfärbt. Quartierarbeit muss heute permanent beweisen, dass Quartierbewohnerinnen und Quartierbewohner partizipieren. Und je höher der Ausländeranteil an der Partizipation, desto besser die städtische Statistik der Integration. Optimal ist, wenn handwerklich versierte Freiwillige aus dem Quartier die Saalvermietungen an möglichst ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger managen. Dazu gibt es bei uns ein Formular mit einer extra Spalte für das Eintragen der Anzahl „Ausländer“ pro Saal-Aktivität. Nur kommen die Freiwilligen vermehrt ins Schwitzen, weil man ja den Inländer kaum mehr vom Ausländer unterscheiden und weissgott nicht von jedem in Gold gekleideten Knirps den Pass verlangen kann. Wir sehen dann einfach zu, dass in der Ausländer-Spalte immer eine fette Zahl steht.
    Ich bin wohl niergends so erfolgreich wie in der Partizipationsstatistik. Jahrelang habe ich mehrmals pro Woche neu zugezogenen Kindern das Quartier und das Leben und die Sprache näher gebracht, also als Partizipatorin Partizipationsoptionen am laufenden Band vermittelt. Heute – wo sich eine gewisse Aggression gegenüber Nicht-Integrierten einstellt – habe ich mich hinter den PC zurückgezogen. Ich partizipiere nun, indem ich via CMS abbilde wie andere partizipieren.
    Man mag mir Sarkasmus unterstellen. Aber das ist nur ein kleiner Seitenwechsel. Er lehrt mich, wie verdammt unangenehm es ist, Teil eines Entwicklungsprogramms zu sein.
    Soeben hochgeladen:
    Tagi-Kinder bepflanzen die neue Lärmschutzwand.
    Brünnen-Baustelle: Abriss meines ehem. Kindergartens.

    Eine Seite Notizbuch

    Der kleine Ball muss mit Wucht unter den Geschirrschrank gekickt worden sein, er ist ganz platt gedrückt. Ein Mikadostäbchen wurde ersetzt, es ist dünner, kleiner und anders bemalt. Die Blüten des Kirschzweiges sind ungeöffnet braun geworden und bedecken den staubigen Boden. Ein gefalteter Zettel liegt nahe des Schreibtischbeins, darin nichts als eine klitzekleine Zahlenfolge am linken unteren Rand. Der Leim ist ausgetrocknet, anstelle des Deckels wird eine wiederaufladbare Batterie gefunden. Auf dem Boden des Papierkorbs klebt ein Post-it beschrieben mit der Schrift meiner Mutter.
    ***
    Auf dem Fenstersims der Frauentoilette im Schulhaus lag ein Apfel. Auf einem Blatt daneben stand schwungvoll mit rotem Filzstift die Frage: „Wem gehört dieser Apfel?“ und darum herum räkelte sich eine lachend gezeichnete Schlange. Die Putzfrau hörte weder noch sah sie meine Abwehr und warf alles in hohem Bogen in ihren rollenden 110-Liter-Sack.

    Ordnung ist Silber, Zähne sind Gold

    Dass auch Lehrer zur Dentalhygiene müssen, hat Herr Rau schon einmal geschrieben. Das ist übrigens die nackte Wahrheit und schlichte Notwendigkeit.
    Nur ich habe abgesagt, mit einer Halblüge als Entschuldigung.
    Ich konnte

  • den Schreibtisch
  • die Staubschicht
  • die Kaffeetassenringe
  • die ungeoutlookten Termine
  • das Chaos auf meinem Desktop
  • den Erdrutsch aus meiner Tasche
  • nicht mehr ertragen. Mir zugunsten von der Dental- auf unbestimmte Zeit die Arbeitshygiene zu versagen, erschien schlicht unmöglich.
    Natürlich habe ich jetzt ein schlechtes Gewissen und selbst meterweise verwendeter Zahnseide vermag keinen Ablass in Gang zu setzen.

    Tascheninhalt im März