Was sollen wir tun?

In Zeiten von Erdbeben und Hurrikanen zeigt jeder Tag, dass Armut die Hitliste der Problemversträker anführt und Krieg ihr Zudiener oder ihr Resultat ist. Ich werde immer ungeduldiger gegenüber Menschen, denen das nicht zu denken gibt.
Darum will ich ausholen: In der direkten Demokratie, wie wir sie in der Schweiz kennen, ist man theoretisch permanent aufgefordert, sich eine Meinung zu bilden und am Gesellschaftsvertrag mitzubauen. Das ist anstrengend. Aber immer, wenn mir die Bereitschaft dazu drastisch abzunehmend scheint, gibt es wieder irgendwo einen Lichtblick.
Ich habe mich zum Beispiel sehr gefreut, dass Esther schnell entschlossen eine Plattform zur Asylpolitik aufgeschaltet hat. Und auch die typisch schweizerische Leserbrief-Kultur bleibt intakt: Leserbriefe aus dem Bund vom Samstag, 8. Oktober 2005.
Es geht nicht darum, lasch zu werden oder Missbräuche zu ignorieren. Es geht um den kategorischen Imperativ. In diesem Sinne wappne ich mich fürs Unterschriften sammeln, Plakate kleben und endlose Diskussionen führen, erst recht(s) mit Links.

zu Wort gemeldet

Heute haben sich zwei Quellen zu Wort gemeldet, auf die ich gewartet hatte. Gudrun Eussner gibt ihre Analyse zu „Paradise Now“ und kritisiert Broders Kritik, was ich nach ihrem Kommentar nicht anders erwartet hatte. Der Argumentation, dass der Protagonist, der das Attentat schlussendlich ausführt, als stärker dargestellt werde, als der, der heulend zurückkehre, kann ich theoretisch folgen. Doch in dem Film, den ich gesehen habe, heulte letzterer nicht um sich, sondern um einen verlorenen Freund. Die Wandlung, die der (nach Eussner) Schwächere durchmacht, war für mich beeindruckender. Denn es ist bekanntlich schwieriger, Erwartungen nicht zu erfüllen.
Die andere Quelle war die der Gegendemonstranten zu den Rechtsradikalen, welche bei Friedmans Lesung in Regensburg herumgegrölt und Trasparente ausgerollt haben: Thanks to Indymedia. Friedmans Neuerscheinung rückt hinauf auf meiner Leseliste, weil:
ich hasse es, wenn Lesungen gestört werden.
UPDATE: „Paradise not now, but somewhen“ by Chuzpe.
UPDATE 20.11.2005: Wichtige Berichtigung im Kommentar.

Kein Beitrag

„Woher nimmst du nur all die Ideen für dein Weblog?“ fragte mich neulich A.
Mein Problem sind überhaupt nicht die Themen, über die ich blogge, sondern alles, worüber ich nicht blogge.
Zum Beispiel heute: Das Kind brauchte neue Kleider. Das Kind ist zwar nicht markengeil, aber heikel, was den Schnitt der Kleidung angeht. Es verwendet auf die Passbarkeit viel Probierzeit. Mangels Access in Umkleidekabinen habe ich heute nicht gebloggt über:
Klara Obermüllers Besprechung (in der NZZ am Sonntag, 2.10.05) von Nafisi „Lolita lesen in Teheran“, einem Buch, das ich auch schon wärmstens empfohlen habe. Nicht darüber, dass ich ihre Einwände an den Haaren herbeigezogen finde. Nicht darüber, dass sich Obermüller in ihrer Kritik keine Gedanken darüber gemacht hat, weshalb Nafisi hauptsächlich die angelsächsischen Klassiker zur Aufklärung einsetzt. (Antwort: Nicht weil Nafisi so eingleisig ist, sondern weil diese Literatur in Persien verfügbar war und die gebildeten Leute eben Englisch lasen und nicht Französisch oder Deutsch.)
Nicht gebloggt über die Diskussion über die Diskussion(en) zu „Paradise Now“ und auch nicht über das erhellende Privatgespräch, das ich am Wochenende mit Freunden über den Film geführt habe.
Nicht über André Glucksmanns neues Buch „Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt“ und seine Interviews über Krieg und Terrorismus. Ich gäbe viel darum zu erfahren, was Susan Sontag ihm entgegnen würde. Beide mit so einem ähnlichen Hintergrund und doch so anderen Rezepten. Oder hätte sich Sontag – so viele Terroranschläge nach 9/11 – ohnehin Glucksmann angenähert?
Eben, eigentlich blogge ich heute gar nicht.

Paradise Now

Der geschätze Henryk M. Broder hat heute der palästinensischen Film „Paradise Now“ besprochen oder genauer die Hintergründe und Reaktionen im Land selber. Weil ich gerade von der Premiere zurückkomme, ist das einer der seltenen Fälle, in denen ich mich zu einem Film äussere.
„Paradise Now“ erzählt die Geschichte der letzten 24 Stunden vor einem Selbstmordattentat, aus denen 48 Stunden werden. Die beiden jungen Männer aus Nablus hatten sich einmal auf eine Liste setzen lassen und sind nun an der Reihe. Zum ersten Mal im Leben ernsthaft umworben, werden sie integriert in einen Ablauf von Kollaborateuren-Schmäh, Märtyervideo, Abschiedsmahl, Abschiedsgebet, passenden Anzügen mit Bomben drunter, letzten Anweisungen und dem Koran gegen die Wankelmütigkeit.
Doch beim Grenzübertritt geht etwas schief und das Leben noch weiter.
Der so eingeschliffene wie irrelae Ablauf der Dinge wird gestört, alle Beteiligten müssen ein zweites Mal Stellung nehmen. Die Selbstmordattentäter selber, deren verlogene Auftraggeber, eine Mutter, eine Freundin. Und hier ist der Film unglaublich stark, in diesen scharfen, gespienen und geschwiegenen Dialogen, im Ringen um eine Moral.
Im Widerspruch zu Broder, der den Film zu pädagogisch und streckenweise zu pathetisch wie auch bemüht findet, finde ich alles sehr passend. Sicher, der Film will eine Nachricht in die Welt hinaus senden, das ist ein legitimer Anspruch dieses Mediums. Mir hat er gezeigt, dass weder die Beschönigung, die ich in der Terrorismus-Diskussion so verabscheue, noch die Dämonisierung, zu der ich viel eher neige, das Argumentarium sein können.
„Paradise Now“ rät zur Einsicht mehr als zum Urteil. Und das ist in diesem trostlosen Konflikt eine grosse Leistung.

Essenz by Frank Bodin

New Orleans
Wenn so real
lose warnen
woran eseln
wann erloes


[Quelle: Kult, September 2005]
Ich bin eine zurückhaltende Gedichtinterpretiererin. Weil alles noch so nahe liegt, ist die Sezierarbeit an zeitgenössischer Lyrik schwer zu verallgemeinern und von beschränktem Nutzen. Aber zwei Hinweise seien mir erlaubt:
Das Gedicht ist eine Reduktion von Tatsachenberichten und Gefühlen auf fünf Zeilen.
Alle fünf Zeilen huldigen der Stadt, indem sie sie beim Namen nennen.

Politbloggen partiell

Wenn Waechter tot ist und Deutschland wählt, in „unserer“ Arena (meist geschaute Politsendung) demokratisch gewählte Volksvertreterinnen und Vertreter primitiv zur Schnecke gemacht werden (ich warte seit einer Woche darauf, dass irgendwer reagiert, vergeblich), dann ist das Private politisch oder so.
Netterweise hat der „San Francisco Chronicle“ für mich Bushs Rede-Highlights zum heutigen Tag des Gebets für die Katarina-Opfer zusammengefasst. Und ich habe gemerkt, dass mir das Gedenken via Privatinitiativen wesentlich lieber ist.
Es scheint mir, das IKRK hat seinen schwierigen Job der Familienzusammenführung bis jetzt sehr gut gemacht. Ich hoffe nur, dass die meisten Leute lesen können. (In Afrika machen Unicef und IKRK jeweils so Bilderwände und weil es gar nicht viele Fotos gibt, hat es möglichst einen Zeichner dabei.)
Die zahlreichen Suchlisten – die schnellsten beruhten ebenfalls auf Privatinitiative – haben bereits geholfen. Ich lese, dass sich bis heute über 900 Menschen auf diese Weise wieder gefunden haben. Leider habe ich meinen Schock über die Nation, die das Internet erfunden hat, die .com dominiert, der .gov und .mil sowieso gehört und die also innert Sekunden eine nützliche Domain hätte rauffahren können, noch nicht überwunden. Dabei haben es die Dotcoms ja dann doch noch geschafft.
Und meine Angst, dass so viele Opfer einfach ungezählt untergegangen sind, hat sich auch noch nicht zerstreut. Meine Erfahrung aus der Entwicklungszusammenarbeit und aus der Integrationsarbeit ist: Jeder ungezählte und nicht geehrte Tote zieht zahlreiche lebende Opfer nach sich.

Kleine Nenner

So this package is a good start. On some issues, we have real breakthroughs. On others, we have narrowed our differences and made progress. On others again, we remain worryingly far apart.

Meinte Annan gestern zur Eröffnung. Nun ist es also verfügbar, das Reformpapier. Von 750 Änderungsanträgen des berufenen John Bolton (O-Ton Bush: einer „unserer talentiertesten und erfolgreichsten Dipolmaten“) zerzaust, ist erstaunlicherweise noch immer etwas übrig.
Das (welt-)politische Tagesgeschäft ist für mich im Moment ein Quell von Ärgernissen und ich fürchte, dass der so schnell nicht versiegen wird. Das Problem sind nicht einmal die reduzierten Absichtserklärungen hüben und drüben, sondern die Erfahrung, dass nicht einmal die abgespecktesten Varianten umgesetzt werden.
Darum zwei Politblogger neu auf meiner Blogrolle: eDomokratie.ch und ignoranz.ch. Wer weiss, was sich in 10 Tagen noch so an Frust ansammelt.