Jedes Jahr organisieren ich und meine Kollegin einen Perspektiven-Halbtag für die Lernenden der Abschlussklassen. Ich möchte niemandens Vorurteile gegen Jammerlappen-Lehrer bestätigen, indem ich sage, dass sowas sehr viel vorzubereiten gibt. Aber es isso; siehe Programm.
Eine Berufsfachschullehrerin hat für eine Halbzeitstelle mindestens 100 Schülerinnen und Schüler, welche sie maximal 2×45 Minuten wöchentlich sieht und welche sich untereinander auch kaum begegnen. Erfahrungen von Lernenden und noch ein paar Ehemaligen kurzzuschliessen, ist daher kein Kinderspiel. Mit den Lektionen müssen wir ein wenig schummeln, weil ja legal keine Klasse einen halben Tag zu Gesicht zu bekommen ist. Doch in weniger Zeit ist das Leben nach der Lehre unmöglich zu planen.
Jedenfalls haben wir das heute wieder gemacht. Und es war wieder ein Erfolg. Nach Jahren Berufserfahrung verblüfft es mich immer noch zuzuschauen, wie sonst Desinteressierte in solchen Stunden, in denen sie ganz offensichtlich für das Leben lernen, auftauen.
Ebenfalls schön war die positive Bilanz der Gewerkschaftsvertreterin, was unsere Arbeitslosenzahlen angeht. Die Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz ist auf 4% gesunken, womit wir im europäischen Vergleich vorbildlich dastehen. Die Arbeitslosigkeit bei Buchhändlerinnen liegt noch darunter.
Es gibt am Ende der Lehre immer Grund zur Sorge. Aber eigentlich könnte auch alles gut werden.
Kategorie: Lernziele
und alles, was dazugehört, oft auch Lerninhalte
Die komischen Deutschen
Die komischen Deutschen
881 gewitzte Gedichte aus 400 Jahren
Ausgewählt von Steffen Jacobs
Gerd Haffmans bei Zweitausendeins
Zum 60. Geburtstag von Gerd Haffmans am 28. Februar 2004.
Ich mochte meine Deutschlehrerinnen, ich mochte meine Literaturkundelehrer, ich mochte die Gedichtauswahl von Echtermeyer/von Wiese, denn ich liebe das traurige Gedicht in seiner ganzen Interpretationswürdigkeit.
Doch ebenso liebe ich den Witz in der Lyrik, den Schalk im Reim, die unanständigen Hüpfer und die versteckten Widerborstigkeiten – all‘ die kleinen Aufhänger für grosse Themen.
Bevor es dieses Buch gab, musste ich Kurt Tucholsky, Joachim Ringelnatz, Wilhelm Busch und besonders Frank Wedekind, Arno Holz und Erich Mühsam als Einzelausgaben sammeln, die oft nicht lieferbar waren. Hätt’ ich Heinrich Heines Gesamtwerk nicht schon in der Lehre gekauft, hätt’ ich vor lauter Tragik im Lyrikunterricht die schärfsten Witze meines Lebens verpasst. Auch Robert Gernhardt und F.K. Waechter fanden erst spät – und fernab der Schulen – die verdiente Beachtung. Dass Klassiker wie Lessing und Fontane witzig waren, blieb mir Jahre vorenthalten, obwohl sie in keinem Lehrplan je fehlten.
Der Herausgeber dieses Werkes hat sich neben seiner fulminanten Sammlung auch um eine interessante Rechnung verdient gemacht. Was das gewitzte Gedicht den Deutschen wert sei, ermittelte er anhand aller deutschen Gedichtsammlungen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erschienen sind.
Er kam zum Schluss, dass das gewitzte Gedicht fünfmal weniger wert als jedes andere sei.
Deshalb ist das hier nicht nur für mich, sondern für alle ein wichtiges Buch. Ein Beitrag fürs Gleichgewicht und Witzgedicht, das oft gar nicht zum Lachen ist.
Selten habt Ihr mich verstanden,
Selten auch verstand ich Euch,
Nur wenn wir im Kot uns fanden,
So verstanden wir uns gleich.
Heinrich Heine
1. Weihnachtsgeschäft (2006)
Ich sehe die Schülerinnen und Schüler in ihrem 1. Lehrjahr nur 45 Minuten pro Woche. Ich darf deswegen wirklich keine Zeit verplempern, im Gegenteil, ich muss die wertvolle Zeit sinnvoll einsetzen.
Wie letztes und vorletztes Jahr habe ich auch heuer die Lernenden nach den Tops und Flops in ihrem ersten „Weihnachtsgeschäft“ gefragt.
Von jetzt an bis zum Ende des Lehrjahres werden wir uns jede Lektion die ersten fünf Minuten einen Weihnachts-Fall vornehmen. Nicht, dass Buchhändlerinnen und Buchhändlern nur weihnächtens herausgefordert wären, das sicher nicht. Der Dezember ist einfach exemplarisch, weil in kurzer Verkaufszeit praktisch alles Gute und Blöde passiert und die Lernenden es im Januar noch richtig präsent haben.
Es geht also in diesen fünf Minuten jeweils um die Entwicklung von Strategien, die das Positive mehren und das Negative mindern helfen. Daran beteiligen sich in der Regel alle gern und gut, ohne einander zu stören oder zu unterbrechen.
Das ist erfreulicher Unterricht, weil hier die Ratschläge aus der Fachliteratur und die Feed-backs aus der Schulbank so schön übereinstimmen: Alle sind interessiert, weil das alles alltäglich bedeutsam ist. Vice versa.
Ergebnisse 1. Lehrjahr A 2006
Ergebnisse 1. Lehrjahr B 2006
Schulwoche No. 1/2007
Es war eine Woche wie im Brief vom Erziehungsdirektor. Hart an der Grenze. Jemand weinte, einige waren frech, einige respektlos, einige äusserst widersprüchlich, der Chef winkte ständig nach mir, verzweifelt an seiner Maschine mit dem fremden Namen „PC“.
Jemand unglücklich und jemand glücklich schwanger. Eine Woche so schwer wie ein ganzes Quartal. Meine Bemühungen so wirkungslos wie die Bekämpfung der Desertifikation.
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Heute back‘ ich,
morgen brau‘ korrigier‘ ich und übermorgen hol ich der Königin ihr Kind immer noch. Aber ich freue mich auf die Verlagsprofile, an denen die meisten Azubis über viele Wochen gearbeitet haben. Einige machen ihre Arbeit erst im letzten Augenblick – kommt ja selbst bei Lehrerinnen vor.
Ich folge in dieser Sache dem Arbeitskraft-Erhalt-Programm von Herrn Rau, der sagt „ich korrigiere schnell“ und damit wohl auch meint, er lasse nicht zu viel Zeit vergehen zwischen Auftrag und Korrektur.
„Profile“ sind nicht „Portraits“. Es geht nicht darum, den Verlag als Ganzes darzustellen. Es geht um das Profil, welches sich bei Buchhändlerinnen und Buchhändlern etabliert hat.
Eingereicht wurden Profile von:
Ammann
Arbor
Arena
AT
Aufbau
Bajazzo
bilgerverlag
Bohem Press
Brunnen
Carlsen
Die Gestalten
Diogenes
dörlemann
Eichborn
Gerth Medien
Globi-Verlag
Haupt
Himmelstürmer
Karger
Kiepenheuer und Witsch
Lübbe
marebuch
Nord-Süd
Peter Meyer
Rotten
Schwabe
Schwarzkopf & Schwarzkopf
Südwest
Taschen
Thienemann
Unionsverlag
Unrast
So geht Reform
Die Berufsbildungsreform fordert von uns unter anderem, die Fachkompetenzen der Buchhändlerinnen zu konkretisieren. Dafür gibt es Regeln und Raster. Und wer denkt, ich oder sonst jemand Überaktives hätte sich das alles zusammengereimt um die Branche zu piesacken, irrt. Deswegen habe ich auch FAQs erstellt (ja genau solche, wie sie die Kaltmamsell korrekt und unterhaltsam als Öffentlichkeitsarbeit entlarvte). Für Details ist ein Notizblog allerdings geeigneter:
Mit den Leitzielen werden in allgemeiner Form die Themengebiete der Ausbildung beschrieben und begründet, warum diese für Buchhändlerinnen wichtig sind.
Das heisst, Leitziele sind Branchenclaims für Azubis. „Kunden beraten!“ „Qualität erkennen!“ „Bücher verkaufen!“ „Den Betrieb mitgestalten!“
Richtziele konkretisieren die Leitziele und beschreiben Einstellungen, Haltungen oder übergeordnete Verhaltenseigenschaften.
Das heisst, in den Richtzielen steht, woran die Buchhändlerin sich noch schwach erinnert, wenn sie schon längst Treuhänderin oder Vollzeithausfrau ist.
Mit den Leistungszielen wiederum werden die Richtziele in konkretes Verhalten übersetzt, das die Lernenden in bestimmten Situationen zeigen sollen.
Das ist, was man einem Schnupperlehring unter die Nase halten kann, um ihm einen Eindruck von seinem künftigen Tätigkeitsfeld zu vermitteln.
Zum Leitziel „Qualiät“ gehört dann zum Beispiel das Richtziel:“Buchhändlerinnen erkennen die Bedeutung der Verlage als Hersteller der Produkte und setzen ihr Wissen bei der Preis- und Qualitätsargumentation gezielt ein.“
Daraus leitet man Leistungsziele ab wie: „Buchhändlerinnen charakterisieren die Verlagsprofile anhand von Beispielen im Inland und Ausland und zeigen Unterschiede auf.“ Das wäre ein Unterrichtsziel von der Taxonomiestufe 2.
Dazu könnte es auch ein Ziel für die Lehrfirma geben wie: „Ich erstelle selbständig Preis- udn Qualitätsargumente für ein Produkt und präsentiere diese meinen Kolleginnen“. Das ist dann schon Taxonomiestufe 5, weil Präsentation einem ja einiges mehr abverlangt.
So machen wir das Reformieren. Seit einem halben Jahr in zahlreichen Sitzungen mit wuseligen Übersetzungen, vor allem ins Französische. Nur ein Wort allein ändert oft schon den Schwierigkeitsgrad eines Ziels. Es gibt Detail-Diskussionen und es gibt Konsens.
Und wenn wir dann einig sind und das Kind ziehen lassen, dann geht es direkt ins Kreuzfeuer der Kritik. Das gehört dazu – ist vermutlich sogar richtig so. Und nervt trotzdem.
[Zitate dank Unerstützung von Roman Dörig.]
Kinder des (himmlischen) Friedens
WAS STIMMT?
Dies ist mein Beitrag zum Universal Children’s Day, zu welchem Christa schon 2005 einen Überblick gegeben hat.
Quelle für die Asien-Fragen ist Material der Stiftung für Bildung und Entwicklung, einer Ansammlung didaktisch begnadeter Gutmenschen, deren Fundus noch bekannter werden muss.
Testkorrekturen
Ich korrigiere an die 1000 schriftliche Tests im Jahr. Und je-des-mal frage ich mich, ob ich nun
a) pro Frage korrigieren
b) pro Person korrigieren
soll.
Wenn ich pro Frage korrigiere hat das den Vorteil, dass meine Abweichungen gering sind und die Gefahr der Interpretation minim, weil ich kaum merke, wessen Test ich in der Hand habe. (Ich und wohl auch andere Lehrerinnen und Lehrer interpretieren bei starken Lernenden eher die richtige Antwort in ein Gekritzel als bei schwachen. Es ist ein ständiger Kampf gegen sich selber, das nicht zu tun.)
Wenn ich pro Person korrigiere, hat das den Vorteil, dass meine Kommentare passend und für die Lernenden hilfreich sind. Hingegen lässt meine Konsequenz und die Konzentration, die ich brauche, um die Antworten aller gleich zu bewerten, nach. Ich muss die Beige noch einmal in der Gegenrichtung durchgehen, um meine Abweichungen zu bemerken. (Ich korrigiere auf eine Kommastelle und zum Glück ist das bei den meisten Usus. Denn Kolleginnen und Kollegen die auf x Kommastellen hinter der Note korrigieren, gaukeln eine Präzision vor, die es nicht geben kann.)
Und weil ich nach 10 Jahren immer noch nicht weiss ob a) oder b), wechsle ich mit beiden Methoden einfach ab. Vielleicht ist sie das ja, die Antwort.
No News is Good News
Sie kann nicht schlafen. Sie sitzt neben ihrem Schreibtisch auf dem Boden und geht die Aufgaben noch einmal durch. Ihre Aufgaben für die anderen irgendwo da draussen – nicht minder schlaflos.
Wie immer man es nennen will – altbacken „Lehrabschlussprüfungen“, reformiert „Qualifikationsverfahren“ oder berufschulpädagogisch „Abschlussritual“ – es ist eine Hürde für Lernende, von der zuletzt andere entscheiden, ob sie genommen worden ist.
Sie weiss, die Protokolle werden seriös gemacht, die Kriterien sind geklärt und quer durch die Schweiz gegengelesen, die Berechnungsformeln lassen keine Zweifel offen und die Toleranz-Bandbreite wird von der Kreisprüfungskommission verwaltet. Das ist ihre zwölfte Prüfung und mit jedem Jahr steigt die Absicherung gegen Willkür.
Egal was sie allen gesagt hat, egal wie gut vorbereitet sie sind, egal ob Kandidatin oder Expertin, das vorherrschende Gefühl wird die Angst vor dem Fehler sein. Denn wenn wir etwas in unserem Leben gelernt haben, dann ist es, dass hauptsächlich Fehler zählen.
Was richtig ist, wird abgehakt, was erledigt ist, wird durchgestrichen. Das Falsche oder Fehlende sticht heraus, wird gerügt, rot angemalt, eingebrannt. Wer oben ausschwingt wird einmal gelobt, wer unten ausschert stetig getadelt.
Wer nichts hört, arbeitet gut.
Sie hat nie einen Rotstift benutzt, immer Fortschritte aufgezeigt und so viele „Bravos“, „Gut getroffen“ und „well done“ auf Tests geschrieben, wie sie vor sich selber rechtfertigen konnte. Doch damit auch nur ein Promille der gesamten Angst während den Prüfungen getilgt zu haben, darauf wettete sie keine Daunenfeder.
Auf dem Weg zurück ins Bett murmelt sie frangend in die Nacht: „Machen zwei Wochen Prüfungen wirklich einen Unterschied zu einer Einschätzung auf Berufstauglichkeit aus dem Handgelenk?“ „Nützt diese Ausschüttung an Angstschweiss, Franken und Korrekturen überhaupt jemandem?“ „Werden meine Fragen, werde ich selber – den einzelnen gerecht?“
Sie bekommt keine Antwort. Ein gutes Zeichen.
Reform tut nicht per se weh
Die Berufsbildungsreform baut auf gemeinsame Ziele. Ganz oben stehen die Leitziele. Die sucht und findet man wie in der Werbung die Ideen: Gedankensturm und Filter, Gedankensturm und Filter. Und am Ende ist es das vom Anfang oder etwas, was einem beim Ausflug mit dem Göttikind auf dem Karussell und mit Zuckerwatte an der Nase und keinem Bleistift weit und breit eingefallen ist.
Sicher ist, dass sich immer klärt, was die Fachkompetenz in einem Beruf ausmacht, was das Berufsprofil ist, was den einen Beruf von den anderen unterscheidet, was einem nicht fehlen darf, der diesen eidgenössischen Fachausweis in den Händen hält.
Die Floristinnen und Floristen haben sich beispielsweise für vier Leitziele entschieden: Verkauf, Floristik, Botanik, Gestalten.
Die Fachfrauen und Fachmänner in der Hauswirtschaft für sechs Leitziele: Ernährung und Verpflegung, Wohnen und Reinigungstechnik, Wäscheversorgung, Gästebetreuung und Service, Administration, Gesundheits- und Sozialwesen.
Diese Ziele führen zu den detaillierteren Richtzielen (welche die beneidenswerten Hauswirtschafts-Leute schon fertig haben) und dann weiter zu den konkreten Leistungszielen.
Dass jeder Sachverhalt auf etwas didaktisch Machbares reduziert werden muss, ist nicht neu und davon unabhängig, ob ein Azubi gerade in der Schule oder in der Firma lernt.
Weil wir in der Schweiz kein eigenes Lehrmittel produzieren, brauchen wir eines aus Deutschland. „Wirtschaftsunternehmen Sortiment“ ist zwar umfassend, aber seinem Zielpublikum nicht immer ganz angepasst.
Nehmen wir zum Beispiel „Remission“. Remission bedeutet Rücksendung eines Titels zur Gutschrift und ist etwas, womit man im Buchhandel täglich zu tun hat. Das Lehrmittel widmet dem mehrere Seiten und druckt sogar Formulare ab, die der „Rationalisierungsausschuss des Börsenvereins“ (den gibt es wirklich) entwickelt hat. Weil so etwas für die meisten Azubis schlecht verständlich und fast nicht umsetzbar ist, ergänze ich den Text. Ich mache ein Blatt, auf dem das Wichtigste wiederholt und alles den schweizer Gegebenheiten angepasst wird. Damit ich selber weiss, was ich nun von meinen Schülerinnen und Schülern erwarte, notiere ich mir die Leistungsziele als Kommentar in das gleiche Dokument.
Diese Methode ist im Vergleich zum Geforderten rudimentär. Aber die Richtung stimmt. Und weil es immer schön ist, auf dem richtigen Dampfer Zug zu sein, haben mir Kraft und Notebookbatterie sogar noch zum Bloggen gereicht.