Lukas Bärfuss, Hundert Tage

Lukas Bärfuss, Hundert Tage
Lukas Bärfuss
Hundert Tage
Wallstein 2008
9783835302716

Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, die „Hundert Tage“ gingen unter, weil der Titel das Pech hatte, gleichzeitig mit „Die Wohlgesinnten“ zu erschienen. (Natürlich freue ich mich mit dem Buchhandel über Littells grandiosen Absatz, aber ich denke dann immer an die Bücher, die durch solche Monumente ihres Rezensionsplatzes beraubt werden. Es gibt Werke, da kommt unweigerlich der Punkt, an dem Presse und Kritiker flächendeckend meinen, es sich nicht mehr leisten zu können, nichts zu meinen. Herr amore.s hat mich mit seinem frühen Hinweis auf zwei Besprechungen ein wenig beruhigt.)
Bärfuss ist in meiner Erinnerung ein eher verträumter Buchhändler meiner Generation. Doch hat er sich in den letzten Jahren zu einem hellwachen Dramatiker gemausert. Sein erster Roman (über diese Bezeichnung könnte man streiten, aber das ist sekundär) handelt von Entwicklungshilfe und Ruanda 1994, doch auch in den vorherigen Jahren, in denen sich die Katastrophe anbahnte. Mir ist diese Zeit gut in Erinnerung, ich habe damals für die Entwicklungszusammenarbeit Bücher vertrieben und hatte einige Kunden in Ruanda, Einheimische und Schweizer. Ich erkannte in Bärfuss Buch so viele und so vieles wieder, ich konnte mich völlig in die Zeit zurückversetzen und habe sicher deshalb auch einen sehr persönlichen Bezug zu diesem Buch.
„Hundert Tage“ ist weit entfernt von der Katastrophenbelletristik, wie sie häufig in den ersten Jahren nach einem Schreckensereignis entsteht. Bärfuss‘ Geschichte um den Entwicklungshelfer David Hohl ist im Gegenteil ein schöner Beleg dafür, wovon literarische Verarbeitung lebt: von losen Enden, die nur die Zeit und eigenständige Autoren zusammenbringen können. Es gelingt Bärfuss auf wenigen Seiten Fakten darzulegen, für die ein Sachbuch schnell einmal ein Mehrfaches braucht; dazwischen liest man von einem schweizerischen Gefühl, welches sachlich schwierig abzuhandeln und beinahe peinlich wäre: Diese vertraute Helfersehnsucht. Das Bedürfnis ein fernes Land zu besiedeln, indem wir es aufforsten, jeden Hügel mit eine Projekt besetzen und keine Schule unreformiert lassen. Die Freude an Pünktlichkeit und Sauberkeit, besonders im Vergleich zu den anderen afrikanischen Entwicklungsländern. Und die zielsicher verpassten Chancen, sich der Tabus bewusst zu werden:

Ob Kurze oder Lange: Sie sprachen alle dieselbe Sprache und wir hatten keine Ahnung, wie wir sie zweifelsfrei unterscheiden sollten. Es gab natürlich lange Lange, solche, die hoch gewachsen waren, eine vergleichsweise helle Haut und eine schlanke Nase hatten; und daneben gab es kurze Kurze, dunkler als die Langen, gedrungener, mit breiten Nasen und üppigen Lippen, und wenn es nur solche Typen gegeben hätte, wäre die Sache einfach gewesen. Lange, die gross gewachsen waren und eine dunkle Haut besassen, helle Kurze mit feinen Nasen, dunkle Lange mit dicken Lippen – jede möglich Kombination, und in neun von zehn Fällen war nicht auszumachen, wer ein Kurzer und wer ein Lager war. Das galt jedoch nur für uns Europäer, die Kurzen wussten auf den ersten Blick, wer ein Kurzer war und dazugehörte, und dasselbe galt für die Langen. Wir hatten keine Ahnung, woran sie sich erkannten, ob sie ein für uns unsichtbares Zeichen auf der Stirn trugen, ob sie auf eine bestimmte Weise rochen. Sicher konnte man nur sein, wenn einer die Identitätskarte vorwies. Dort war das Nichtzutreffende gestrichen, als wollten die Behörden dem Bürger deutlich machen, was er war;

David Hohl erlebt den Genozid versteckt, er ist freiwillig in Ruanda geblieben. Er hofft auf Abenteuer, eine neue Herausforderung und darauf, Agathe wieder zu finden. Er hat sie vor dem Krieg kennen gelernt und von grosser Liebe kann eigentlich gar nicht die Rede sein. An einer wunderbaren Stelle im Buch will er sie mit seinem Know-how über Hülsenfrüchte beeindrucken. Er referiert darüber, dass Bohnen höchst empfindliche Gewächse seien obwohl sie einen widerstandfähigen Eindruck machten und dass der ruandische Volksmund, man erkenne jemanden an seinen Bohnen, dem schweizerischen sehr nahe komme. Doch Agathe hat kein Interesse an Landwirtschaft, wovon ihre Heimat ernährt wird, ist ihr egal, sie fühlt sich höchstens drangsaliert.
In seinen einsamen Rückblicken ringt David Hohl immer wieder um die richtige Formulierung des Verhältnisses zwischen ihm und Agathe. Das bietet einen seltsam treffenden Rahmen für diese erschütternden Monate, die uns – mich auf jeden Fall – auch hierzulande geprägt haben. In Ruanda fiel alles zusammen, worauf wir aufgebaut hatten, im Zeitraffer, gut sichtbar und brutal. Was wir Gutes hatten tun wollen, erwies sich als falsch. Trotzdem ist dieses Buch mehr als eine erneute Entzauberung unserer humanitären Tradition. Was zum Vorschein kommt, ist nicht Schlussfolgerung, nicht Schuld, sondern vielschichtiger und zeitgenössischer – viel eher eine Art Zukunft.

Roberto Saviano, Gomorrha

Roberteo Saviano, Gomorrha
Roberto Saviano
Gomorrha
Hanser 2007
9783446209497
Originaltitel: „Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della comorra“ (2006)

Dieses Buch ist so oft und so gut besprochen worden, dass mich erst der Artikel aus der heutigen Zeitung darauf gebracht hat, es mir und anderen wieder in Erinnerung zu rufen. So begann der Artikel:

In der Nacht, wenn ihre dreihundert Büffelkühe in den Ställen schlafen, sehen Maria und Vincenzo Pennacchio am Horizont jeweils mehrere grosse Feuer lodern. In der Milch ihrer Büffel wurde Anfang März eine erhöhte Konzentration an Dioxin festgestellt, und Pennacchios sind überzeugt, dass die nächtlichen Brände verantwortlich sind für das Gift in der Milch ihrer Tiere. Was da seit rund zwei Jahren in einigen hundert Metern Entfernung regelmässig lodere, sei brennender Sondermüll, der von der Camorra heimlich verbrannt werde.

Saviano beginnt im Buch „Gomorrha“ seine Beschreibung der kampanischen Stadt Mondragone mit den Römern und dem verbleibenden grössenwahnsinnigen Geschichtsbewusstsein, die Büffelmozzarella-Hauptstadt zu sein. Er macht einen Ausflug in seine Kindheit, wo er vom Vater zum Mozzarella-Kauf geschickt worden war und berichtet wundervoll von der Unmöglichkeit zu entscheiden, woher die beste Mozzarella stamme. Die geschmacklichen Unterschiede von süsslich und zart über salzig und fest bis mild und rein sind einfach zu gross, es gebe nur eine Gemeinsamkeit: Den Nachgeschmack am Gaumen, „‚o ciato ‚e bbufala“ – der Atem der Büffelkuh. Ohne ihn keine taugliche Mozzarella.
Auch wenn es nicht danach klingt, Saviano hat ein knallhartes Sachbuch über das organisierte Verbrechen geschrieben. Nicht einfach über die Camorra, sondern auch über die erspriessliche Zusammenarbeit mit ihr in Kampanien, Italien, Europa, ja, der ganzen Welt. Saviano ist patriotisch, er erklärt ein Land, das er liebt, er will Zeugnis ablegen über die Gefahr, der die Menschen darin ausgesetzt sind. Er erzählt, was er sieht: Wie alte Bekannte, die sonst nichts mit ihrem Studium anzufangen wissen, Stakeholder des Mülls werden, wie Beamte alle Augen zudrücken, wie Chemiker Deklarationen fälschen, wie aus traumhafter Landschaft taumhafte Gewinnspannen werden, wenn man den eigenen Boden als Teppich mit Bergen und Tälern begreift, den man bloss hochzuheben braucht um alles darunter zu kehren. Wo Müllentsorgungsfirmen so erfolgreich mit den camorristischen Clans geschäften, wo die kommunale Verwaltung derart unterwandert ist, entsteht ganz selbstverständlich ein guter Ruf. Als Drehscheibe für illegalen Müll jeglicher Herkunft.

Das Dreieck Giugliano – Villaricca – Qualiano in der Provinz Neapel heisst längst nur noch Feuerland. Neununddreissig Mülldeponien, davon siebenunzwanzig mit gefährlichen Substanzen, die jährliche Zuwachsrate beträgt dreissig Prozent. (…) Die Roma sind beim Feuerlegen am tüchtigsten. Von den Clans bekommen sie fünfzig Euro für jeden niedergebrannten Müllhaufen. Es ist kinderleicht. Ein riesiger Müllberg wird mit dem Magnetband von Musik- und Videokassetten ringsherum markiert, dann wird der Müll mit Alkohol und Benzin übergossen und der Brandsalat als Zündschnur benutzt. Binnen weniger Sekunden steht alles in Flammen. Als wäre eine Napalmbombe explidiert. (…) Der tiefschwarze Rauch und das Feuer vergiften jeden Quadratzentimeter Boden mit Dioxin. Alles, was hier wächst ist krank, der Boden zunehmend unfruchtbar. Doch die Wut und das Elend der Bauern erweisen sich für die Clans wieder einmal als vorteilhaft. Sie kaufen den verzweifelten Bauern ihre Feldr zu einem Spottpreis ab und eröffnen neue Deponien.

Von 360 Seiten excellent geschriebener Dokumentation, macht der Müll ungefähr einen Sechstel aus. Schmuggel, Menschenhandel, Drogenexporte, Waffenimporte (aus der Schweiz, wie so oft), Manipulation ganzer Städte, Ausmerzung aller, die aufbegehren – aber mit wenig Spezialeffekten und ohne gesprengten Staatsanwälte. Stiller, leiser Terror der Clanwirtschaft, die gnadenlos und überall auf der Welt aus neugierigen Teenagern skrupellose Verbrecher für immer neue Organisationen zimmert.
Und wieder einmal muss ein Autor (Jg. 1979) abtauchen. Möge sein Leben noch lange andauern und leidenschaftliche Bücher hervorbringen. Es kann ja auch einmal Fiktion sein.

Sams tägliche Buchgedanken

Inventur der Bücherstapel heute

Samstags im Rahmen des Staubsaugens ordne ich meine Lektüre vor dem Bett. Ich sortiere aus, was ich fertig gelesen habe und lege die verbleibenden Bücher ihrer Grösse nach aufeinander, damit der Stapel in der kommenden Woche standhaft bleibe.
In meiner Leselotte befindet sich Fremdschläfer von Verena Stefan, eine Geschichte des Auswanderns und Einwanderns, erzählt im französisch-deutsch-englischen Sprachegemisch einer Bernerin, die ihrer Geliebten nach Kanada gefolgt ist und nun von ihrem Krebs zur Reflexion verdammt wird. In jeder Hinsicht lesenswert.
Oben auf liegt Luxemburg heute: Bis wir uns als freie Menschen sehen, eine kleine Zitatensammlung von Rosa Luxemburg, die viel über die Welt vor hundert Jahren erzählt und besonders davon, wie wenig sich unsere Herausforderungen geändert haben. Luxemburg äussert sich treffsicher über Natur, Ressourcen, Bücher und Gegner und bewundernswert hellsichtig über das Dilemma der Sozialdemokratie.
Franz Hohlers Karawane am Boden des Milchkrugs ist eine typisch schweizerische Miniaturensammlung und alltäglich erfreulich. „Der ganz schwere Transport“ zum Beispiel berichtet vom Leiden eines Lastwagenchauffeurs, der einen 800tönnigen Superthronger von der Maschinenfabrik in Silli ins sechs Kilometer entfernte Atomkraftwerk Beznau liefern soll, nach jahrelanger Irrfahrt in Russland verschwindet und so endgültig zur Sage wird. Grund für diese Odyssee war einzig die für den Doppelsattelschlepper zu schwache Brücke bei Silli über die Aare. Heute Abend freue ich mich auf die Erzählung einer Fettcrème, die abnehmen will.
Den Klappaltar vom verehrten Gernhardt habe ich schon fertig gelesen, aber ich lasse ihn doch noch etwas liegen. Vom ersten Altarflügel war ich enttäuscht, aber überprüfe mein Urteil lieber ein zweites Mal. Gernhardt spalierte mit dem Klappaltar die runden Geburtstage dreier grosser Dichter: Im ersten Flügel präsentierte er Heinrich Heine (200. Geburtstag 1997), das Scharnier bildete Berthold Brecht (100. Geburtstag 1998) und der zweite Flügel gehörte Johann Wolfgang Goethe (250. Geburtstag 1999). Gernhardts Vorgehen war intensives Lesen der Werke der Jubilare, Inspiration durch sie und einmonatiges Schreiben in ihren Zungen. Das brecht’sche Scharnier ist herausragend, bei Heine bin ich wie gesagt noch unentschlossen, doch auch Goethe scheint mir sehr gelungen.
Lukas Bärfuss’ Hundert Tage werde ich auf jeden Fall ausführlicher besprechen. Vielleicht weil es zum Besten gehört, was ich in den letzten Jahren an Schweizer Literatur gelesen habe, vielleicht weil Bärfuss’ ein Buchhändler meiner Generation ist und bestimmt, weil sein Protagonist hier einer meiner Kunden hätte sein können.
Die Schweizer Literaturgeschichte ist gemäss Herausgeber eine erweiterte Fassung meiner Lieblingsliteraturgeschichte, die 1991 im Verlag Volk und Wissen erschienen ist. Fast alles, was ich über Schweizer Literatur weiss, weiss ich daraus. Allerdings hat die Neuausgabe auch Streichungen in Kauf genommen, aber verzeihliche. Die neu hinzugekommenen Artikel:

  • Dieter Fringeli „Die Mundartliteratur im Wandel“
  • Michael Böhler „Das Verhältnis der Deutschschweizer Autoren zur Schriftsprache“
  • Manfred Gsteiger „Dei Beziehungen der deutschschweizerischen zu der anderssprachigen Literaturen in der Schweiz“
  • sind unbestritten ein Gewinn. Ich werde in diesem Werk auf jeden Fall noch einige Wochen und immer wieder blättern, auch wenn ich wohl aus Nostalgie an der Originalausgabe hängen bleibe.
    Elisabeth Bronfen, Tiefer als der Tag gedacht geht als Lektüre harziger als erhofft; ich bin nach einer Woche erst auf Seite 155. Vom Hanser-Lektorat habe ich etwas mehr Lesefreundlichkeit erwartet, als dieses wissenschaftliche Monumentalwerk über „Kulturgeschichte der Nacht“ nun bietet. Aber das Thema ist als philosophisches, literarisches wie musikalisches einmalig genug, um mir über den eco’schen Tick der Autorin, nichts unerwähnt zu lassen, hinwegzuhelfen. Für Geduldige absolut empfehlenswert.
    Poeten und Schaumschläger tanzen, rennen, radebrechen durch 24 wunderbare Aufsätze von Karlheinz Deschner über Literatur und Literaturkritik. Von den bisher gelesenen ist „Scheiden – entscheiden.“, ein Aufsatz zu den Aufgaben des Literaturkritikers, mein erkenntnisreichster. Ich lege ihn Buchhändlerinnen und Buchhändlern wie allen anderen, die über Bücher reden und schreiben, sehr ans Herz.
    In Worte gemalt von Samuel Bak lese ich schon zum zweiten Mal und es wird nicht das letzte sein. Meine buchhändlerische Deformation lässt langsames Lesen nicht zu, weshalb ich mir ein besonders vielschichtiges und intensives Buch durch Wiederlesen erschliesse. Samuel Bak wurde 1933 in Wilna geboren. Er überlebte Ghetto und Lager, weil die Erwachsenen in ihm den Künstler sahen, der er später – aus Neigung wie Verpflichtung – geworden ist. Seine Familie und viele andere Menschen setzten alles daran, diesen Jungen als Hoffnung jüdischer Kunst, als Zeugen und Bewahrer über die höllischen Jahre zu retten. Eine klassische Autobiografie ist das Buch nicht, es ist keine Lebensgeschichte. Eher eine ganz besondere Chronik. Weniger der Ereignisse, mehr der Gedanken; der leichten, der zynischen, der lustigen, der wahrhaftigen, der verdrängten, der individuellen und der kollektiven.
    [Dies ist die Fingerübung für etwas, was ich vielleicht einmal für die Schule verwenden werde, weil ich oft gefragt werde, welche Bücher ich gerade gut finde. Mal sehen.]

    1000 Seiten,

    von denen ich vielleicht schon 299 gelesen hätte, würde ich meine neu gekauften Bücher, auf die ich mich besonders freue, nicht krankhaft verschenken, um möglichst vielen zu zeigen, wie weltbewegend sie sind.
    Neuerscheinung 2008: Bronfen Neuerscheinung 2008: Sennett
    Und um sie gleich darauf wieder sehr zu vermissen, ganz besonders dann, wenn die Buchhandlungen ihr wohlverdientes Wochenende haben. Trotzdem kann es gut sein, dass ich sie am Montag neu erwerben und sie bis Samstag wieder verschenkt haben werde.

    Madge Jenison, Sunwise Turn

    Madge Jenison, Sunwise Turn
    Madge Jenison
    Sunwise Turn
    Zwei Buchhändlerinnen in New York
    edition ebersbach 2006
    9783938740248
    Originaltitel: „The Sunwise Turn; A Human Comedy of Bookselling“ (1923)

    Der folgenden Widmung schliesse ich mich von ganzem Herzen an. Sie soll auch für diese Buchbesprechung gelten und alle Leserinnen und Leser von Büchern einschliessen. Frohes Fest!

    Dieses Buch ist allen Buchhändlerinnen und Buchhändlern gewidmet, die durch ihren Mut, ihre Fantasie und ihr Engagement dafür sorgen, dass die Vielfalt des Bücherangebots erhalten bleibt.

    Es gibt Bücher, da weiss ich nach einem Abschnitt, dass ich sie lieben werde. Dieses hier gehört nicht dazu. Ich blieb einige Seiten lang skeptisch. Eine Neuauflage von1923? Zwei kulturinteressierte Damen auf der Suche nach neuen Herausforderungen? Gründen eine Buchhandlung? Ergibt das wirklich 200 Seiten Lesenswertes?
    Jawohl. Ein grossartiges Buch! Und nichts darin von gestern. Die Buchautorin und eine der beiden Gründerinnen der Buchhandlung „The Sunwise Turn“ 1916 in New York ist eine gewiefte Dame. Sie hat diesen heiter-humorvollen Ton, den braucht, wer die Welt verändern will.
    Denn wer neue Werte vermitteln wollte, kam mit Lehrerhaftigkeit schon vor hundert Jahren nicht weit. Es wunderte mich gar nicht, im Nachwort zu lesen, dass Madge Jenison der „Women Suffrage Party“ angehört hatte und eines der Gründungsmitglieder der „Women’s National Book Association“ war, die sich 1917 formierte. (Die zahl- und einflussreichen Frauen im Buchgeschäft wurden noch lange weitgehend von der Öffentlichkeit ignoriert und wenn ausnahmsweise mit Aufmerksamkeit bedacht, so kritisiert.)
    Es ist die Nähe zum heutigen Beruf, die dieses Buch so faszinierend macht. Es führt uns Buchhändlerinnen vor Augen, dass es schon immer ein eigenartiges Geschäft war, das mit den Büchern. Ich fühlte mich in der Lektüre völlig aufgehoben. Den Gründerinnen von „The Sunwise Turn“ wurde in der Branche von der Buchhandelseröffnung abgeraten. Man sagte ihnen, Bücher zu verkaufen sei nicht rentabel, Buchhandlungen lebten hauptsächlich von Schreibwaren. Die Antwort auf die Frage, warum Buchhandlungen dann nicht einfach nur Schriebwaren verkauften, blieb man ihnen allerdings schuldig.
    „Madge Jenison, Sunwise Turn“ weiterlesen

    Je leichter das Leben

    Hannah Arendt fotografiert von Lotte Köhler

    Je leichter das Leben in einer Arbeits- und Konsumentengesellschaft wird, desto schwerer ist es, den Druck und Zwang des Notwendigen, die das gesellschaftliche Leben treiben und antreiben, auch nur wahrzunehmen, weil die äusseren Kennzeichen der Notwendigkeit, die Mühe und Plage, fast verschwunden sind. Die Gefahr einer solchen Gesellschaft ist, dass sie, geblendet von dem Überfluss ihrer wachsenden Fruchtbarkeit und gefangen in dem reibungslosen Funktionieren eines endlosen Prozesses, vergisst, was Vergeblichkeit ist.

    Vorhin habe ich in meinem Tagebuch von 1992 geblättert. Ich hatte vor fünfzehn Jahren offenbar Arendt gelesen, Eichmann und gleich darauf Vita activa.
    (Die Lektüre hat mich gemäss eigener Tagebuchaussage sehr beeindruckt. Heute wüsste ich kaum mehr, dass ich die Bücher überhaupt je gelesen hatte. So ist Lesen vielleicht doch lediglich ein Bluff aus der Vergangenheit oder ein Hirntraining, das man auch in anderer Form absolvieren könnte.)
    Für die Quellenangabe „Je leichter das Leben“ weiterlesen

    André Gorz, Brief an D.

    André Gorz, Brief an D.
    André Gorz
    Brief an D.
    Geschichte einer Liebe
    Rotpunktverlag 2007
    978-3-85869-353-2
    Originaltitel: Lettre à D. Hostoire d’un amour

    Von meinem Lehrmeister wurde André Gorz zitiert wie von meiner Grossmutter die Bibel: pointiert und bedeutsam. Wenn ich Gorz dann selber zu lesen versuchte, erging es mir auch wie bei der Bibel: es war umständlich und langfädig.
    „Die Kritik der ökonomischen Vernunft“ erschien 1989 mitten in meiner Lehre in einer selbstverwalteten Buchhandlung für Soziologie, die den Satz „Kritische Bücher zur Zeit“ gleich ins Logo eingebaut hatte. Dieses Buch war in meiner Lehrbuchhandlung ein Bestseller und meine Schulkolleginnen hatten noch nie etwas davon gehört.
    Mein Rückzug von der Buchhandelsfront wurde ebenfalls von Gorz begleitet: „Wissen, Wert und Kapital“ habe ich zwar 2004 noch beworben, aber schon nicht mehr verkauft.
    Ich schreibe dies, weil meine Begeisterung für „Brief an D.“ damit zu erklären ist. Ich schätze, dass sie nur schwer geteilt werden kann von Leserinnen und Lesern, denen weder Gorz noch seine Zeitgenossen etwas sagen. Vielmehr fürchte ich, sie würden die Lektüre schnell und enttäuscht zur Seite legen. (Aber in Kundengesprächen sind es oft gerade diese Vermutungen, die die Leute neugierig machen.)
    Was mich an dieser Geschichte einer Liebe so berührt, ist die Einsicht. Das Eingeständnis eines gefeierten Philosophen, Kapitalismuskritikers und Vorbilds einer Generation, die grosse Liebe für die Öffentlichkeit kleingeredet zu haben. Die Autobiografie mit Urteilen über die Frau an seiner Seite verbittert zu haben, die er selber gar nicht glaubte. Die Sytemkritik bisweilen auf dem Rücken des Menschen ausgetragen zu haben, auf den er sich zu jeder Zeit am meisten verlassen konnte.
    Dieser Text hat nicht Reuiges. Eher etwas Fragendes. Wer war diese Frau genau, was hat sie in diesem Leben an meiner Seite eigentlich alles bewirkt? Wie bin ich auf die unsägliche Idee gekommen, ihren Wert in meinem Leben zu negieren?
    Dass Gorz diese Korrektur in der Erinnerung an sich und sein Werk noch so entschieden vornahm, zeigt eine Versöhnlichkeit, die einem auch in seinen anderen Büchern begegnet. Ein alter Linker, der sich noch einmal losschreibt, weil er die wahre Liebe nicht länger als Obszönität abgeurteilt haben will – weil er es jetzt besser weiss.
    Gorz hat diesen Text im Juni 2006 in Französisch beendet. Die Übersetzung ins Deutsche hat er bis zum Schluss begleitet, mit dem schöne Bändchen im Rotpunktverlag waren er und seine Frau sehr zufrieden. (Selber Deutsch schreiben, das tat der österreichische Jude nur in grösster Geldnot.) Vor einem Monat, am 24. September 2007, hat André Gorz sich zusammen mit seiner kranken Frau Dorine das Leben genommen.
    R.I.P.

    Wie es so geht

    Michael Krüger ist eine Grösse in der Buchbranche. Er ist nach einer Druckerlehere und einer Lehre als Verlagsbüchhändler 1968 bei Hanser gestrandet und geblieben. Heute ist er dort literarischer Leiter. Vielleicht feiert er sein Jubiläum nächstes Jahr mit einem neuen Buch. Autor ist er nämlich auch noch. Und Lyriker. Aber noch kein Zyniker – was in unserem Metier doch eher ungewöhnlich ist nach so langer Zeit darin.
    Als Krüger von der NZZ am Sonntag (7. Oktober 2007) gefragt wurde, ob er sich auf die Buchmesse freue, antwortete er:

    Ich sehe ihr mit gemischten Gefühlen entgegen. Man nimmt an einem Zirkus teil, den man in- und auswendig kennt. Ich werde wie an den letzen 41 Buchmessen viertausendmal den gleichen Satz sagen müssen: „Wie geht’s?“ Und ich werde diesen Satz auch viertausendmal hören. In verschiedenen Sprachen. Und ich werde immer ein gequältes Gesicht machen, das ausdrücken soll: Bitte nicht wieder diese Frage!

    Ein konsequenter Mann. Wie es so geht ist ein altes Gedicht von ihm. Eines von zweien, die ich richtig mag. Das andere heisst Mein Ohr und erzählt, dass einer davon gehört hat, die Geschichte der Fotografie sei zu Ende. Aber jetzt zurück zum einen:
    ***
    Es ist nichts passiert. Alles ist ruhig.
    Das Alfabet ist wieder in Gebrauch, das Einmaleins,
    der Dialog hat Konjunktur. Die alten Hüte,
    die alten Weissagungen, die alten Erscheinungen: alles
    sieht aus wie neu. Jeder hat seit gestern das deutliche Gefühl,
    dass es ihn gibt. Jeder kann sich sehen lassen. Jeder sieht jedem
    mit Interesse zu. Die stotternden Unterhaltungen
    sind verstummt, alles geht flüssig von der Hand, die intimen
    Entgleisungen gibt es nicht mehr. Das Dunkel wurde abgeschafft:
    Aphorismen beschreiben die Welt mit tödlicher Klarheit.

    ***
    Das ist die vierte und letzte Strophe. Vielleicht ist sie ihm wirklich an einer Buchmesse eingefallen. Allerdings hatte er damals noch nicht einmal zehn davon absolviert. Und doch schon genug. Aber nur im Gedicht. Ich sah ihn dieses Jahr wieder federnd vorbeilächeln und hörte ihn fragen wie es so geht.
    aus:
    Michael Krüger,
    REGINAPOLY
    Gedichte
    Hanser 1976

    Pierre Bayard, Wie man über Bücher spricht

    Pierre Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
    Pierre Bayard
    Wie man über Bücher spricht,
    die man nicht gelesen hat
    Kunstmann 2007
    978-3-88897-486-1
    Originaltitel: Comment parler des livres
    que l’on n’a pas lus?

    Immer pünktlich zur Buchmesse überkommt mich das Verlangen, der Welt zu erklären, dass das Buch ihr Nabel sei. Aber es geht vorbei. Und dieses Buch hilft dabei.
    Es wurde von den Rezensenten meist dankbar, manchmal sogar begeistert aufgenommen. Und ich habe mich auf die Lektüre gefreut, denn ich lese sehr gerne über das Lesen.
    Das vermeintlich Skandalöse an dem Buch funktioniert natürlich bei einer Buchhändlerin nicht. Mir war gar nicht bewusst, dass das Reden über Bücher, die man nicht gelesen hat, zu den letzten Tabus unserer mitteleuropäischen Zeit gehören soll. Im Gegenteil, im Buchhandel lernen wir vom ersten Tag der Berufslehre an, dass wir über ungelesenen Bücher sprechen sollen – ja, gar daraufhin trainieren müssen.
    Wenn mir die Jeans-Verkäuferin sagt, die Hose habe einen passenden Schnitt und sei von guter Qualität, dann gehe ich selten davon aus, dass sie sie ein Jahr am eigenen Leib getestet hat. Das wäre eher hinderlich, weil sie mir die Hose ein Jahr vorenthalten müsste. Ich erwarte aber, dass sie keine minderwertige Ware einkauft, fünfzig andere Jeans im Kopf hat und weiss, dass sie mich zum letzten Mal beraten hat, wenn ich darin bescheuert aussehe.
    Damit habe ich die wichtigsten Erkenntnisse meiner Lektüre beschrieben. Ungelesene Bücher gibt es in einem Menschenleben unzählige, die Chance, in einem Gespräch auf ein Gelesenes zu stossen, ist unendlich viel kleiner. Die Unkenntnis über viele einzelne Bücher hindert uns nicht an einer gewissen Kenntnis über die Summe, die uns dann wieder beim Einzelurteil hilft. Das ist das BEsondere an diesem Buch! Dass der Autor hier direkt und indirekt viel über Berufsbüchermenschen erzählt. Wir wissen ja selber nicht immer so genau, wie wir ticken. Umso lieber lesen wir darüber.
    „Pierre Bayard, Wie man über Bücher spricht“ weiterlesen