Wer werden sie alle dereinst sein?
Mein Lehrling? Mein Taxifahrer? Mein Altenpfleger? Mein Arzt? Meine Reinigungsfrau? Meine Schwiegertochter? (Die eher nicht. Ich sehe wenig Frauen. Ich weiss nicht, ob sie weniger vorkommen oder weniger im Bild sind.)
Mein Schwager ist einer aus einer solchen Phase der Zuwanderung. Und meine Grossmutter galt auch als eine von denen – in der Schweiz geboren zwar, aber als Kind verdingt, eine von vielen, eine, die zu viel war.
Es ist leider so, dass die Wahrnehmung des Gegenübers als Individuum Entwicklungen wie Wohlstand und den Willen zu reflektieren, voraussetzt. Es ist uns Menschen nicht gegeben, die Neuen, Unbekannten als willkommene Ergänzung wahrzunehmen, denen wir von Anfang an ohne Misstrauen, ja, sogar auf Augenhöhe begegnen. Die Begegnung bleibt Mühsal auf beiden Seiten, es helfen nur Zeit und Erfahrung.
Das Engagement gegen das Sterben und für Nahrung und Schutz der Flüchtenden ist unabdingbar, doch das Bewusstsein für die Langwierigkeit der Auseinandersetzung ist genauso wichtig. Ich sass schon zu viel Zeit meines Lebens in Sitzungen, Kommissionen und Gremien, in denen schlicht keine sachliche Diskussion über Integration möglich war, weil zwischen dem Flüchtlingsstrom und der Klassengrösse kein Zusammenhang hergestellt wurde. Nicht Jahre, sondern Jahrzehnte! Jahrzehnte Streit über die Verwendung der Schriftsprache in Grundschulen. Wenn wir andere Kulturen hier integrieren, müssen wir unsere reduzieren. Und zwar auf das, was uns wirklich wichtig ist, auf das, was wir niemals kampflos aufgeben: Unseren Rechtsstaat, unsere Verfassung. Aber wir können vielleicht nicht die Kalenderblattschweiz mit so vielen Dialekten wie Kindergärten bleiben, wenn Menschen hier Deutsch lernen und mitarbeiten sollen.
Ich schreibe nicht weiter, das Thema ist mir unerträglich, auch wenn es in der Regel keine Toten gibt deswegen. Es sind bloss zwei, drei Generationen mit vielen tausend Menschen ohne Sprache, in der sie sich mündlich und schriftlich ausdrücken können, in der sie sich sicher fühlen. Natürlich, wir lernen sie ein Handwerk oder auch zwei oder drei, wir sind zu Recht stolz auf unsere tiefe Arbeitslosigkeit, gerade bei Migrantinnen und Migranten. Fast alle haben ein Auskommen und das ist gut. Aber das Schweigen, das Verharren in der anderen Welt, das ist schlecht.
Ich habe Hoffnung, dass dank Schock, Koordination und Politik weniger Menschen in Europa oder an dessen Aussengrenze ertrinken und ersticken werden. Aber sonst bin ich gerade sehr ernüchtert. Wütend. Traurig. Und habe zu viele Déjà-Vus.
Man sieht deutlich weniger Frauen, weil in der derzeitigen Phase der Flucht oft Familienväter oder älteste Söhne als Brückenkopf losgeschickt werden: Sie fassen hoffentlich Fuß und können dann Familie nachkommen lassen.
Deutschland und besonders München haben Enormes geleistet und werden es noch länger leisten müssen. Die heutigen Grenzkontrollen sind für mich politisch völlig nachvollziehbar. Möge die Inlandkritik jetzt noch so medienwirksam scharf sein: Der Zeitpunkt naht, wo man der deutschen Regierung vorwirft, dass sie sehenden Auges zig Tausende ohne Registrierung eingelassen hat.
Infografik der Herkunftsländer der Flüchtlinge und Asylantragsteller in Deutschland (Stand heute, FAZ).
Flüchtlingsankunft in Malteser-Zelten Niedersachsens. Ich bewundere Deutschland für Organisation, Freiwilligenarbeit und Coolness.