A Day To Remember

Kritik an der Atomenergie gab es schon lange vor Tschernobyl, ich bin damit aufgewachsen. Es war eine Anti-AKW-Demo, auf der ich erstmals Tränengas gekostet habe, wahrscheinlich in Gösgen. Denn die Polizei hat erst ca. 1977 mit dieser Taktik begonnen und ich erinnere mich, noch ziemlich klein gewesen zu sein. Vielleicht wars auch Graben – ein AKW im Kanton Bern, das schlussendlich nicht gebaut worden ist.
Bereits 1979, nach Harrisburg, erlebte die Anti-AKW-Bewegung einen Aufschwung – sie brauchte sich 1986 gar nicht aufwändig zu formieren. Die Informationen waren so dürftig, die Katastrophe so unfassbar, das Bedürfnis sich auszutauschen war riesig. Es war einer der seltenen Momente, in denen sich die Masse selber politisch mobilisierte.
Ich habe oft darüber nachgedacht, warum der GAU für mich ein so einschneidendes Erlebnis war. Es lag wohl daran, dass ich viel Zeit meiner Kindheit in Wohngemeinschaften und Bio-Kommunen, in Alternativbeizen und an Hippietreffen verbracht habe. Die Erwachsenen beschäftigten sich da keineswegs nur mit Sex und Drugs und Rock ’n‘ Roll, sondern auch mit Pädagogik, Generationenkonflikt, Ökologie und Aussenpolitik.
Und wenn es darum ging, die Apokalypse auszumalen, hielt das Risiko Atomenergie über Jahre den Grusel-Rekord. Es war, als würde mir unablässig ein abstossend-anziehendes Märchen erzählt. Doch während andere Eltern beim Auftritt des bösen Wolfes tröstend riefen:„Es ist doch nur ein Märchen!“, betonten meine unablässig, dass es eben gerade keines sei.
Knapp erwachsen, kam diese Tschernobylwolke und es war wirklich keines.
Ich verstand endlich, was „das Private ist politisch“ bedeuten könnte, beschloss eine Lehre als Buchhändlerin zu machen und keine Kinder in diese Welt zu setzen. Zufall des Lebens, dass das Kind auf den Tag neun Jahre später zur Welt kam.
Heute ist noch ein anderer Gedenktag: Guernica (1937). Den Friedensnobelpreis mussten sie der IAEA überlassen, aber den Friedenspreis dieser Stadt haben die 1000 Frauen jetzt erhalten. Eine weise Entscheidung.

Und es fiel ein Wort aus Stein

UND es fiel ein Wort aus Stein
Auf die Brust, in der noch Leben ist.
Doch was solls: ich war dafür bereit.
Damit werd ich fertig, irgendwie.
Ich bin heute sehr beschäftigt, denn
Es ist nötig, die Einnerung zu töten,
Es ist nötig, dass die Seele Stein wird
und
Dass ich wieder neu das Leben lerne.
Sonst …. das heisse Rascheln dieses Sommers
Ist vor meinem Fenster wie ein Fest.
Schon seit langem ahnt ich diesen
Klaren Tag und das so öde Haus.
Anna Achmatowa (im Jahre 1939)

2 Gedanken zu „A Day To Remember“

  1. Hast Du „Die letzten Kinder von Schewenborn“ auch gelesen? Ich weiss nicht mehr genau, wann es erstmals herausgekommen ist, aber ich habe es damals in der Primarschule gelesen. Meine Eltern warnten mich nicht davor, wahrscheinlich wussten sie es gar nicht. Ich hatte in der Folge jahrelang Albträume und Tages-Angstträume vor einer Atomkatastrophe. Wie Du schreibst, diese Vorstellung war der Super-GAU aller möglichen Apokalypsen.
    Tschernobyl hat mich mit 13 getroffen, wo sich gerade die Pubertät anbahnte. Ich weiss noch, wie wunderbar sonnig und warm der Mai damals war, es war grauenhaft, dieses schöne Wetter intellektuell mit der unsichtbaren radioaktiven Verseuchung in Übereinstimmung bringen zu müssen.
    Vielleicht wähle ich drum auch heute noch konsequent grün und ärgere mich über jeden einzelnen Offroader auf der Strasse. Sowas steckt man einfach nicht mehr weg.

  2. Das ist interessant, dass es anderen auch so ergangen ist.
    Ja, ich habe dieses Buch, wie auch alle anderen von Pausewang gelesen und habe es auch als sehr beklemmend und ohne gutes Ende in Erinnerung. Ich war 15 Jahre alt beim GAU, auch mich hat das Ereignis zweifellos politisiert, allerdings eher rot denn grün – was nicht schwierig war, da sich die SP schon von der Atomenergie-Befürworter- zur Gegnerpartei gewandelt hatte und die Grünen in meinem Quartier weder damals noch heute überhaupt existierten.

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