Kampfzone

Ich bedaure, dass die Konflikte in den Ghettos europäischer Städte auf Konflikte mit Migranten reduziert werden. Ich möchte auf den Artikel „Aufruhr in Eurabia“ bei SPO eingehen. Die meisten Links werden zu blogk führen, einem Weblog, das das Leben in einem Blockquartier am Stadtrand Berns dokumentiert.

Der Traum eines friedlichen Multikulti-Miteinanders zerplatzt.

Dieser Traum hat nie existiert. Was existiert, ist seine leere Hülle. Die gleiche Hülle bezeichnet das andere Lager mit „wird nie funktionieren, die haben halt eine andere Kultur!“.
Diese Hülle, egal welcher Aufschrift, diente seit jeher dem Zweck, willkürliches Tun zu rechtfertigen. Ziellos und mit den Mitteln, die eben gerade zur Verfügung standen, in die Richtung, die im jeweiligen Land gerade trendy war, wurde Quartierarbeit gemacht. Man hielt es mit den Aussenquartieren, wie am Anfang mit der Entwicklungshilfe: hie und da etwas ausprobieren und wenn’s nicht klappt, erfährt’s ja keiner.

Dilain ist Sozialist und Vizepräsident des französischen Städtetages. […] Clichy-sous-Bois besteht förmlich aus Schulen, Mutter-und-Kind-Zentren, Sozialbüros, Parks und einem Collège wie aus dem Architektenwettbewerb. In der Stadtbibliothek läuft der Aufsatzwettbewerb „Ich komme von fern, mein Land hab ich gern“.

Claude Dilain ist seit zehn Jahren Bürgermeister von Clichy-sous-Bois. Er gehört sicher zu denen, die „Integration“ als Aufgabe sehen, die durchdacht, gut strukturiert und ohne zu knausern gemacht werden muss. Er erinnert mich ein wenig an Boris Banga, den Stadtpräsidenten von Grenchen. Grenchen ist eine Kleinstadt, einst reich durch die Uhrenindustrie, heute verarmt und mit einem überdurchschnittlichen Arbeitslosen- und Ausländeranteil. Banga tut sein Möglichstes, der Verlotterung beizukommen und hat es mit seiner Forderung nach dem Kopftuchverbot in Schulen bis in die Boulevardpresse geschafft. Seine Probleme sind bekannt, aber er hat kein Geld.
Die Secondos und Secondas in Europa sind inzwischen vierzig Jahre alt! Die vertane Zeit müssen nicht nur die Stadtpräsidenten und Bürgermeister teuer bezahlen. Wir haben nicht einfach ein „Eurabia“ in den Ghettos, wir haben den Import von Mafia-Strukturen aus der ganzen Welt erlaubt und den Frauen nie zugehört. Zum Beispiel Samira Bellil, auf die ich schon an anderer Stelle hingewiesen habe, wurde in Frankreich bis zu ihrem Tod kaum wahrgenommen.
Das Armutsproblem (geistige Armut ist mitgemeint) in Europa beschränkt sich nicht allein auf arabische Migrantinnen und Migranten, es trifft auch Einheimische, überall. In der Schweiz zum Beispiel regiert seit fünfzehn Jahren Sparpolitik auf Kosten der Grundversorgung an Bildung, Kultur und Sozialwesen. Diese nagende Minderung der Wirksamkeit von Massnahmen fördert die Ghettoisierung, die Radikalisierung, sie verhindert Gleichheit und besonders effektvoll die Entwicklung von Intellekt.

„Die Logik dieser Unruhen“, sagte ein Polizeioffizier, „ist die Sezession“ – die Abtrennung und Verselbständigung ganzer Viertel und Gemeinden, Zonen eigenen Rechts, zu denen die Staatsmacht keinen Zutritt mehr hat, wenn sie nicht als feindlicher Eindringling empfunden werden will.

So ist es. Aber warum waren die nicht jeden Tag da? Warum fährt die Polizei nicht seit dreissig Jahren regelmässig Streife in gefährdeten Siedlungen? Ich und viele andere haben diese Frage hier in Bern oft gestellt und es hat sich gelohnt. Dennoch ist die Polizei so knapp dran, dass die Polizeistreifen in die Villenviertel Aussenquartiere jederzeit wieder gestrichen werden könnten.

Die Kampfzone weitet sich aus, wie es der bleiche Autor Michel Houellebecq in seinem Bestseller formuliert. Und es sieht ganz danach aus, als würden die wurzellosen Zuwanderer das Leben in Europa auf dramatische Weise verändern.

Dieser Abschluss widerstrebt mir als Buchhändlerin. Wer an Fachlichem nicht interessiert ist, verzichte aufs Weiterlesen.
„Ausweitung der Kampfzone“ (Orig. „Extension du domaine de la lutte“ ) von Michel Houellebecq war leider noch kein Bestseller, sondern vielmehr ein Geheimtipp, von Wagenbach entdeckt und mit Verzögerung von fünf Jahren ins Deutsche übersetzt. (Houellebecq ist danach den dicken Checks gefolgt – dass er jetzt bei Dumont erscheint, macht seine Literatur nicht besser.)
Die Geschichte erzählt ein Programmierer, der hauptsächlich für das französische Landwirtschaftsministerium arbeitet. Ausser an zwei Araber, von denen einer vor dem Protagonisten auf den Boden spuckt, kann ich mich an nichts erinnern, das in einem Zusammenhang mit „Eurabia“ stehen würde.
Doch der Begriff „Kampfzone“ ist ein Zufallstreffer. Er wird bei Houellebecq benutzt als das, was Kinder ausweiten, wenn sie in Kriegsspielen nicht mehr mit Plastiksoldaten, sondern eine Rolle spielen, das was man dehnt, wenn man die Regeln hinter sich lässt, das, was dazwischen liegt, wenn man am einen Ufer losschwimmt und es weder ans andere noch zurück schafft. Als Ausweitung der Kampfzone bezeichnet er die Erkenntnis, dass das Leben nichts kann als misslingen.
Wenn schon als Aufhänger verwendet, hätte eine genauere Lektüre von Houellebecqs Erstling dem Artikel bestimmt nicht geschadet.

23 Gedanken zu „Kampfzone“

  1. Interessant im Zusammenhang mit den Unruhen in Frankreich finde ich, was Ralf Dahrendorf allgemein zu solchen Ausbrüchen schon vor einer Weile dazu angemerkt hat:
    „Extreme Armut erzeugt Apathie, nicht Rebellion. Die ganz Armen lassen sich höchstens für gelegentliche Demonstrationen der Wut nutzen, aber sie sind nicht der Stoff, aus dem Terroristen oder Revolutionäre gemacht sind.
    Eine sehr viel entscheidendere Gruppe sind in jeder Gesellschaft diejenigen, die dabei sind, aufzusteigen, dann aber sehen, dass ihnen der Weg verstellt ist. Ihre Wünsche und Ziele sind unter den gegebenen Umständen nicht unrealistisch, aber sie sind frustriert: Die Dinge bewegen sich weniger schnell, als sie es sich wünschen, oder überhaupt nicht – und zwar aufgrund von Umständen, die sie nicht steuern können. Gelegenheiten bestehen, können aber nicht ergriffen oder realisiert werden.
    Diese Gruppe – nicht die Armen und Hilflosen in verzweifelter Lage – bildet jene große mobilisierende Kraft, von der gewalttätige Proteste und letztendlich bedeutende Veränderungen ausgehen.“
    Diese Beschreibung trifft ziemlich genau auf diejenigen zu, die da jetzt Nacht für Nacht auf den Straßen rebellieren. Zum Teil gut ausgebildete Leute, die aber keine Chance bekommen, weil sie entweder dunkelhäutig sind oder aus dem arabischen Raum stammen und zudem auch noch in diesen Vorstädten leben müssen.
    Es ist zugleich eine Beschreibung die auch auf Gruppen in Deutschland oder anderen Ländern zutrifft. Was gerade in Frankreich geschieht und vermutlich jederzeit auch in anderen europäischen Ländern passieren kann, belegt mal wieder eine andere Beobachtung, die ich schon oft gemacht habe und die sich in die schlichten uralten Worte fassen läßt: „Man erntet, was man sät“ oder auch „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“.

  2. Das ist sehr interessant, diese Aussage von Dahrendorf, danke!
    Offenbar gab es überall mehr Warner und Warnerinnen, als ich wahrhaben will. Aber auf Kassandren zu hören, war noch nie verlockend…
    Dadurch, dass ich viel Freiwilligenarbeit in „Randstein-Politik“ – wie ich das nenne – mache, ist mein Thema weniger ein Meta-Thema, sondern ein ganz Konkretes:
    Das Schlitternlassen in den Aussenquartieren. Und dass viele davon profitieren. Wenn ich einmal kurz pauschalisieren darf:
    Die rechten Politiker, weil nichts besser wird, die linken Politiker, weil jeder Fliegendreck als Grosserfolg gefeiert werden kann, die Lehrer und Sozialarbeiter, weil niemand merkt, wenn sie keinen guten Job machen, die Migranten, weil niemand interveniert, wenn sie die Gesetze ignorieren.
    Ich bin sehr gespannt, welche Lösungen Frankreich wählen wird. Und ich bin überzeugt, dass auch Deutschland und die Schweiz daraus lernen können, im Guten wie im Schlechten.

  3. Vielleicht war das schon länger klar, ich habe keinen TV. Aber in der Zeitung gelesen haben ich das, was Rudolf Balmer heute im Bund-Kommentar schreibt, noch nie:
    Es ist kein Tsunami und kein Hurrikan, der in diesen Tagen Frankreich verwüstet. Es ist keine Naturkatastrophe, die diese Millionenschäden anrichtet. Alles ist durch menschliches Zutun respektive Nichtstun verursacht worden. Trotzdem: Auch hier sind Dämme gebrochen, auf die man blind vertraute. Solange sie noch zu halten versprachen, investierte man lieber anderswo. Das rächt sich jetzt. Die Explosion in der Banlieue, die sich nach dem Funkenschlag in Clichy-sous-Bois ereignete, war fast programmiert. Zeit und Ort standen zwar nicht fest. Überrascht hat sie all jene, die sich zum Beispiel als Soziologen oder auch als Lehrer beruflich mit den Jungen der Agglomerationsghettos befassen, höchstens durch ihre ausserordentliche Gewalt und ihre schnelle Ausdehnung auf die Vorstädte des ganzen Landes und die Pariser Innenstadt.
    Überhaupt nicht erstaunt darüber sind dagegen die fünf Millionen Bewohner der 750 «prioritären Zonen», der als Gefahrengebiet gekennzeichneten, besonders explosiven Aussensiedlungen. Sie leben jeden Tag damit. [Hervorhebung von nja.]
    Seit zehn Jahren schreibe und rede und handle ich gegen Sparmassnahmen. Nicht nur aus moralischen Gründen, nicht allein aus Furcht vor Ausschreitungen und Amokläufen, sondern weil eine Klassengesellschaft wirtschaftlich schwachsinnig ist. Mich frustrieren diese Zustände in wohlhabenden Ländern ausserordnetlich. Auch die in New Orleans, wo offenbar noch immer nicht jedes Kind wieder zur Schule geht, wie mir eine Bekannte aus US schreibt.

  4. Vielen Dank für die interessanten Gedanken. Ich frage mich allerdings, inwiefern wirklich alles eine Frage des Geldes ist. Ohne mich in der Materie besonders gut auszukennen, nehme ich zur Kenntnis, dass offenbar auch eine Politik, die mit öffentlichen Mitteln nicht knausert, an der Situation nur wenig zu verändern vermag.
    In meinen Augen spricht Einiges für Dahrendorfs These; danach wäre das Problem in erster Linie in den geschlossenen Gesellschaftsstrukturen der „Europäer“ zu suchen,z.B. der Personalabteilungen oder Vermieter, die Bewerbungen nach Familiennamen sondieren. Das Scheitern des „Multi-Kulti-Traums“ (ich habe eine Aversion gegen den Begriff) wäre somit nicht zuletzt auch ein Problem einer Gesellschaft, die Fremde grundsätzlich nicht zu integrieren bereit ist.

  5. Es war mir irgendwie klar, dass mein ursprünglicher Kommentar vom Spam-Filter gefressen würde, weil er zu viele Links enthielt. Vielleicht kann man ihn aus dem Spam-Karma befreien?

  6. Christoph, Sparmassnahmen und Willkür kritisieren ist nicht gleichzusetzen mit „dass es nur eine Frage des Geldes“ sei. Aus welcher Ecke ich sonst argumentiere, habe ich schon Liisa geschrieben. Aber auf der Metaebene und soziologisch halte ich es oft mit Dahrendorf, ausser, dass ich etwas weniger optimistisch bin punkto Veränderung. Dahrendorfs These scheint auch wichtig als Argument gegen Terror-Romantik (…ach die Armen, Entfremdeten – können ja nicht anders..).
    Marian: Unschönerweise war der Kommentar schon ganz richtig weg. Kannst du ihn mir mailen? t[at]nja.ch
    Habe die Linkanzahl nun mal auf 4 erhöht. BTW: what’s about China-Blogging?

  7. Hier Marians Kommentar – vielen herzlichen Dank dafür (und natürlich für das Kompliment – ich werde oft als zu gedankenhüpferisch kritisiert und jetzt mal“konstruktiv“ zu hören ist Labsal)!
    ***
    Auf dieses Blog ist doch immer wieder Verlass, wenn man auf der Suche nach gemässigtem Tonfall und konstruktiver Diskussion ist.
    Zunächst einmal der Link zu dem hier mehrfach erwähnten Dahrendorf-Artikel. Die Dahrendorf-Thesen, so bedenkenswert sie auch sein mögen, passen hier allerdings m.E. überhaupt nicht. Dahrendorf spricht gleich in der Einleitung von Guerilla und von Terrorismus. Das, was sich gerade in Frankreich abspielt, wird davon nicht erfasst. An den Verwüstungen und Gewaltausbrüchen sind doch gerade die frustrierten Aufsteiger nicht beteiligt; diese wirken, als „ältere Brüder“, sogar vielfach an einer Deeskalation von innen mit, wenn ich den Medienberichten Glauben schenken darf. Der jüngste Randalierer, der verhaftet wurde, war meines Wissens nach zehn Jahre alt. Alle Beteiligten, mit denen ich Interviews in deutschsprachigen Medien verfolgt habe, waren unter 25 Jahre alt und schlecht ausgebildet. Also: wie gesagt, Dahrendorf passt hier nicht.
    In einem Spiegel Online-Interview weist Daniel Cohn-Bendit auf zwei Besonderheiten hin, die die Krawalle mitverursacht haben könnten: zum einen der von Sarkozy bevorzugte Null-Toleranz-Ansatz und zum anderen die Tatsache, dass offenbar seit kurzem in den Vorstädten Polizisten eingesetzt werden, die nicht aus der Cité selbst stammen und keine Beziehung zu ihr haben. Cohn-Bendit hält das, was gerade in Frankreich passiert, in Deutschland für unwahrscheinlich. Das sehe ich auch so, spätestens, nachdem ich dieses Interview in der Süddeutschen Zeitung gelesen habe. Ich will mich nicht feixend über die Franzosen erheben (dazu ist die Integrations-Debatte in Deutschland zu unterentwickelt und die Lage zu brenzlig), aber ich halte die Situation in Frankreich an mehreren gesellschaftlichen Fronten für viel, viel schlimmer als in Deutschland.
    Ich möchte noch eine Stimme aus Frankreich erwähnen „Valérie wohnhaft in Paris, Arbeit grösstenteils in Aubervilliers (eine der Banlieues)“ aus den Leser-Kommentaren zu einem Artikel in der ZEIT. Daraus geht hervor, dass die Bewohner der Banlieues keineswegs als monolithischer Block der Frustrierten, die sich nur noch mit blinder Gewalt gegen Kindergärten, Schulen, Autos und Menschen zu wehren wissen, angesehen werden sollte.
    Was mich immer wieder befremdet und hin und wieder auch wütend macht, ist diese These vom Scheitern des „Multi-Kulti-Projektes“. Ich weiss nicht, wie es in der Schweiz aussieht, aber in Deutschland ist ein multi-kultureller Integrationsansatz nie, auch unter Rot-Grün nicht, ernsthaft versucht worden. Vielmehr gab es bis kurz nach der Jahrtausendwende in Deutschland einen breiten Konsens durch alle Parteien, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei und man nur schauen müsse, wie man mit den „Gastarbeitern“ fertig werden können.
    Die beliebteste Lösung hinsichtlich des „Fertigwerdens“ bestand immer darin, die „Gastarbeiter“ doch möglichst wieder in ihre „Heimat“ zurückzuschicken. Spätestens, wenn dieser „Heimat“-Begriff auf die dritte Generation angewendet wird, die oft noch nichtmal über verwandtschaftliche Bindungen im Herkunftsland ihrer Grosseltern verfügt und die Landessprache (des „Herkunftslandes“) nur unzureichend beherrscht, wird es vollends lächerlich.
    Mit Erstaunen habe ich gestern in der NYT gelesen, dass George W. Bush im Moment aus den Reihen der Republikaner heftig dafür kritisiert wird, dass er sich mehr um „guest worker“ als um illegale Einwanderung kümmert. Das wäre m.E. wirklich fatal, wenn die USA jetzt auch noch mit diesem Gastarbeiter-Unsinn anfangen.
    Ich bitte um Entschuldigung für die Länge dieses Kommentars. Es ist wirklich höchste Zeit für mich, ein eigenes Blog zu eröffnen…

  8. Das ist eine sehr vielschichtige Diskussion, die auch die Grenzen des Internets aufzeigt. Wenn wir alle zusammensässen, wäre es viel einfacher.
    Ich möchte auf einige Dinge eingehen, die bei allen aufgetaucht sind:
    1. Ralf Dahrendorf. Ich habe meine Lehre in einer Buchhandlung für Soziologie gemacht und Jahre mit seiner und ähnlicher Literatur verbracht. Er gehört für mich auf die Meta-Ebene der Diskussion. Auch wenn der erwähnte Artikel nicht genau auf die Problematik der Banlieue passt, so ist Dahrendrof grundsätzlich einer mit brauchbaren Thesen, z.B. über Migration und Globalisierung. Beides Themen, die übergeordnet schon etwas mit dem Konflikt zu tun haben.
    2. Multikultur: Der Begriff ist wirklich nicht brauchbar, da schon Jahre undefiniert verwendet. Jeder versteht ihn, aber anders. Gehe ich davon aus, dass er ein friedliches Nebeneinander verschiedenster Kulturen bedeutet, so glaube ich, dass er nur scheitern kann. Gehe ich davon aus, dass er eine neue Kultur, bestehend aus verschiedenen Kulturen, definiert, ist er für mich in hohem Masse erstrebenswert. Dies im Bewusstsein, dass er erst von kommenden Generationen aktiv umgesetzt werden könnte.
    3. Das kann in D und CH nicht passieren….? Es ist die Frage, was mit „das“ gemeint ist. Wenn „das“ die Jugendunruhen vorwiegend arabisch-stämmiger Jugendlicher bedeutet, dann ist das in der Tat eher unwahrscheinlich. Wenn „das“ aber Jugendunruhen mit erheblichem Schaden aber auch einem gewissen Potential für Veränderung bedeutet, dann ist es überhaupt nicht unwahrscheinlich. D wie CH kennen das schon, auch wenn die letzten Unruhen eher von Intellektuelleren kamen, ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass sie einmal mehr von unten kommen.
    4. Schweiz: Was ich persönlich in der Schweiz viel mehr fürchte als Unruhen, sind Nebenwelten, die ermöglichen, dass Tradtionen aufrecht erhalten werden, die „schweizerischen“ Werten (die wie längst endlich definieren müssten) zuwiderlaufen. Leider zeichnet sich das an vielen Beispielen ab. Und leider ist das dann auch eine gute Basis für ungestörtes Wirken menschenfeindlicher Organisationen – viel besser als Jugendunruhen.

  9. Das kann möglicherweise nicht in D passieren, aber ähnliches. Man betrachte sich das alljährliche 1. Mai – Ritual. Andere Ursachen (?), nur marginal andere Wirkung und in den letzten Jahren lokal und zeitlich begrenzt. Die derzeit herrschende Politik der Entsolidarisierung, der Sparmaßnahmen im Sozialen, Versäumnisse in der Einwanderungspolitik der letzten 40 ! Jahre haben zumindest einen Nährboden gelegt. Nur denke ich, daß „unsere“ Straßenschlachten, so sie denn kämen, eher international wären, getragen von Jugendlichen jeder Herkunft, deutsch, türkisch, arabisch, russisch etc. Das Problem der „Nebenwelten“ sehe ich als gravierender und als in D längst existent an. Richtig problematisch werden sie dadurch, daß die dritte Einwanderergeneration, also die Jugendlichen/jungen Erwachsenen verstärkt in diese Richtung gehen, nachdem die zweite Generation den anderen Weg versucht hatte. LG rollblau

  10. Ja, ich dachte schon lange, dass diese Nebenwelten in Deutschland auch exisitieren, Rollblau. Ich bin froh, wenn nicht nur ich diese fürchte, also in dem Sinne froh, dass noch andere hier ein Auge drauf haben und es nicht zudrücken.
    Ich meine schon Zaimoglu zu lesen reicht eigentlich. Aber er zeigt auch das Gegenteil, die Multikulur als Ergebnis eines Gemisches, das uns alle weiterbringt.

  11. Ich war gestern etwas erstaunt, in einem Artikel der Deutschen Welle ein Zitat von einem deutschen Soziologen zu finden, wo dieser behauptete, in Deutschland gäbe es solche „cluster“ wie in Frankreich nicht. („cluster“ ist auch so ein Modewort). Dieser Soziologe war wohl noch nie in einer deutschen Großstadt unterwegs.
    Das Wort „Nebenwelten“ ist mir allerdings neu. Bei uns heisst das „Parallelgesellschaft“. Dass es diese gibt, wird von Politikern der CDU/CDU hin und wieder bedauert – und die Politiker links von der CSU schweigen.
    In Deutschland hat es „das“ übrigens schonmal gegeben, und zwar 1992 in Rostock. Wohnungsbaulich absolut vergleichbar, nur dass damals Deutsche die Täter waren und Asylanten oder Asylbewerber die Opfer.
    Aus fünfjähriger nachbarschaftlicher Erfahrung kann ich allerdings behaupten, dass die rituellen 1.Mai-Krawalle sehr wenig Ähnlichkeit mit dem haben, was gerade in Frankreich geschieht: von den Tätern wohnt in diesem Fall keiner in dem betroffenen Viertel. Viele reisen extra aus der gesamten Bundesrepublik an.
    Straßenschlachten zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Herkunft gibt es in Deutschland auch hin und wieder. Besonders „Türken“ gegen „Russen“ ist scheinbar sehr beliebt, wobei es sich bei den „Russen“ vornehmlich um Spätaussiedler handelt. Die Spätaussiedler sind hier z.T. noch schlechter integriert als andere Menschen mit Migrationshintergrund.

  12. @Marian: „Nebenwelten“ habe ich erfunden. Aber es ist mir ernst damit, weil unter Gesellschaften versteht man einfach Leute, die anders leben, in ihren Traditionen. Aber ich meine mehr, weltumspannender, globalisierter, darum sage ich „Welt“. Länder sind nur Teile dieser Welten, in denen Migranten und Migrantinnen immer gleich leben, egal wo sie sind.

  13. Es gibt halt alles in Berlin : Parallelgesellschaften, Nebenwelten, Miteinander, Gegeneinander, Kommunikation und Abschottung, das normale anonyme Nebeneinander. Das Problem ist die Tendenz. Und die geht verstärkt in Richtung Abschottung und Nebenwelten.
    @Marian : Ja, der Politkrawalltourismus hat sicher einen (inzwischen) großen Anteil. Ich halte ihn derzeit auch für relativ unpolitisch. Aber die Anfänge (1987) waren einmal anders, und das könnte auch wieder so werden. Und die „Zugereisten“ kommen ja auch aus D. In einem gewissen Maße ist es verständlich und beinahe erforderlich, daß sich in Berlin, der Hauptstadt und dem Ort mit dem am weitestgefächerten Spektrum an Menschen und politischen Gruppierungen, so etwas abspielt. In Münster, Itzehoe oder Castrop – Rauxel wäre so etwas relativ sinnlos und würde nicht unbedingt die gewünschte Medienwirkung erzielen. Als alter „Multikulti“ – Befürworter war ich vor vielen Jahren ziemlich entsetzt, daß sich die verschiedenen Migranten – Nationalitäten untereinander befehdeten statt gemeinsam zu einer größeren und damit einflußreicheren Minderheitenvertretung zu kommen…. LG rollblau

  14. Zu Politkrawall und wie sich das entwickelt (auch in CH): Solange es keine Verletzten und Toten gibt, müssen via Delegationen von allen Beteiligten Erklärungen und gemeinsame Lösungen gesucht werden. Dies immer mit dem Hinweis, dass Zerstörung (auch schon Vandalismus) von Gesetzes wegen verboten sind und bestraft werden. Sonderrechte von Staat und Polizei lehne ich in diese Phase entschieden ab.
    Wenn es zu Schädigung von Leib und Leben kommt, müssen die Erklärungen einer kurzfristgen und konsequenten Lösung weichen, die Leib und Leben der Angegriffenen schützt. Sonderrechte von Polizei und Staat müssen – das erwarte ich in der Schweiz – auch in diesem Fall durchs Parlament und dürfen nie durch die Hintertür.
    ***
    Multikulti. Rollblau, das interessiert dich vielleicht. Ich stelle einen Trend Richtung Liberalismus auch in der Blogosphäre fest, deren Vertreter/innen sich vehement gegen Multkulti (was ist es, was?) wehren. Aus verschiedenen Gründen ist einer der frustrierendsten Einträge dieser von Gegenstimme. Ich verlinke, weil Italien in unserer Debatte bis anhin fehlt.

  15. In der Schweiz und in Deutschland gibt es durchaus auch Nährboden für Jugendunruhen, auch wenn die Situation anders ist und ein konkreter Anlass fehlt. Als ehemaliges Vorstandsmitglied des 1.-Mai-Komitees habe ich einige Ausschreitungen rund um unser Fest am Rande miterlebt. Die Unruhen in dem vergangenen Jahren kamen von unterschiedlichen Gruppen. Sicher gibt es einen politischen Kern, dann die Mitläufer und „Krawalltouristen“, aber es gibt auch die „Secondos“. – Polizeichefin Esther Maurer machte diesen Begriff in dem Zusammenhang erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt (inzwischen haben die Second@s sich diesen Begriff wieder als Selbstbezeichnung angeeignet). Daraufhin flammte kurz eine Diskussion über die Perspektivenlosigkeit vieler ausländischer Jugendlicher auf und dessen Gefahren für die Gesellschaft, ebbte aber schnell wieder ab. Aber ich denke, dass diese Frage früher oder später wieder auf das politische Parkett kommt, denn Wegschauen löst keine Probleme!
    Wie wenig es braucht, bis eine friedliche Demonstration in eine wilde Strassenschlacht ausartet, habe ich vor zwei Jahren erlebt, als die Zürcher Polizei den „Reclaim the Streets“-Umzug ohne erkennbaren Grund mit einem massiven Tränengaseinsatz angegriffen hatte. Der Umzug löste sich aber nicht auf, statt dessen tobte während einer ganzen Nacht auf der Westtangente (der Stadtautobahn mitten durch Zürich) eine Strassenschlacht. Eskaliert ist die Situation erst, als die Polizei massiv unverhältnismässig eingeschritten ist und damit die 98% der friedlichen Partygänger auf die Seite der wenigen trieb, welche die Konfrontation mit der Polizei suchten. Bei Anti-WEF-Demos kennen wir ein ähnliches Bild. Seither scheint die Zürcher Polizei aber dazugelernt zu haben und blieb am diesjährigen 1. Mai und bei „Shantytown“ im Hintergrund – und siehe da: es blieb friedlich. – Ich will damit sagen, dass die Art und Weise, wie mit solchen Konflikten umgegangen wird, höchst entscheidend ist. Wenn ein hochrangiger Politiker eine Gruppe als „Gesindel“ bezeichnet und ich mitgemeint bin, dann überlege ich mir also auch, ob ich Steine werfen will.

  16. Tanja,

    “Nebenwelten” habe ich erfunden.

    Sehr gut. Wegen der überzeugenden Begründung werde ich ihn hinfort in meinen Wortschatz einspeisen.

    Ich stelle einen Trend Richtung Liberalismus auch in der Blogosphäre fest, deren Vertreter/innen sich vehement gegen Multkulti (was ist es, was?) wehren.

    Diese Art von „Liberalismus“ ist in der deutschen Blogosphäre schon kein Trend mehr, sondern mittlerweile eine Säule derselben. Die „links(liberale)“ Szene beschäftigt sich lieber ausschliesslich mit der „grossen“ Politik oder ist mit der Organisation von Blogger-Treffen beschäftigt…
    Das Thema „Multikulti“ im Zusammenhang mit Frankreich wird übrigens in zwei Einträgen bei „Fistful of Euros“ behandelt. (Oh for those peaceful days of the ’50s and ’60s und “Multiculturalism”? As if!.
    Sehr überzeugend, wie ich finde.
    Der von dir zitierte „Gegenstimme“-Beitrag ist in der Tat frustrierend und lässt eine sehr grosse Distanz zum „Rechtsstaat“ erkennen. Auch ein Trend, der sich gerade in Deutschland flächendeckend Bahn bricht, übrigens.
    rollblau,

    Aber die Anfänge (1987) waren einmal anders, und das könnte auch wieder so werden. Und die “Zugereisten” kommen ja auch aus D.

    Damit hast du mich gleich doppelt erwischt. Ich schwenke die weisse Fahne, was diesen Teil meiner Argumentationskette betrifft.
    Um an die Link/Spam-Grenze zu kommen, hier noch eine selbstgefällige Pressemitteilung des Berliner Migrationsbeauftragten „Berlin ist nicht Paris“. Alles im grünen Bereich, meint der Mann. Na, dann… *kopfschüttelnd ab*

  17. Ja, Herrn Piening habe ich live im Lokalfernsehen gesehen. Er hat – vorerst – recht. Es wäre verkehrt, aus den Nachahmungstaten zum einen ein Klima verschärfter Diskriminierungen einerseits und repressiverer Vorgehensweisen der Exekutivorgane herbeireden zu wollen (und Interesse gibt es für beides seitens der einschlägigen politischen Gruppierungen). Aber in Zukunft könnten sich die Zustände ändern. Mir scheint es nicht von der Hand zu weisen, daß die Argumentation der zeitlichen Abstände in den Entwicklungen (USA – Frankreich = 20 Jahre, Frankreich – BRD = 10 Jahre) zumindest denkbar ist, wenn nicht Maßnahmen zur Integration – sprachlich, auf dem Bildungssektor und politisch – ergriffen werden. Dummerweise sehe ich derzeit nur Appelle und die lakonische Feststellung, das Land und die Kommunen hätten kein Geld. Bleibt es dabei, sehe ich schwarz. (Die Widersinnigkeit, den eigenen Lebensraum mit Brandstiftungen, Straßenschlachten und Plünderungen nachhaltig zu schädigen, wird wohl auch niemanden abhalten… )
    @tanja : Mir scheint, daß derzeit die politische Gegenöffentlichkeit in Weblogs vor allem aus mehr oder minder konservativ – (neo)liberalen Schreibern besteht, mag sein, den sieben Jahren rot – grüner Regierung (in D), den Terroranschlägen In New York, Madrid, London geschuldet. Dies zeigt sich im wirstschaftlichen wie in anderen Bereichen. Wirklich auffällig dabei ist ein stark entwickelter Dogmatismus, der früher eher links zu finden war. Es scheint mir aber zugleich ein Anzeichen dafür, daß verschiedenste Konzepte – in der Wirtschaftspolitik, im Umgang mit Ausländern – gescheitert sind (und darunter waren durchaus auch viele konservative oder liberale Herangehensweisen). Nun wird auf verschiedensten Gebieten nach neuen, strikten (und damit dogmatischen) Herangehensweisen gerufen, die das Heil bringen sollen. Mir als Agnostiker befallen da nicht nur leichte Zweifel, denn das geforderte Vorgehen nach neoliberalem Lehrbuch in der Wirtschaft oder nach den Ausgrenzungs – und Nivellierungstendenzen in der Migrantenpolitik dürfte keine Lösung bringen, dafür aber Konfliktpotential und Frontlinien schaffen. Bei uns steht wohl wieder eine Debatte über die Leitkultur ins Haus… Soweit es die Anerkennung von Gesetzen und der Verfassung sowie um sprachliche Fähigkeiten geht, finde ich das in Ordnung. Damit wären dann auch Zwangsehen, Ehrenmorde etc. Straftaten und nicht hinnehmbar. Alles weitere, was sich die Initiatoren dabei denken mögen, würde ich allerdings gerne vermeiden wollen, schon weil ich selbst keinerlei Lust verspüre, nach streng patriotischen, deutschtümelnden Leitlinien zu leben. LG rollblau

  18. Liebe alle Kommetierenden – ich lerne sehr viel von euch über Gegenwartskultur im Abendland. Viele Dank dafür. Esther, „Shantytown“ hatte ich nicht gekannt 🙂 Marian, überschätz mich nicht, Fistful of Euros ist für mich an der Grenze des sprachlich Verständlichen.
    Rollblau: Deine Analyse der Meinungen in der deutschsprachigen Blogosphäre, die du in Zusammenhang stellst mit einer politischen Entwicklung, ist äusserst scharfsinnig.
    Auf 9/11 hatten Linke – pauschal gesprochen – hier in der Schweiz unmöglich reagiert, ich konnte mich in keiner Weise identifizieren mit der oberflächlichen Selber-schuld-die-Amis-Mentalität, die mir entgegen schlug. Und auch nicht mit der hahnebüchend magelhaften Auseinandersetzung mit der Täter-Motivation. Deshalb waren einige Leute, die sich inzwischen teilweise den liberalen Bloggerkreisen angeschlossen haben, wichtig für mich, sie thematiserten den barbarischen Akt als solchen – wie ich.
    Aber es hat sich keine richtige Diskussionskultur entwickelt und ich fürchte, du hast recht mit der Dogmatik. Dabei hätte ich sehr gerne eine Wertedebatte geführt, gerade weil es teilweise mein Job ist, ein Vorbild zu sein. Meine Schülerinnen fragten echt: „Frau M. sind sie für oder gegen den Krieg?“ Aber es ist fast unmöglich, links will man nix hören (obwohl es nötig wäre zu lernen aus der missglückten ideologische Verteidigung der sozialistischen Regimes) und bei liberal-konservativ wird man abgekazelt, besonders, wen sie mal links waren, rechts ist es sowieso grauenhaft „tümelnd“. Also ausser bei Sachpolitik (meine „Randsteinpolitik“) nichts zu wollen.
    Als – ebenfalls – Agnostikerin frage ich mich langsam, ob ich nicht mangels Alternative einfach die 10 Gebote verteidigen soll.
    BTW: Dieser Essay von Enzensberger im aktuellen gedruckten SPIEGEL, ist das Gescheiteste, das ich zu der ganzen Terror/Islamismus-Debatte seit Jahren gelesen habe.

  19. @rollblau:
    Leitkultur ist ein fehlgeleitetes Konzept, das sehe ich auch so. Wir brauchen keinen gemeinsamen positiven Wertekanon oder höchstens in dem eingeschränkten Sinn, dass wir es ermöglichen wollen, dass Menschen mit ganz unterschiedlichen Werten mit- (und nicht nur neben-)einander leben können. Die reale Freiheit aller (und zwar der Individuen, nicht der Gruppen, Firmen oder Staaten) und die Verständigung muss gesichert sein. Der ganze Rest darf gern so vielfältig wie möglich sein.
    Die Neoliberalen betonen ja gerne die Freiheit, lassen aber erstens deren Voraussetzungen unberücksichtigt und tun zweitens so, wie wenn das ganze Leben über anonyme Marktbeziehungen geregelt werden könnte. Damit gibt es gar keinen konzeptuellen Raum mehr für persönliche Beziehungen und strukturelle Zwänge und brennende soziale Probleme werden unartikulierbar. Ich bin überzeugt, dass wir uns wieder vermehrt bemühen müssen, Wege des Miteinanders und der Verständigung zu suchen und zu artikulieren. Es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum zwei Menschen den gleichen Weg gehen. Dass beide zufälligerweise unabhängig von einander in der gleichen Richtung ein Ziel anstreben ist nur einer davon und nicht unbedingt die Regel. – Versteht mensch, was ich meine, oder war das jetzt zu abstrakt?

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