Wenn ich nach eine Motiv in meiner Buchwahl fahnde, so komme ich zum Schluss, dass diese neben Unterhaltung, neben Ästhetik von Sprache und Bild vor allem von Menschenrechten geprägt wird. Die Frage, was Menschen denn sonst dazu treiben sollte, gute Bücher zu machen und zu verbreiten, ist natürlich berechtigt.
Jedenfalls habe ich den internationalen Tag der Menschenrechte zum Anlass genommen, mich auf die besten Bücher 2005 festzulegen. Da ich sie zum ersten Mal im Leben nicht verkaufen muss, sondern jedes veraltete Billigbuch hochloben könnte, habe ich beschlossen, aus der neuen Freiheit etwas zu machen und die Millionste Bücher-Kategorie in die virtuelle Welt zu setzen.
Etwas später als bei anderen und nicht festgelegt auf eine bestimmte Menge (im Vorjahr hatte ich nur acht) hier also meine gelesenen Meisterstücke des ausklingenden Jahres:
Ich werde diese Titel nach und nach bis Jahresende besprechen. Die Freunde der Belletristik möchte ich warnen, denn es sind nur zwei Romane dabei.
Weiter lesen: Das bereits 2004 erschienene Buch Bild der Menschenrechte kann ich jedem nur nahe legen. Bei mir gehört es neben den Wörterbüchern zu den meist benutzen Büchern. Es ist Humanwissenschaft, Lexikon, Geografie und Geschichte in einem. Es ist heute noch einmal von Swissinfo besprochen worden. Dort hat es auch eine Bildgalerie, die jeden Grundsatz der Menschenrechte einzeln illustriert.
Im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung» erschien im Juli dieses Jahres ein Essay zum Thema der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts. Der Autor, Roman Bucheli, ist gegenüber der auf Schiller zurückgehenden Idee eher skeptisch eingestellt: «Denn die Literatur wirkt – wenn sie überhaupt auf die Gesellschaft einwirkt – nur mittelbar. Das Schreibzeug des Schriftstellers nimmt im besten Fall als seismographisches Instrument mit jenem Phänomen Fühlung auf, für die uns im Übrigen nicht nur die Organe, sondern auch die Worte und Begriffe fehlen.» Und so kommt Bucheli zum Schluss, dass jede Zeit nur die Literatur hat, die sie verdient (vgl. «Der neue Houellebecq gefällt»), und – leider – die Literatur den Zeitgeist nicht bestimmt.
Judihui! Eine interessante Debatte über die Wirkung der Literatur einst und heute. Soll ich nun auf Kunst und/oder/nicht Demokratie antworten oder auf „Die Gesellschaft mit der Literatur kurieren“ von Bucheli?
Da ich noch ganz wenig Widerspruch zu bieten habe, darf ich es dir vielleicht gleichtun und alles mischen.
Deinen Ansatz, dass Kunst keinen Mehrheitssegen braucht, teile ich. „(…) dass Kunst nichts mit Demokratie am Hut haben darf“, bestreite ich hingegen, aber das gehörte in dein Weblog, wär ich bloss nicht so müde.
Der Artikel von Bucheli langweilt mich, mit den ewigen Zitaten von Kritiken aus ach-so-renommierten Zeitungen, die ihrerseits wieder ach-so-zeitgenössische-Literatur besprechen und vergleichsweise selten wirklich etwas entdecken und einander hauptsächlich abschreiben, wofür Houellebecq ein gutes Beispiel ist, aber ist ja auch ein Schunken. Mir ist ausser Caduff und dir noch niemand begegnet, dem ich abnähme, dass er ihn ganz gelesen hat.
Zurück zu Bucheli: Nur der auch von dir teilweise zitierten Stelle kann ich etwas Bedenkenswertes abgewinnen:
Denn die Literatur wirkt – wenn sie überhaupt auf die Gesellschaft einwirkt – nur mittelbar. Das Schreibzeug des Schriftstellers nimmt im besten Fall als seismographisches Instrument mit jenen Phänomenen Fühlung auf, für die uns im Übrigen nicht nur die Organe, sondern auch die Worte und Begriffe fehlen. Mit einem weitverzweigten Wurzelsystem reicht die Literatur wie alle Kunst tiefer als das Bewusstsein in unsere Untergründe (und Abgründe) hinunter und führt uns von da die Rückseite unseres Selbstbildes vor Augen. Das mögen manche für visionär halten. Doch Künstler blicken nicht in die Zukunft, sondern bringen manchmal zum Ausdruck, was eine Gesellschaft im Innersten und noch ehe diese Kenntnis davon hat, antreibt (oder blockiert).
Nun, das spricht ganz bestimmt nicht gegen Schiller, eines meiner leuchtenden Beispiele bei der Favorisierung des Gedankens gegenüber der Anschauung und damit die Antithese zu deinem Eintrag (und Houellebecqs Konsumwahn zu Gunsten einer äusserlichen und innerlichen Gleichschaltung in ästhetischen Hüllen).
Ich kann nicht sagen, ob Literatur den Zeitgeist bestimmt, weil ich nicht weiss, was der Zeitgeist genau ist und welche Region er gerade bewandert. Aber ich kann sagen, dass Literatur sehr grossen Einfluss hat. Ich kann das nicht auf „zeitgenössische“ Literatur beschränken, aber wenn ich dich richtig verstehe, geht es dir genau darum und deshalb versuch ich mich noch etwas genauer zu erklären.
Mich interessiert Literatur isoliert nach Zeit und Ort betrachtet nicht besonders und am allerwenigsten Belletristik. Denn viele Autorinnen und Autoren beeinflussen einander, viele Strömungen und Ideen, auch die Verwendung bestimmter Begriffe, werden geliehen und entliehen, über die Sprachgrenzen hinweg. Wenn ich persönlich etwas unterscheide, dann sind es die Lebenden und die Toten, die Deutschsprachigen und die Übersetzen. Ich grenze nicht einmal die Belletristik klar ab, weder vom Reisebericht noch vom Comic. Und es gibt Lebende, die schreiben völlig an jeder „Zeitgenossenschaft“ (Frisch) vorbei und es gab Tote, die schrieben voraus.
Den Zustand der deutschsprachigen Literatur würde ich als ordentlich und in Nischen avantgardistisch bezeichnen. Ob sie sich im Moment gerade hauptsächlich in Romanform niederschlägt, das bezweifle ich, genau wie der Autor des Artikels. Doch ob dies Rückschlüsse auf die Gesellschaft zulässt, weiss ich wirklich nicht.
Alles bunt gemischt, wie angekündigt.
Liebe Tanja
Ich bin ja nur ein Liebhaber der Sprache und keine Experte der Literatur…
Die Frage, ob es über Belletristik eine ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts gibt, ist wohl offen, und ich finde sie sehr spannend.
Du schreibst ja selbst, du seist nicht auf Belletristik eingeschossen. Ich glaube, wo wir uns einigen könnten, ist, dass Sprache und Gespräche die Menschen verändern können (jetzt hüpft wieder der Demokrat in mir).
Interessant an unserer Zeit ist ja, dass wir dank moderner Technologie immer einfacher Gespräche führen können. Jedermann kann mit geringem ökonomischen Aufwand sogar zum Publizisten werden (Blogs).
Vielleicht können wir uns für erste darin einigen, dass Gespräche den Zeitgeist prägen.
Lieber Christian
Wir sind uns einig, aber sicher. Es ist die Sprache die zählt, alles andere sind Hühner-oder-Eier-Fragen. Der Einfluss der oralen Tradition auf die Literatur ist enorm, man denke nur an den weltweiten Märchenschatz, der nie vollständig aufgeschrieben sein wird. Auch hier ist der von mir ebenfalls geschätze Houellebecq ein gutes Beispiel, der hat im Französischen angefangen zu schreiben, wie man heute redet. Leider ist er etwas zu sehr aufs Geld aus, um wirklich gute Plots hinzubekommen und ich vermute, Lektorat und Übersetzung sind bei Dumont auch nicht, was sie bei Wagenbach waren.
Aber umgekehrt ist es eben auch: Literatur wirkt auf Sprache. („Drum prüfe wer sich ewig bindet..“ –> Schillers Lied von der Glocke, um beim Exempel zu bleiben.) Zum Beispiel nach dem zweiten Weltkrieg, nach diesen absoluten Vernichtungsjahren für Kultur, nach der Auslöschung des kulturellen Gedankens an sich – was haben sich Menschen, wie die Gruppe 47, aufgemacht, die Sprache wieder zu gestalten? Von der Philosophie (Frankfurter Schule) und der DDR-Literatur gar nicht zu reden. Aber Autorinnen und Autoren sind sowieso nur ein Teil derer, die Sprache mitgestalten. Blogger, Rapper, Secondos, alle gehören dazu. Die Literatur ist vielleicht eine Art Dokumentation davon und vielleicht verliert sie auch an Bedeutung. Viel mehr als die Qualität der Schreibenden, d.h. des Geschriebenen, deutet für mich die Kommerzionalisierung im Verlagswesen darauf hin.
Wir wissen nicht, wo genau wer wie viel Einfluss hatte, nur wenig aus dem 20. Jahrhundert ist so klar nachgewiesen wie bei den Klassikern. Aber wir können auch nicht wissen, wie es ohne gewesen wäre.
Ich schliesse ab mit Lichtenberg, dessen Auffassung ich teile. Sie kommt leider in den Vorwürfen des Feuilletons an die heutige Literatur etwas gar zu kurz:
Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstossen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buche?