Reduzierte Formen

Ich vermisse das Schreiben. Aber die vielen losen Enden in meinem Kopf verunmöglichen es.
Das ist merkwürdig, weil Bloggen ja genau dazu erfunden worden ist, lose Enden in die Welt zu setzen, auf dass jemand die Verbindung finde und kommentiere. Meine These: Jede neue Form ist ein Versprechen auf Reduktion und gibt der vorhergehenden oder noch früheren Form mehr Gewicht. Das heisst, wir wagen uns heute neben den Kurznachrichten in Echtzeit weniger, einen Brief zu verfassen, denn seine Form allein macht seinen Inhalt schon so wichtig. Wer traut sich hier und heute schon, etwas Nichtiges zu Papier zu bringen ausser ein paar letzten Schülerinnen, die für ihre Aufsätze immer noch Tintenbuchstaben auf Linien setzen und sie rechtzeitig am Rande stoppen.
Viele gehen davon aus, ein Blogbeitrag lohne der Publikation nur dann, wenn er schlüssiger sei als unsere Tweets. Ebenso entwickelt sich unser Lesen: Bücher müssen es Wert sein oder zumindest relevant empfohlen, geteilt. Und die letzten handgeschriebenen Couverts im Briefkasten lassen uns aufschrecken. Freudig, wenn sie den Beginn eines Lebens markieren und niedergeschlagen, wenn dessen Ende.
Aber vielleicht ist alles nur ein banales Zeitproblem. Und wir hätten es in der Hand, könnten uns hinsetzen an einen Brief oder ein Buch, das Internet vergessen und unsere Formen erweitern.

Fünf Glücksmomente

  • Ein handschriftlicher, gut leserlicher, aufmüpfiger Brief einer Freundin, die einen Hirnschlag hatte.
  • Die erste Begegnung mit meiner neuen Nichte.
  • Die letzte Antwort auf meine Nachfragen: „Personne de ma famille et de mes amis n’a été touché.“ Damit ist niemand aus meinem Bekanntenkreis direkt vom Anschlag in Paris betroffen.
  • Das Öffnen der letzten Flasche meines diesjährigen Lieblingsweines gestern Abend.
  • Das kleine Video meiner älteren Nichte, welche ihre Schwester heute Morgen auf der Heimfahrt vom Spital gefilmt hat. Neben dieser sitzt Herr Nilsson mit grünem Jacket, im Hintergrund klingt albanische Musik.
  • Der 119. Pegasus

    Ein Mensch muss viele Fragen stellen, bevor ihm die Erfahrung Antworten zuträgt. Was ist denn beispielsweise lesenswert in diesem Leben? Für mich bleibt ein jedes Buch der Versuch, es herauszufinden.
    Immerhin glaube ich langsam zu verstehen, was die gute Schule ausmacht: ihr Mut, ihr Werkzeug, ihre Dienstbereitschaft. Eine gute Schule muss etwas wagen. Lehrerinnen und Lehrer der guten Schule beherrschen ihr Handwerk, fordern und pflegen die passende Infrastruktur und bleiben auch Vorbilder, wenn diese fehlt. Die Bereitschaft sämtlicher Mitarbeitenden, dem Umfeld zu dienen, ist in der guten Schule ausser­gewöhnlich hoch.
    Etwas habe ich jedoch im Laufe der Jahre gelernt: Eine gute Schule ist nicht unbedingt die, die wir im Moment als solche beurteilen. Sondern viel mehr die, die wir als solche erinnern.
    Schön, dass Sie mitlesen. Bleiben Sie uns gewogen.
    Tanja Messerli

    Die beste Eröffnung

    Literature may be weak because it has no real power in the world, but in a way it is the grandest narrative of all, in that it puts ourselves into question with fiction. We challenge ourselves and refuse to take the world as a given. We challenge all correctives of opinion, all appeasements, all fears. Literature is the unafraid form.


    Salman Rushdie
    today @Book_Fair via Bookseller

    Pause fürs Lesen & Schreiben & Singen

    Wie sicher viele hier Mitlesende habe ich seit dem Schulstart im August fast nur gearbeitet. Müdigkeit ist nicht weiter schlimm, aber sobald ich nicht mehr richtig zum Lesen komme, wird’s schwierig, denn ich verliere die Orientierung. Von Zeitungsartikeln nur der Schluss, von Interviews nur die Zitate, von Blogbeiträgen nur einen Abschnitt, von Büchern gar nicht zu reden.
    Meine Lernenden haben nun Schulferien, die Mitarbeitergespräche sind fürs ganze Jahr geplant, alle Sheets von allen Anspruchsgruppen von Geschäftsleitungen über Kantone bis zu den ODA sind ausgefüllt und versandt, die letzten Dispensationsgesuche bearbeitet, die Tests korrigiert, die nächste Ausgabe der Schulzeitung liegt beim Grafiker. Ich kann also eine Lesewoche einlegen und freue mich besonders auf zwei Frauen: Amélie Nothomb mit „Eine heitere Wehmut“ über ihre Wiederbegegnung mit Japan und Liliana Corobca mit „Der erste Horizont meines Lebens„, die Geschichte einer Zwölfjährigen, die in Rumänien einen Hof und ihre Brüder hütet, während die Eltern in Italien und Sibirien schuften.
    Schreiben werde ich auch.
    Zum Beispiel alle meine neuen Französischwörter der letzten Monate (gesammelt auf OneNote, Zetteln und Postkarten) ins Reine – à la main. So bleiben sie mir vielleicht besser, und Handschrifttraining ist ohnehin bitter nötig (seit PowerPoint mein Standard im Unterricht ist, blamiere ich mich regelmässig am Flipachart). Une pierre deux coups.
    Und ein paar persönliche Mailings zu den Parlamentswahlen. Seit langer Zeit begleite ich Evi Allemanns politisches Wirken, mit welchem sie in der letzten Legislatur erstaunliche und schöne Erfolge erzielen, aber das Schlimmste – wie wir alle – nicht verhindert konnte. Nun denn, die Sozialdemokratie mit ihren Umwelt- und Bildungsanliegen und ihrem Anspruch auf Offenheit, wird hierzulande stets viel Arbeit machen. Aber da wir überhaupt nicht via Gleichschaltung funktionieren und viel diskutieren, ist es oft emotional und auch ganz lustig. Der harte Kern von Evi Allemanns Wahlteam ist schon ein Dutzend Jahre dabei. Mit gutem Grund.
    Und das, was hier am Ende der Session im Parlament geboten wurde, lädt einfach zum Nachmachen ein. Wunderbar!

    „Alles muss man dir erklären..“


    Ich habe eine Schwäche für Aktionen die aus Kultur Politik machen und am Ende einfach ein unkompliziertes Fest werden. Unter-dem-Pflaster-liegt-der-Strand-Sachen halt.
    History: Wikipediaeintrag
    Original: Die Ärzte, 1993
    Lyrics: Songtext bei genius
    Hashtag: Twitter-News zur #AktionArschloch
    Goldiesversion: Bei Frau Kaltmamsell am 10. September

    Vier Stunden Merkel

    Der Besuch von Angela Merkel hat Bern gut getan. Ich wusste bis zu diesem Moment gar nicht, dass sie hier so grossen Respekt geniesst. Aber die letzten Tage waren Menschen und Zeitungen des Lobes voll für die Bundeskanzlerin. Das Spröde, sehr Sachliche, das ihr beispielsweise DER SPIEGEL immer ankreidet, gefiel hier allen. Ob an der Uni oder im Kontakt mit Schaulustigen in der Altstadt: Merkel kam gut an. Die Schweiz mag es, wenn jemand den Zeitplan einhält, Tacheles redet und auf die Viersprachigkeit eingeht (was Merkel tat, indem sie sich in Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch für den Ehrendoktor bedankte).
    Auch mich hat Merkels Visite beeindruckt. Sie tritt hochprofessionell auf und wirkt überhaupt nicht so provinziell, wie sie zuweilen in der deutschen Presse geschildert wird. Im Gegenteil. Und sie ist auch rhetorisch besser in der Lage als viele Politiker, auf den Moment zu reagieren. Auf die Frage eines Studenten, wie Europa vor der Islamisierung zu schützen sei, antwortete sie: «Angst ist kein guter Ratgeber. Wir sollten besser den Mut haben, uns wieder stärker mit den eigenen christlichen Wurzeln zu befassen.» Und am Ende der Runde bat sie darum, dass doch bitte noch eine Frau eine Frage stellen möge.
    Hier, wo ja viele Menschen aus Deutschland leben, die sich je nach Stimmung im Lande einiges gefallen lassen müssen, hat die Bundeskanzlerin in kurzer Zeit viel unwegsames Terrain geebnet.

    Wer werden sie?

    Wer werden sie alle dereinst sein?
    Mein Lehrling? Mein Taxifahrer? Mein Altenpfleger? Mein Arzt? Meine Reinigungsfrau? Meine Schwiegertochter? (Die eher nicht. Ich sehe wenig Frauen. Ich weiss nicht, ob sie weniger vorkommen oder weniger im Bild sind.)
    Mein Schwager ist einer aus einer solchen Phase der Zuwanderung. Und meine Grossmutter galt auch als eine von denen – in der Schweiz geboren zwar, aber als Kind verdingt, eine von vielen, eine, die zu viel war.
    Es ist leider so, dass die Wahrnehmung des Gegenübers als Individuum Entwicklungen wie Wohlstand und den Willen zu reflektieren, voraussetzt. Es ist uns Menschen nicht gegeben, die Neuen, Unbekannten als willkommene Ergänzung wahrzunehmen, denen wir von Anfang an ohne Misstrauen, ja, sogar auf Augenhöhe begegnen. Die Begegnung bleibt Mühsal auf beiden Seiten, es helfen nur Zeit und Erfahrung.
    Das Engagement gegen das Sterben und für Nahrung und Schutz der Flüchtenden ist unabdingbar, doch das Bewusstsein für die Langwierigkeit der Auseinandersetzung ist genauso wichtig. Ich sass schon zu viel Zeit meines Lebens in Sitzungen, Kommissionen und Gremien, in denen schlicht keine sachliche Diskussion über Integration möglich war, weil zwischen dem Flüchtlingsstrom und der Klassengrösse kein Zusammenhang hergestellt wurde. Nicht Jahre, sondern Jahrzehnte! Jahrzehnte Streit über die Verwendung der Schriftsprache in Grundschulen. Wenn wir andere Kulturen hier integrieren, müssen wir unsere reduzieren. Und zwar auf das, was uns wirklich wichtig ist, auf das, was wir niemals kampflos aufgeben: Unseren Rechtsstaat, unsere Verfassung. Aber wir können vielleicht nicht die Kalenderblattschweiz mit so vielen Dialekten wie Kindergärten bleiben, wenn Menschen hier Deutsch lernen und mitarbeiten sollen.
    Ich schreibe nicht weiter, das Thema ist mir unerträglich, auch wenn es in der Regel keine Toten gibt deswegen. Es sind bloss zwei, drei Generationen mit vielen tausend Menschen ohne Sprache, in der sie sich mündlich und schriftlich ausdrücken können, in der sie sich sicher fühlen. Natürlich, wir lernen sie ein Handwerk oder auch zwei oder drei, wir sind zu Recht stolz auf unsere tiefe Arbeitslosigkeit, gerade bei Migrantinnen und Migranten. Fast alle haben ein Auskommen und das ist gut. Aber das Schweigen, das Verharren in der anderen Welt, das ist schlecht.
    Ich habe Hoffnung, dass dank Schock, Koordination und Politik weniger Menschen in Europa oder an dessen Aussengrenze ertrinken und ersticken werden. Aber sonst bin ich gerade sehr ernüchtert. Wütend. Traurig. Und habe zu viele Déjà-Vus.