Von Trennwänden

Herr Raus Trennwände haben mir zu denken gegeben. Erfolgskontrollen sind ja auch Erfolgsprognosen. Sie sagen: „Wenn Sie so weitermachen, sollten Sie bei Ihrer Abschlussprüfung diese Note bekommen.“ Ich sehe Tests als Qualitätsmerkmal meines Unterrichts.
Im Fach „Betriebs- und Verkaufskunde“ kann ich offene Fragen stellen und eine Antwort bezogen auf die Lehrfirma fordern, was Abschreiben obsolet macht. Dafür muss ich aber die Lehr-Orte kennen, auch diesen Anspruch habe ich an mich. Ich mache Tests zwar ähnlich, aber immer neu und teile manchmal auch in einer Klasse verschiedene Tests aus. Die Lernenden wissen, dass sie damit rechnen müssen. Und ich stelle Fragen, für die man „sattelfest“ sein muss.
Da die lange Debatte um die Buchpreisbindung das Interesse neuer Personenkreise an unserer Branche weckt, nehme ich doch zur Veranschaulichung ein paar Beispiele aus dem Unterrichtsstoff „Preisbindung in der Schweiz“.
Der Sammelrevers ist ein Vertrag, der die Preisbindung in der Schweiz regelt, während Deutschland und Österreich je ein Gesetz ziemlich ähnlichen Inhalts kennen. Diese Vereinbarungen haben eine Geschichte, die viel älter ist als das, was die Wirtschaft heute umtreibt. Das Ergebnis ist bis dato der effizienteste und vielfältigste Buchmarkt der Welt: der deutschsprachige.
Der Sammelrevers ist zwar kaum zwei Seiten lang, jedoch in einer für die Lernenden schwer verständlichen Sprache abgefasst. Deshalb gebe ich ihnen den Auftrag, die einzelnen Abschnitte in Gruppenarbeiten zu vereinfachen und sie mit Beispielen aus ihrem Berufsalltag zu ergänzen. Im besten Fall sehen die Ergebnisse so aus:

  • Nach Sammelrevers können Buchhandlungen Bibliotheken 5% Rabatt auf dem gebunden Preis gewähren – sofern diese öffentlich zugänglich sind. Im Alltag bedeutet das, dass die LibRomania der Stadt- und Universitätsbibliothek 5% Rabatt auf der neuen Isabel Allende gewährt, aber nicht dem Romanistik-Professor, obwohl der eine beeindruckende Privatbibliothek hat.
  • Nach Sammelrevers können Autoren die Bücher des Verlages, in dem ihr Werk erscheint, mit unbegrenzt viel Rabatt beziehen, sofern sie für den Eigenbedarf sind. Im Alltag bedeutet das, dass Lukas Hartmann, wollte er das neue Buch von André Glucksmann verschenken, dieses zum Selbstkostenpreis kaufen könnte.
  • Im Sammelrevers sind Mengenrabatte festgelegt: Ab 10 Stück des gleichen Titels 5% Rabatt, ab 20 Stück 10%, ab 50 Stück 12.5%. Im Alltag bedeutet das, dass der Chinderbuechlade einer Lehrerin, die mit ihren 24 Lernenden Oliver Twist lesen möchte, 10% Rabatt auf dem gebundenen Preis gewähren kann.
  • Meine Testfragen wären beispielsweise:

  • Ein Oberstufenlehrer möchte eine Wirtschaftsgeschichte für seine Schulstufe. Sie empfehlen: Geschichte der Wirtschaft im Beltz Verlag. Der Lehrer ist sehr zufrieden und bestellt 20 Exemplare des Titels. 19 für die Klasse, eines für die Schulbibliothek. Welchen Nachlass können Sie gewähren?
  • Ein Autor hat eine grosse Bibliothek, die aber nicht öffentlich zugänglich ist. Darf er die Bücher aus „seinem“ Verlag mit Rabatt beziehen?
  • Meine Erfahrung ist, dass die „Sattelfesten“ das locker lösen und die Unsicheren im Zweifel bleiben, egal wie sehr sie links und rechts schielen. Trennwände möchte ich lieber nicht, denn die verstellten ja auch mir den Blick aufs Ganze.

    Heine, der meine

    Vor 15 Jahren war ich mitten in der Vorbereitungen für meine Lehrabschlussprüfung. Gerade habe ich überlegt, was ich damals wusste über das, worüber ich heute Bescheid wissen muss.
    Ich wusste, wann Mozart Geburtstag hatte, das war schon in der Steiner-Schule wichig gewesen. Und ich kannte die Hamas dem Namen nach, sie machte damals als terroristische Bewegung Schlagzeilen, die den Judenmord propagierte und Israel das Existenzrecht absprach. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, von Johannes Raus Existenz hatte ich keine Ahnung, aber später habe ich ihn als Bundespräsident sehr geschätzt. Den internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust konnte ich gar nicht kennen, denn der wurde erst letztes Jahr von der UNO erklärt, nachdem Raus Vorgänger Herzog diesen Tag im Jahre 1996 in Deutschland eingeführt hatte.
    Auch wenn 1991 vieles anders war, haben sich meine Interessen seither nicht sehr verändert. Ja, selbst die Lehrabschlussprüfungen beschäftigen mich in dieser Zeit, und ich habe nicht vergessen, wie es ist, sich davor und vor der nachträglichen Stellensuche zu fürchten.
    Ich hatte damals exakt nach Vorgabe und pünktlich meine Prüfungsthemen für „Kulturkunde“ eingereicht. Mein Lehrer fand, ich müsste bei meinem letzten Thema – „Jüdische Lyrik im Exil“ – zwei Schwerpunkte setzen. Erstens auf „Die schlesischen Weber“ von Heinrich Heine und zweitens auf „Hoere Teutschland“ von Mascha Kaléko. Und weil er Zweiteres in keinem Buch hatte, musste ich das Gedicht heraussuchen, für ihn abtippen und ihm zusenden. Das waren noch Zeiten.
    Dass ich Heine verehre, seit ich ihn kenne, bringt mich dieses Jahr in der Schule wie der Blogosphäre in die Bredouille. Es sind so viele Veranstaltungen, Ausstellungen, Aufführungen, es erscheinen Biografien und Sonderausgaben und allüberall Expertenmeinungen. Unmöglich, etwas Neues zu sagen. Denn Redundanz ist meine Sache nicht.
    Doch als Leserin habe ich ein Verhältnis zum Buch und seinem Autoren. Und wenn es wirklich gut ist, bin ich auch noch eine Figur darin, mir kann das sogar bei Sachbüchern passieren. Und das macht die Beziehung zu einem grossartigen Werk wie dem Heines zur Intimität. Meinen schon fast körperlichen Schmerz darüber, dass der „Rabbi von Bacherach“ ein Fragment geblieben ist und „der Schluss und die folgenden Kapitel ohne Verschulden des Autors verlorengegangen [sind]“, wie es in meiner DDR-Ausgabe heisst, kann niemand sonst ermessen. Wie ich ihn heute Nacht, wie ich ihn gestern und wie ich ihn vor 15 Jahren gelesen habe, ist anders.
    Meine Bücherregale biegen sich und ich veneige mich vor Heine.
    Deshalb will ich auf meine Kernkompetenz besinnen und meinen Helden, den Kecken, den Gnadenlosen, den Reimer, den Journalisten, den Prognostiker, den Fallensteller, regelmässig empfehlen. Dies in der Überzeugung, dass es der persönliche Weg ist, der uns Leser über das Jubiläumsjahr hinaus weiter führt zu einem Dichter, ohne den ich eine andere wäre.

    Zum Blödesten…

    …gehört der Herbstschulbeginn. Ich will ihn nicht rückgängig machen, auch mir ist klar, dass wir uns anpassen mussten.
    Es sind nicht nur die fallenden Blätter, die den Start ins neue Schuljahr begleiten, die mich stören. Es ist auch das deplazierte Semester-Ende, das in der Folge zwischen Weihnachten und einer kargen Sportwoche Anfang Februar zu liegen kommt, nur damit das neue Semester dann immer noch im tiefen Winter beginnen kann.
    Jedenfalls verbringe ich meine Zeit mit dem Erstellen von Nachholtests (bei denen mich die Nachholenden dann in 60% der Fälle doch versetzen), mit dem Aushandeln von neuen Terminen für Referate und mit dem Abziehen von Punkten, weil sie schliesslich immer noch zu spät gehalten werden. Daneben überquillt die Mailbox von Anweisungen zur Notenabgabe und Absenzenkontrolle. Es dauert nicht mehr lange, so kommen schon die Befehle, wann wie und wo die Fragen für die Lehrabschlussprüfungen erstellt und deponiert werden müssen. Auch dafür stehen keine „Ferien“, die unter Lehrpersonen „unterrichtsfreie Zeit“ heissen, zur Verfügung, denn der Abgabetermin liegt vor Ostern.
    Ich bin ziemlich belastbar, aber in diesen Wochen platzt mein Kopf und ich muss viel Echinaforce spicken, um nicht krank zu werden und meinen Aspirin500-Vorrat griffbereit in der Jeans haben.
    Gut, dass es so viele Bloggerinnen und Blogger gibt, die die Themen, die mich interessieren, auch beackern. Lanu hat nach ihrem einfachen Neustart nun wieder eine richtige BooCompany auf die Beine gestellt und gute Presse dafür bekommen, gratuliere! Der eDemokrat will wie ich mehr Demokratie in Europa. Die Kaltmamsell hat nicht nur Solutions für den Pain Factor „Korrigieren“, sondern auch eine schöne Buchbesprechung (die Kommentare dazu sind ebenfalls sehr lesenswert), während Herr Rau den Austausch zwischen den Lernenden fördert, was ich für eine der wichtigsten neuen Lernformen halte.
    Schlecht hingegen, dass sich meine Befürchtungen in anderer Sache so schnell bewahrheiten. Egal wie offensichtlich die Fehler sind, wir leben in einer Spargesellschaft, die ihren Mangel an Sachverstand und Effizienz einfach nicht zu überwinden weiss. Für den Hinweis danke ich Marian Wirth, der mich immer wieder mit Informationen aus der EU, zu der ich bekanntlich nicht gehöre, beliefert.

    Engagierte Vermutungen

    Ich verfolge eher fasziniert als schockiert, wie Menschen, die die Welt um sich herum verbessern möchten, der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Noch sind es weniger einzelne, die schlecht gemacht werden, viel mehr sind es Wörter und Wendungen, die den persönlichen Einsatz als solchen zum Witz stempeln.
    Wir haben diese Mode willig aus Deutschland importiert. Ich möchte mich nicht zu lange mit den Gründen aufhalten, doch sogar ich habe verstanden, dass unter anderem Verblendung dazu geführt hat. Zusammenleben klappt nicht einfach von selber und diese Tatsache zu ignorieren, hat sich noch nie als besonders weitsichtig erwiesen.
    Wie treue Mitlesende wissen, rede ich Probleme nicht schön. Aber ich mag es auch nicht zu kompliziert machen und wiederhole oft das selbe: Die Qualität unserer Volksschulen ist ungenügend (sowohl Deutschland wie die Schweiz haben sich ihren PISA-Schock redlich verdient) und die Anpassung von Migrantinnen und Migranten an unsere Regeln ist eine Bedingung, auch wenn die Bewertung des Integrationsniveaus eine Herausforderung ist.
    Mit Aufkommen der „Political Correctness“ konnte sich Lorbeeren holen, wer gerade diese beiden Problemfelder durch die rosarote Brille betrachtete und sich über einen Schritt nach vorne freute, auch wenn’s zwei zurückging. Logisch und richtig, dass die Reaktion darauf nicht ausblieb, nur leider fand sie kaum auf das politische Parkett, welches sich Leute teilten, die soziale Gerechtigkeit entweder gar nicht in ihrem Wortschatz oder eben in Form der rosaroten Brille auf hatten. So brach sich die Pauschalpolemik erfolgreich Bahn. Unterstützt von der „Abgrenzung“, der von Büchern und Therapien empfohlenen Abkehr vom „Helfer-Syndrom“ und dem Wunsch nach Befreiung (von Parteienmief und Vereinsmeierei), avancierten die beiden absolut positiv besetzten Wörter „gut“ und „Mensch“ in Kombination zum Schimpfwort.
    Ich hörte „Gutmensch“ erstmals von Eike Gramss, es muss Anfang der Neunzigerjahre gewesen sein. Er war noch nicht lange Intendant in Bern, als er die Bezeichnung in der Buchhandlung benutzte, nebenbei zwar, aber eindeutig negativ. Ich erinnere mich noch, dass ich mich gefragt habe, warum er nicht den guten alten „Weltverbesserer“ bemüht?
    Mir fallen neue Wörter schnell auf. Gerade wenn sie von den an Eloquenz überlegenen Deutschen kommen, beobachte ich gerne ihren Weg in unsere Münder. Beim „Gutmenschen“ hat es gedauert. Aber dafür war er effizient genug, die „Multikultur“ zu integrieren.
    Mein neustes Beispiel kommt aus dem „notebook“, einer Beilage zu der von mir sehr geschätzen und abonnierten Zeitschrift „kult“. „notebook“ funktioniert wie ein Offline-Gemeinschaftsblog, in dem verschiedene Leute sich zum Tage äussern. Ende Monat wird das dann als Rückblick gedruckt. Auflage 30’000 Exemplare, was für unsere Verhältnisse ganz ordentlich ist. Urs Meier schreibt in „notebook 3“:

    Kindererziehung im Iran: Heute habe ich den schlimmsten Bericht seit meiner Geburt per Presse-Fotodoku zur Kenntnis nehmen müssen: Im Iran wird ein achtjähriger Junge auf den Boden gezwungen, muss seinen Arm ausstrecken, um ihn von einem Auto überfahren zu lassen. Ein Mann mit Mikrofon kündigt die Folter dem gnädigen Publikum an. Der Junge hat blanke Angst in den Augen, schreit vor Schmerz, der Wagen fährt über seinen Arm, hält an… An alle Multikulti-Gutmenschen: Nein, versucht’s gar nicht. Mir zu erklären, mich zu beschwichtigen. Könnte ja sein, dass das so sein müsse… (…)

    Meine Vermutung ist nun, dass das nächste Wort, das ins Gegenteil verkehrt wird, „Engagement“ sein wird. Engagierte Menschen werden die Neogutmenschen des Jahrzehnts werden! Und Henryk Broder war schon mal so nett, mich zu bestätigen. Bei seiner Filmbesprechung „Der ewige Gute“ hat er seine Pointe extra dafür richtig weit hergeholt:

    Nun muss mit dem Schlimmsten gerechnet werden – dass der Film tatsächlich in den Schulen gezeigt wird, als Ersatz für den Sozialkundeunterricht. Denn es gibt nur eines, das schlimmer ist als engagierte Filmemacher: engagierte Lehrer.

    Eigentlich verstehe ich mich nicht schlecht darauf, mit dem Lehrerbashing in der Presse umzugehen, als Buchhändlerin und Gutmensch habe ich ja schon ein wenig Übung. Hätte ich jedes Mal einen Buchstaben aus meiner Tastatur gebissen, wenn einer „die Lehrer sollen ihre Hausaufgaben machen“ krakeelte, hätt‘ ic l¨ngst k in Buc st b n m r.
    Manchmal gelingt mir die Trasformation, ich verblogge den Mist und es gibt mehr Buchstaben anstatt weniger. Ätsch.

    Genbaku

    HADASHI NO GEN
    Gen: Wurzel, Quelle, Ursprung
    Genbaku: Atombombe
    Genki: voller Leben

    Ich gab meinem Hauptcharakter den Namen Gen in der Hoffnung, dass er eine Wurzel und Quelle der Kraft für eine neue Generation der Menschheit sein kann – einer Generation, die die verbrannte Erde von Hiroshima barfuß betreten, die Erde unter den nackten Füßen spüren kann und die Kraft hat, „Nein“ zu sagen zu nuklearen Waffen. Ich selbst versuche mit Gens Stärke zu leben – das ist mein Ideal und ich werde dies in meiner Arbeit weiter fortführen.

    Das sagt Keiji Nakazawa im ersten Band seiner Reihe: „Barfuss durch Hiroshima“. Das Vorwort zur Neuauflage von 2004 hat Art Spiegelman geschrieben, der Autor und Zeichner von Maus I und II.
    Schliesst sich der Kreis? Braucht diese Welt noch einen A-Bombenabwurf? Sind wir alle zusammen reingefallen? In eine riesige Gedächtnislücke?
    Chirac hat bestimmt das obligate Regal mit Bandes Dessinés zuhause, wie jeder andere Franzose auch. Aber er hat sie wohl nicht gelesen, die komprimierten Fehler des 20. Jahrhunderts, wie sie Nakazawa und Spiegelman aufgezeichnet haben. Und Ahmadinedschad würde Comics, hätte er welche, betend dem Feuer übergeben. Dringend filmen lassen wollen sich alle beide. Die Staatsmänner des neuen Jahrhundertshunderts feilen an einer passenden Rhetorik: Ignoranz und Provokation.
    Was sind wir für eine Menschheit.

    Argumente für einen Unterschriftenbogen

  • Weil die Anzahl der Asylgesuche mit Schengen/Dublin weiter abnimmt,
  • weil Menschenrechte eine Errungenschaft sind, für die viel Blut geflossen ist,
  • weil ich mit dem Wegwerfen von Menschenrechten den Einsatz aller, von der französischen Revolutionärin bis zur Hebamme im Sudan, negieren würde,
  • weil ich will, dass wir uns in diesem Land damit befassen, wie wir die vorhandenen Gesetze umsetzen, anstatt neue aus dem Boden zu stampfen,
  • weil Europa sich einen Wettbewerb um die miesesten Bedingungen für Migrierende liefert und ich diesen nicht auch noch national austragen lassen will,
  • weil der, dessen Namen nicht hier ergoogelt werden soll, seit Jahren widersprüchliche und schwammige Angaben über seine Datenerhebungen macht und mir das Vertrauen in sein Departement fehlt,
  • weil wir mit solcher Politik noch nie Geld und Kraft gespart, geschweige denn langfristig Ansehen errungen haben,
  • weil eine unmenschliche, willkürliche Politik jeden treffen kann und mit dem Kratzen an Menschenrechten das eigene Volk schützen zu wollen, paradox ist,
  • weil Multikultur nicht nur eine Krücke ist, die mit Vorliebe den „Gutmenschen“ unterstellt wird, sondern ein Begriff, der unseren Alltag beschreibt, sofern wir uns nicht Augen, Ohren und Mund zuhalten,
  • weil Menschenrechte keine Gabe sind, sondern eine Aufgabe wider die Barbarei, die mit Vorliebe im Kleinen beginnt.
  • Deshalb sammle ich Unterschriften.
    Schnapp dir einen Unterschriftenbogen!
    Für ihr Engagement und ihre Grafik danke ich Esther.

    Suisse miniature

    Ende des letzten Jahres korrespondierte ich mit einem Politwahlverwandten aus Deutschland. Wir haben uns über den Liberalismus-Trend in deutschsprachigen Blogs unterhalten:
    Deutscher:

    Ich habe in den deutschen Blogs noch keinen Liberalen gefunden, der versucht hätte, mich zu sich herüberzuziehen. Im Gegenteil: SPD=Sozialismus=Kommunismus=Maoismus. Ende der Diskussion.

    Schweizerin:

    Das ist in der Schweiz offenbar ganz anders, aber innerhalb wie ausserhalb der Blogosphäre. Es liegt wohl an den Abstimmungen, die gewonnen werden wollen.

    Deutscher:

    Na, DAS nenne ich mal einen interessanten Unterschied! Muss ich mir unbedingt merken, falls ich mal wieder mit einem Genossen aneinander gerate, weil der meint, unsere repräsentative Demokratie biete ausreichende Möglichkeiten für das Wahlvolk, sich zu beteiligen! (Gerade auf EU-Ebene halte ich die deutsche repräsentative Demokratie für eine Katastrophe. Es kann doch nicht sein, dass in einigen Ländern über jede EU-Vertragsänderung abgestimmt wird – und bei uns kungeln das die drei oder vier massgeblichen Fraktionsvorsitzenden untereinander aus und im Bundestag wird’s durchgewunken…)

    Dabei haben wir gemerkt, dass wir gegenseitig wenig Konkretes über die Mitsprachemöglichkeiten im anderen Land wissen. Darum erkläre ich den Einfluss des Schweizer Stimmvolkes nachfolgend superkurz, ohne Politologie und ohne viele Links. Einfach frisch von der Leber weg und an drei Beispielen. Mein Hirn ist meine Quelle:

  • Wenn wir in der Schweiz etwas wollen, können wir eine „Initiative“ ergreifen. Das bedeutet, dass jemand ein Initiativkommitee gründen, einen Initiativtext verfassen und 100’000 Unterschriften von Stimmberechtigten zusammenkriegen muss. Über den Abstimmungstermin entscheidet – glaub ich immer – der Bundesrat. Bei einer Initiative kommt der Anstoss stets aus dem Volk. Eine Initiative, die weltweit bekannt wurde, war die „Für eine Schweiz ohne Armee“. Sie wurde von einem Drittel der Abstimmenden gut geheissen und leitete eine umfangreiche Armeereform ein. Dies, obwohl sie haushoch abgelehnt worden war. Man merke: Es ist nicht wie bei der Fussball-WM: Auch die Zustimmung für die Unterlegenen kann sich rechnen.
  • Natürlich gibt hauptsächlich das Parlament den Anstoss für Veränderung. Zum Beispiel für den UNO-Beitritt oder für bilaterale Verträge mit der EU. Solche Entscheide müssen bei uns zusätzlich noch vors Volk, egal wie einverstanden auch alle sein mögen. Das nennen wir „obligatorisches Referendum“ und dafür muss niemand Unterschriften sammeln. Man merke: „Referendum“ steht nicht für Ja oder Nein, sondern heisst einfach, dass ein Volksentscheid an der Urne gefordert wird.
  • Bundesrat und Parlament verändern auch ohne Volkes Segen. Hier ist das „fakultative Referendum“ ein Druckmittel der Bürgerinnen und Bürger. Schon ein von grösseren Gruppen „angedrohtes“ Referendum kann das Parlament zu Korrekturen veranlassen und zum Beispiel eine Gesetzesänderung dank Kompromissen mehrheitsfähig machen. Dieser Weg der Enscheidungsfindung verlangsamt Veränderungen, im Moment gut zu beobachten an der Debatte um den Verkauf der Swisscom. Das freut die einen und enerviert die anderen. Im nächsten Fall ist es dann umgekehrt. Gelingt kein Kompromiss, wird das Referendum ergriffen, indem verschiedene Interessegruppen innerhalb einer bestimmten Frist 50’000 Unterschriften sammeln. Man merke: „Referendum“ steht immer noch nicht für Ja oder Nein, sondern für „Das muss vors Volk“. Aber die Motivation fürs Unterschriftensammeln kommt von denen, die nicht einverstanden sind.
  • Volks- und Ständemehr unterscheid ignoriere ich vorerst und darum war’s das. Abläufe und Agenden sind immer neutral und verlässlich auf parlament.ch deponiert.
    Warum ich selber gerade Unterschriften sammle, begründe ich im nächsten Eintrag. Heilige Lehrerinnenpflicht, hin und wieder ein Länzchen für die „Realpolitik“ zu brechen.

    Vielf(h)alt?

    Im Westen Berns, wo ich aufgewachsen bin und wohne, gibt es den Plan, ein „Haus der Religionen“ zu schaffen.
    Ich war schon an verschiedenen Aktionstagen und Informationsveranstaltungen und habe heute eine kleine Ausstellung in einem Quartierzentrum zum Thema besucht. In diesem auch architektonisch wohl durchdachten „Haus der Religionen“, sollen die bekannten Glaubensrichtungen wie auch religiöse Bräuche von Minderheiten Platz finden.
    Die Einteilung ist so vorgesehen:

  • Öffentlicher Raum als Ort der Begegnung, verschiedene Nutzung auch des Umschwungs.
  • Gemeinsamer Bereich mit gemeinsamem Programm. Daraus entstünde im Idealfall die multikulturelle Agenda fast von selber.
  • Eigenverantwortlicher Bereich pro Religion mit Privatsphäre.
  • Zusatznutzung mit Läden, Bistros, Kindertagesstätten, Galerien.
  • Die „Spielregeln“ sollen in einem von allen Beteiligten gemeinsam ausgearbeiteten Dokument – der Charta des Hauses – festgehalten werden.
    Das politische Echo ist wohlwollend, aber natürlich nicht existenzsichernd. Deshalb bleibt der Plan vorläufig ein solcher und deshalb sucht der Trägerverein Mitglieder.
    An der heutigen Ausstellung trat eine langjährige Nachbarin und Betreuerin des Quartier-Tea-Rooms zu mir, um mich nach meiner Meinung zu fragen (übrigens eine Ehre). Ich antwortete, dass es ein sehr ambitiöses Projekt sei. Schön wenn’s gelänge, aber mein Optimismus halte sich in Grenzen. Wir blieben im Gespräch, mein Tee wurde kälter, mein Heimweg auch. Sie erzählte von der Gruppe Afrikaner, die letzten Freitag das Tea-Room zur Schliessungszeit nicht verlassen wollte; von ihrer Hilflosigkeit, als diese ihr Rassismus vorwarfen, als sie eine halbe Stunde nach Ladenschluss keine Sandwichs mehr machen wollte. Das ist kein Einzelfall, das passiert mir häufig, dass „Rassismus“ die Antwort ist, wenn ich Menschen auf Regeln hinweise, ganz egal wie freundlich ich bleibe.
    Ich will es nicht verallgemeinern. Doch hier in meinem Umfeld hat der Rassismus von Schweizern und Ausländern hauptsächlich eine Ursache: dass es weder Schulen, noch Quartierzentren, noch Einzelpersonen gelingt, die vorhandenen Regeln durchzusetzen. Wir hätten gute Abmachungen für das Zusammenleben, unsere Gesetze sind transparent und auf demokratischem Wege auch veränderbar. Selbst die alltäglichen Sitten wie Türe aufhalten oder nicht auf den Boden spucken, sind in nützlicher Frist begreifbar. Im privaten Bereich hat man seine Ruhe (finden bekanntlich auch Boris Becker und Michael Schumacher). Die Verletzung der Regeln unseres Zusammenlebens ist hier die fleissigste Zuträgerin für Rassismus.
    Und was hat das mit dem „Haus der Relgionen“ zu tun? Neben der Tatsache, dass mir persönlich ein starker Staat immer lieber ist als ein starker Glaube, brauchen wir in diesem Quartier Hilfe und Mittel, die vorhandenen Regeln plausibel zu machen und durchzusetzen.
    Kann uns ein „Haus der Religionen“ mit der x-ten Charta auf diesem Erdenrund dabei weiterbringen? Meine Bedenken sind, dass wir – nach zähem Ringen und mit von Kompromissen blutendem Herzen – zwar eine Charta haben werden, aber immer noch nicht den Mut, sie durchzusetzen.
    Meine Zuversicht kommt weder von Gott noch vom Verein „Haus der Religionen“, sondern gründet auf dem Ausspruch einer Freundin. Sie möchte ihren Kindern und Nichten eine katholische Heirat sichern und hält die Schweiz für ein schlechtes Terrain:

    Du kannst hier nie wissen in diese kleine Land! Was willst du machen als gute Eltern in enge Schweiz? Sie brauchen sich nur einmal umdrehen, schon stehen sie jemand mit andere Glaube gegenüber! Oder mit gar keine!