Manchmal werde ich gefragt, weshalb ich nicht mehr blogge oder nicht öfter blogge. Der Hauptgrund könnte kaum banaler sein: Ich muss früher aufstehen. Das heisst, die Nacht gehört mir nicht mehr. Obwohl ich ihre grösste Freundin bin, werfe ich sie seit zwei Jahren weg für nichts Besseres als Schlafen. Hinzu kommt, dass ich – zumindest in der Deutschschweiz – in der Öffentlichkeit stehe und genauer bedenke, was ich sage und schreibe. Zwar höre ich oft, die öffentlich-rechtlichen Medien konsumiere niemand mehr, doch surrt mein Handy nach einem Auftritt und die Profilaufrufe schnellen in die Höhe. Bin ich nur zu hören zwar weniger, aber von „unbefangenen Äusserungen“ bin ich weit entfernt. Auf den üblichen Social-Media-Kanälen fällt es mir einfacher, für eine bestimmte Zeit eine bestimmte Rolle einzunehmen als hier in diesem textlastigen Format. Die Story-und-Statusmeldung-Möglichkeiten erlauben es mir, gegenüber Menschen, die da auch Accounts betreiben und die ich viel zu wenig sehe, etwas Persönliches preiszugeben. Und insbesondere, Kommentare zu hinterlassen. Ich bemühe mich sehr, dies wertschätzend und nicht urteilend zu tun und mich nie zu äussern, ohne mir ihren Beitrag wirklich zu Herzen genommen zu haben. Das habe ich vom Internet gelernt: Kommunikation widerspiegelt Haltung. Ich muss mich ja verhalten gegenüber denen, die ich dank dieser unfassbaren Technologie so schnell in meine Nähe hole. Ich bewundere insbesondere die Frauen aus dem Irak für ihre Disziplin, diesen virtuellen Ort zu nutzen und verfügbar zu halten. Wie sie zwischen den Sprachen und Schriften wechseln, einander dann doch nicht verstehen, weil ihre Perspektiven in der Diaspora und im Land selbst ganz verschieden sind. Sie werden nicht müde, sich Kommentar für Kommentar heranzutasten aneinander und sind mir Vorbild.
Autor: Tanja
Nikolaustag 2022
Es ist gut, Teil dieser auf ewig unfertigen Welt zu sein. Habt Dank ihr vielen, die sie mir so lebenswert machen.
Normalerweise ziehe ich Bilanz an einem Geburtstag. Was ich schreibe, lese, wo ich auftrete, zitiert werde, die Auskünfte, die ich gebe, die Angriffe, die ich pariere oder einfach akzeptiere, die Komplimente und Kritik, die ich dankbar annehme – ich notiere und zähle sie nicht mehr. Ich lerne in der Gegenwart und hoffentlich für die Zukunft. Wenn ich diese ungeschminkten Winterselfies anschaue, fällt mir Lukas Bärfuss – Buchhändler, Dramatiker, Autor mit Ehrendoktorwürden – ein, der neulich bemerkt hat, sogar seine Zahnstellung zeuge von seiner Herkunft, aber wenn wir uns alle darauf beschränken liessen, werde der Freiheitsbegriff absurd. Dass wir hier die Freiheit haben, uns herauszuschälen aus dem, worauf wir reduziert werden und wie wir sie gebrauchen, beschäftigt mich ein Leben lang. Besonders im Austausch mit all jenen, die ungleich grössere Nachteile zu überwinden haben. Es ist gut, Teil dieser auf ewig unfertigen Welt zu sein. Habt Dank ihr vielen, die sie mir so lebenswert machen. Nikolaus von Myra war der Protagonist meines ersten Kinderbuches und stets ein treuer Begleiter; dass sein Gedenktag und mein Geburtstag zusammenfallen, ist mir Freude und Ehre.
55. Seite
Lektüre: Ein Loewe-Silbengeschichtenbuch
Gelesen am 12. November 2021 in 3027 Bern, abwechselnd von meiner Nichte und der Freundin ihres Cousins, meines Sohnes. Was für ein Glück wir haben.
Mein Lesen 2021
Jeder entworfene Blogbeitrag wird von der Ralität überholt, nur dieser nicht: Mein Gelesenes, Gehörtes und Gesehenes erweist sich als beständig. Ich merke, wie sehr russische Autorinnen meine Lesebiografie prägen. Ihre Schreiben baut mich auf und härtet mich gleichzeitig ab. Ob Roman, Reportage, Brief oder Gedicht: Für mich sind alles Formen von Erinnerungsprosa, eine Art kollektives Gedächtnis. Sicher gehören sie auch zu jenen, die mir näher gehen, weil sie hervorragend übersetzt werden. Seit jeher gelingt es begnadeten Sprachmenschen, Russisches ins Deutsche nachzudichten.
Seit ich in meiner Lehrzeit Anna Achmatova und Marina Zwetajewa entdeckt habe, sind sie an meiner Seite geblieben, ebenso Autorinnen wie Nadescha Mandelstam, Swetlana Alexijewitsch und Anna Politkowskaja. Weiter gab es viel Grossartiges, Erhellendes, was ich im letzten Jahr immer wieder zur Hand genommen, gelesen, gehört, angeschaut habe:
Roman: Martina Clavadetscher, Die Erfindung des Ungehorsams
Meine unvergesslicher Lese- und Entdeckungsreise 2021.
Sachbuch: Franziska Schutzbach, Die Erschöpfung der Frauen
Worüber wir uns klar werden müssen, bevor wir weiter kommen.
Biographie: Ursula Weidenfeld, Die Kanzlerin
Entscheiden, Zaudern und Wagen: Ein Erfahrungsschatz.
Lyrik: Andrea Maria Keller (1967-2021), Mäanderland
Lyrik, mit der ich mich wieder und wieder treffen will.
Erzählung: Christine Lavant, Das Wechselbälgchen
Es waren einzelne Wörter, die mich das Büchlein wiederholt lesen liessen.
Video: The Carters, Apeshit und The Show Must Go On Flashmob
Zwei ganz verschiedene, beeindruckende Auftritte in covidbedingter Leere.
Hörbuch: James Baldwin, Fire Next Time und Irvin D. Yalom, Wie man wird, was man ist
Beide Hörbücher halten mich zur Konzentration und Reflexion an.
Rückbesinnung
Nie im Leben habe ich so intensiv gearbeitet. Doch stimmt das? Die Phase, in der mein Sohn und andere Kinder an meiner Seite aufwuchsen, mein Mann eine eigene Firma hatte und ich selber eine grosse Abteilung in einer Buchhandlung leitete, Lernende in zwei Berufen ausbildete, Chefexpertin für Buchhandelsprüfungen in der halben Schweiz war und ehrenamtlich in zwei Vorständen und beim IKRK in einem Integrationsprojekt, dazu den grössten Teil des Haushalts stemmte und alle sozialen Beziehungen zu pflegen versuchte, brav regelmässig Weiterbildung und Einkäufe mit dem Veloanhänger machte, war objektiv anstrengender.
Vielleicht ist es das Alter, vielleicht die Präsenz, die mich heute herausfordert? Was macht den Unterschied? In der Zeit zwischen den Jahren holte ich die Fotoalben aus der oben beschriebenen Lebensphase hervor und damit erstaunlich präsente innere Bilder.
Wir hatten ein Mobil Home nahe am Meer gemietet und ausnahmsweise auswärts gegessen, um den Kindern einen ausgedehnten Abend im Spielpark in einer nahe gelegenen Stadt zu ermöglichen und Glace in allen Farben zu kaufen. Nun schauten wir hinaus auf die Wellen, während uns ab und zu die Gischt anspritzte. Ich war froh, waren wir gesund und beisammen. Den dreien geht es heute, fast 20 Jahre später, meistens gut. Das jedenfalls liessen sie mich im Dezember auf Nachfrage wissen. Das Mädchen ist Assistenzärztin, sie wird Gynäkologin. Ihr Bruder ist Chemiker und arbeitet auch als solcher, mein Sohn (der Älteste im Bild) hat einen Bachelor in Pflege gemacht, war fast einen Fünftel seines Lebens in der Psychiatrie tätig und studiert jetzt Volkswirtschaft. Die drei machen mir klar, wie wichtig es ist, das Kräftezehrende der Vergangenheit zu vergessen. Auch wenn ich meine Arbeit heute als anspruchsvoller und herausfordernder erlebe denn je, wird es mir in der Retrospekive wohl einfacher vorkommen. Eines hat sich nicht geändert: Ich suche im Moment nicht sein Problem, sondern sein Potential. Dabei habe ich mit dem Alter gelernt, von anderen weniger zu erwarten und mehr zu nehmen, was kommt. Und das ist viel.
Viel Glück.
Ich mag Geburtstage. Sie sind konfessionslos, universell und individuell zugleich. Sie gehören zur Geschichte, zur eigenen ebenso wie zur Familien- und sogar zu einem klitzekleinen Teil zur Menschheitsgeschichte. Das Bild machte meine Mutter kurz nach meinem 13. Geburtstag für meinen Freund, der mich um ein Foto gebeten hatte. Heute schrieb mir mein 13-jähriger Patensohn in einem Brief: „Ich habe einmal über deinen Lebenslauf nachgedacht. Ich habe realisiert, wie viel du schon erreicht hast. Ich bewundere dich. Auch dass du immer topfit bist.“ Das rührt mich und zeigt mir, wie viel Glück ich habe.
Nicht mehr, nicht weniger.
In den ersten Jahrezehnten meines Lebens wurde mir gesagt, als gutes Vorbild solle ich mich stets arbeitssam, ressourcenschonend, hilfsbereit und tolerant verhalten. Auch wenn das je nach Alter und Möglichkeiten etwas variierte, so war es ein Kompass, dessen Himmelsrichtungen ich verstand, weil alle in meinem nahmen Umfeld den gleichen hatten. Als Älteste von 18 Cousins und Cousinen und zahlreichen Pflegekindern bekam ich umgehend Rückmeldung, wenn ich die Kompassnadel aus dem Blick verlor, vielleicht bei der abendlichen Reinigung der Jüngeren zu oft das Badewasser wechselte oder mir in der Küche einen „leeren Gang“ erlaubte. Verschwendung in jeglicher Form war verwerflich, nicht nur in meiner Verwandtschaft, auch im Buchhhandel. Ein optimales Umfeld also, um effizient zu werden. Im Lauf der Zeit erschloss sich mir sogar der Umgang mit Gästen und das Verhalten als Gast, das ich lange als unlogisch empfand. Ich hatte gelernt, dass ich als Gastgeberin dem Gast alles ermögichen und mich auf seine Bedürfnisse einstellen müsse, egal wie wenig nachvollziehbar diese seien. Während ich als Gast angepasst und niemals fordernd sein solle; eher im Gegenteil, verlockende Angebote müsse ich höflichst ablehnen, damit sie dem Gastgeber für den nächsten Gast oder Eigengebrauch erhalten blieben. Dass diese Einstellung das Bewusstsein anderer Kultur gegenüber fördert und dass ihre Missachtung oft genug der Grund für Kriege ist, begriff ich erst vollständig, als ich die Odyssee las.
Aber ich komme vom Hundersten ins Tausendste. Eigentlich wollte ich nur kurz festhalten, dass das bei mir Verinnerlichte in den letzten Jahrzehnten kaum mehr kommunizierbar ist. Mit „vo nüüt chunnt nüüt“ zu argumentieren, wenn du die Extrameile verlangst, wäre schön blöd. Oder zuzugeben, wie oft du abends Zeugs abarbeitest anstatt Patenkindern Geschichten vorzulesen oder ihren Ideen und Instrumenten zu lauschen. Oder dass du keine Hobbys pflegst und auch die Partnerschaft kaum.
Ich kann mich den Gegbenheiten anpassen und dem Lob der wertvollen Phasen der Ruhe ohne die leidige Erreichbarkeit sogar anschliessen, auch wenn ich das so nicht kenne. Was mich in die Bredouille bringt, ist die Tatsache, dass in diesem Agreement urbaner Geselleschaften Dinge, die mir gut gelingen, wirken, als hätte ich Wunder vollbracht. Das ist ein grosses Missverständnis, denn ich habe sie bloss erarbeitet. Teils über viele Jahre, ohne Gewissheit, ob es sich je in einer Weise auszahlen wird und um den Preis, dass ich etwas anderes oder etwas für mich nicht tun konnte, nicht erlebt habe, nie kennen lernen werde. Die Erfolge, an denen ich beteiligt bin, gehen auf Arbeit und Selbstverpflichtung zurück. Nicht mehr, nicht weniger.
Zum Frauenstreiktag
Der 14. Juni 1991 markiert für mich einen ganz wichtigen Schritt für die Frauenbewegung der Schweiz, wohl, weil ich mich so gut erinnern kann. Heute jährt sich dieser erste Frauenstreik zum 30. Mal. Ihm ging organisatorisches und politisches Geschick von gestandenden Kämpferinnen voraus, ebenso der Mut von ganz jungen Frauenbewegten, zu denen ich mich zähle. In den Achtzigern hatten wir die ersten neuen Frauenräume in Jugendzentren geschaffen und uns an Frauenvollversammlungen bis zur Erschöpfung diskutiert. Freundinnen, die eine akademische oder kreative Laufbahn eingeschlagen hatten, sorgten für wahnwitzige Frauendiscos zu Unzeiten, zu denen ich als angehende Buchhändlerin arbeitete oder schlief- wobei ich heute denke, dass das Erzähltbekommen in schillerndsten Farben das Verpasste absolut aufwog. Der Aufruf zum Streik kam von Uhrenarbeiterinnen (mehr zur Geschichte bei memobase, inkl. kontextuelle Einordnung).
Alle, die irgendwie konnten, sprangen also auf, es wurde ein grosses Fest. Ein Wut-Fest, das völlig aus dem schweizer Rahmen fiel, wo man doch 1991 gerade dabei war, 700 Jahre Eingenossenschaft und Rütlischwur zu feiern.
Und heute, was verspreche ich mir von der jährlichen Zäsur durch diesen Aktionstag? Ich habe am Morgen, nach einer Laufrunde im Wald, die meine Wut eher vergrössert denn vermindert hat, versucht, mein Befinden (oder meine Botschaft?) in gut drei Minuten in einem Video zusammenzufassen. Es ist in Dialekt und es ist persönlich und deshalb nirgends gelistet.
Ich danke allen, die sich einsetzen. Trotz Frustration kann ich doch aus Erfahrung sagen, dass dieser Einsatz Fortschritte brachte und auch in Zukunft den Unterschied machen oder immerhin Rückschritte verhindern wird.
Alltagsnotiz
Dass Wetter ist seit Tagen so grau, dass ich mich beim Bügeln über jedes bunte Küchentuch freue. Dabei höre ich „Put A Little Love In Your Heart“ in der Enlosschleife und versuche den Hass, besonders den Antisemitismus, der Teile meiner Bubbles ergriffen hat, wenigstens für kurze Zeit zu vergessen.
In einem Interview zu meinen ersten 100 Tagen als installierte Geschäftsführerin wurde ich gefragt, was sich in meinem Leben verändert habe? Und meine spontane und natürlich unpublizierbare Antwort war, dass es ein recht klösterliches gewoden sei. Ich stehe um 06.00 auf und gehe um 00.00 Uhr ins Bett, sam- und sonntags beginnt mein Tag um 07.00.
Morgens suche ich den Fokus, abends die Reflexion. Morgens News und abends ein Buch.
Im öffentlichen Verkehr arbeite ich, in der Geschäftsstelle kommuniziere ich, und wann immer sich Gelegenheit bietet, lese und höre ich, was andere über eigene und fremde Bücher denken. Oft lerne und erfahre ich dabei Neues, machmal raufe ich mir auch die Haare. Als Luxus empfinde ich ein Gespräch, auf das nicht unmittelbar das nächste folgt. Und eine Mahlzeit, der ich ungeteilte Aufmerksamkeit schenken kann.
Täglich in irgend einer Art in der Öffentlichkeit zu stehen, erfordert Kraft. Der Verband, den ich führe, ist nicht besonders gross, aber er ist reich an Tradition und Einträgen in Archiven und hat einen hohen Organisationsgrad. Entsprechend vielfältig sind die Themen, zu denen ich Auskunft gebe: Literatur, Verlagsschaffen, Buchmessen, Umsatz, Absatz, Digitalität, Schweiz und Europa, Konsumstimmung, Angestellungsbedingungen, Verödung der Innenstädte, nachhaltige Produktion, Leseförderung, Urheberrecht. Und natürlich häufig zu allem mit Konfliktpotenzial: Juryentscheidungen, Cancel Culture, Coronamassnahmen, Amazon, Konzentrationsprozesse, Übernahmen, Fördergelder. Mein Umfeld ist offen, Rückmeldungen kommen unmittelbar und ungeschönt. Und die Menschen melden sich auch dann, wenn sie etwas gut finden. Das Erstaunlichste, was mir bis hierhin passiert ist, sind Mitglieder, die finanzielle Unterstützung bekommen haben und diese zurückgeben wollten. Entweder, weil ihr Jahresabschluss besser war als erwartet oder weil sie von anderen wussten, die die Hilfe nötiger hätten. In solchen Momenten weiss ich ganz genau, weshalb ich bin, wo ich bin.
Nun begebe ich mich zurück zu meiner Lektüre und wünsche allen eine friedliche Nacht.
Aufmerksamkeit für Unterschiede?
Dieses Blog verwende ich, um über meine Aktivitäten zu berichten und zu reflektieren. Letzteres kommt zu kurz, weil ich über vieles, was schwierig ist und interessant wäre, nicht konkret berichten kann. Doch irgendwie bin ich immer am Nachdenken, das hat sich mit meinem neuen Aufgabe nicht geändert. Neben meinem recht klassischer 24/7 Managementjob beschäftigen mich auch Diversität, Meinungsfreiheit, Zensur. Heute schreibe ich mal in Gedankensplittern, unstrukturiert – dafür hoffentlich reflektiert.
Ich gebe zu: Die grosse Aufmerksamkeit den Unterschieden gegenüber ist mir manchmal zu viel. Dass ich Ungerechtigkeit übersehe, ist mir bewusst. Heute betrübt es mich besonders, wie viel schwerer es Kindern mit dunklerer Hautfarbe hierzulande haben, das erlebe ich im Verwandten- und Freundeskreis. Wir sind in der Schweiz in den letzten Jahren essenziellen zivilgesellschaftlichen und politischen Aufgaben nicht nachgekommen, das ist im Grunde skandalös.
Was „man“ tut und was „sich gehört“ sind alltägliche Äusserungen und vor allem Hürden und verlangsamende Faktoren für Lauf- und Lebensbahnen. Sie manifestieren sich im ganzen im Land, wo der Grossteil der Schülerinnen und Schüler in geraden Pultreihen einander auf die Hinterköpfe starren und Leistungen im Wesentlichen mit Ziffern von 1-6 bewertet werden. Die ganzen Belehrungen und Bewertungen tagein, tagaus empfinde ich als unnötig, seit ich klein bin. Deshalb wollte ich auch nie Lehrerin werden und als ich es doch wurde, nicht bleiben, was zu keiner Zeit an den Lernenden lag. Im Gegenteil! Sie waren es, die mich 16 Jahre im Job hielten.
Es gibt ungefähr eine Hand voll Dinge, die einem Kind beigebracht werden müssen, damit es möglichst unversehrt bleibt. Den ganzen Rest könnten wir ihm zum Selberlernen und Nachfragen überlassen, dann, wenn es soweit ist. Wichtig ist, dass wir stets da sind, wenn uns ein Kind oder ein Jugendlicher braucht, dass wir uns vorbildlich verhalten. Und dass wir selber wissen, welche Werte wir verteidigen wollen. Ich glaube, dass das alles zu machen ist, ohne sich über andere zu erheben.
In meiner Familie war das Coronajahr eine schöne Bestätigung für unsere Bemühungen, einander positiv gegenüberzustehen, egal in welcher Situation. Auch wenn bei uns wirklich jede Meinung zu Covid-19 und zur Maske und zur Impfung vertreten war, hat sich niemand nachhaltig verkracht.
Ich bin allen dankbar, die sich der „Inklusion“ annehmen und finde es schade, dass das Thema einige nervt und gar Leute es nicht ernst nehmen, die von Berufes wegen dazu verpflichtet wären. Im Vorschulalter verbrachte ich viel Zeit in Heimen mit Menschen mit Behinderungen, wo meine Mutter arbeitete. Ich weiss noch etliche Namen, erkenne meine Freundinnen und Freunde auf Fotos – aber Behinderungen? Keine Ahnung, woran sie litten. Wie langweilig wäre unser Leben gewesen, hätten wir uns darauf beschränkt. Genau das ist heute erforscht: diese Einordnung und Beschränkung machen wir erst, wenn wir sie lernen.
Erforscht ist auch, dass wir gerade in Situationen, wo wir einander vieles abspenstig machen sollten, erstaunlich gut miteinander klarkommen. Auf Reisen kann mich nicht entsinnen, dass wir je eine Toilette in der Nähe gehabt hätten. Schon das allein bedeutete ja für mich mehrmals täglich und nächtlich Begegnungen mit unbekannten Menschen, mit denen ich das Terrain teilen und einen Modus finden musste. Das sind tausende gewesen und doch habe ich keine schlechte Erinnerung, die ich mit einzelnen Personen verbinden würde.
Grundsätzlich wurde ich immer dann viel „betatscht“, wenn ich das einzige weisse Kind war. Es wurde mir ständig in das blonde Haar gefasst und ich konnte das natürlich nicht ausstehen. Ich bin froh, wird dieser Griff ins Haar heute thematisiert und bin zugleich frustriert, passiert es noch immer und sogar bei Erwachsenen in der Schweiz. Auch der Kontakt eines indischen Paares in Goa, das mich für ein Junkiekind hielt und mir für meine Garnitur Kleider ein paar Rupien anbot, war und bleibt mir sehr unangenehm.
Das Wichtigste ist das Bewusstsein für die Grenzen der Kinder und ihr Recht darauf, vorurteilsfrei angesprochen zu werden und nein zu sagen.