Die ersten Schuljahre

Als ich gestern – als Abwechslung zwischen Korrekturen – in meinem persönlichen Archiv stöberte, stiess ich auf zehnjährige Notizen zum Schulanfang. Das Kind und viele andere uns bekannte Kinder standen damals kurz vor der Einschulung. Ich war ein paar Jahre ehrenamtlich in der Aufgabenhilfe tätig und rechnete nicht mit bedeutsamen Inhalten. Doch selbst meine geringen Erwartungen wurden enttäuscht. Neue deutsche Rechtschreibung? Hochdeutsch im Unterricht? Wochenplan? Einigermassen aktuelle Lehrmittel? Übungsblätter zur Individualisierung? Fehlanzeige. NDR kam nur als Ärgerthema am Elternabend vor, Hochdeutsch wurde bloss während den Besuchen von Politikerinnen angewendet, von Wochenplänen hilelt die keifende Lehrerin ebensowenig wie vom neu entwickelten Zahlenbuch, welches sie den Kindern mir nichts dir nichts vorenthielt. Das älteste Lehrmittel war von 1964 (vorgeburtlich selbst für mich), das Neuste von 1988. Wenn ich einmal nachfragte, war immer und an allem der hohe Ausländeranteil mit all den ungengügend erzogenen Kindern schuld.
Es ist wenig empirische Sozialforschung nötig, um zu ermitteln, weshalb das Kind und zwei weitere Jungen (ein Asiate und ein Ägypter) aus diesem Jahrgang unseres Quartiers die einzigen sind, die das Gymnasium besuchen. Dazu brauchte es nämlich ein Umfeld, das die Grundlagen unabhängig von und neben der Schule vermittelte.
Weil ich mich aber daran nicht mehr erinnern konnte, habe ich gestern Fotos gesucht. Und siehe da: In den ersten beiden Schuljahren lernte das Kind am Lapdop (das Programm hiess Addy Junior), zählte regelmässig das eigene Geld, sammelte und tauschte Fussballbilder und tanzte Flamenco. Das diente dem mathematischen Verständnis, gab Einblick ins Kaufmännische und in die Geografie (das weiss, wer selber Fussballbilder sammelt), half beim Argumentieren und verhalf zu dem Durchhaltevermögen, die Schule zu ertragen.
Die vier ersten Schuljahre des Kindes werden uns Eltern als freudlos und leidvoll in Erinnerung bleiben, die Zeit neben der Schule jedoch war anregend und oft lustig. Das Kind selber meint heute, seine Erinnerung an die Schule setze erst in der fünften Klasse ein, als es in eine Privatschule wechselte.
Am Laptop mit Addy Junior
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Major e longinquo reverentia

Immer wenn ich putze – und das ist beinahe jedes Wochenende – denke ich über das Putzen nach. Ich denke, dass meine (theoretisch) vierzehntägliche, zu fairen Bedingungen (mit Label!) angstellte Reinigungsfrau sehr viel schlechter putzt als ich, dazu noch oft krank oder im Heimatland ist. Und daran, dass sie mindestens einen Drittel mehr verdient als die durchschnittliche Buchhändlerin und gleich darauf natürlich daran, dass solche Gedanken sündig bourgeois sind und dann wiederum trotzig: „Ein richtiger Bourgeois ist mir noch immer lieber als ihr Sozialfaschisten“, wobei das nicht von mir, sondern von Fallada stammt. So treibe ich mich also weiter an zu helvetischer Reinlichkeit – sei sie auch noch so vergänglich. Denn morgen beginnen die Abschlussprüfungen und ich werde mindestens zwei Wochen nicht mehr zum Putzen kommen, und auf das Auftauchen der Reinigungsfrau ist wie gesagt kein Verlass. (Blöd, dass ich keinen Gedankengang und sowieso kaum etwas im Leben machen kann, ohne dass mir Bücher einfallen dazu.)

Zettelkasten fürs Wahljahr (4)

Nach dem nationalen Bauverbot von Minaretten kommt nun also das Verbot von Hochdeutsch in den Zürcher Chindgis (=Kindergärten, Anm. nja).Seit zweihundert Jahren wird der Dialektverlust beklagt, die in den Siebzigerjahren entstandene Mundartwelle ist in den Gesetzen angekommen. Beide Mal haben Land und Agglo die Stadt überstimmt. Und es ist durchaus möglich, dass das Tessin demnächst die Gesichtsverschleierung verieten wird, obwohl dort keine Burkaträgerinnen wohnen. Sind wir in die Liga jener Länder abgestigen, die symbolische Politik nötig haben?

Meint Thomas Kessler in seinem Artikel „Heil dir Hysteria“ im akruellen Magazin. Er ist heute Leiter der Abteilung Kantons- und Stadtentwicklung in Basel-Stadt, aber zuvor war er einer der ersten Integrationsbeauftragten der Schweiz und ganz sicher kein Schönredner.
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Tischgespräch [43]

Kind:
Ich habe Längizyti nach Sachen, die ich gar nicht erlebt habe.
Mutter:
Wonach zum Beispiel?
Kind:
Nach Hörertelefonen. Nach Glockenhosen. Nach Archiven…, [seufzt]
Mutter:
Das kann ich nachvollziehen. Wie kommst du jetzt darauf?
Kind:
Wir waren mit der Schule im Bundesamt für Migration und wurden durch das Archiv geführt. Darin befanden sich Tausende von Asylgesuchen in Papierform, wir gingen durch die Gänge und bekamen irgendwie halbwegs eine Vorstellung von alle dem. Aber seit einigen Jahren haben sie dort alles auf dem PC und auf ein paar läppischen Memorysticks gesichert. Auch die Fingerabdrücke der Asylsuchenden – alles nur digital!
Mutter:
Ist das schlimm?
Kind:
Ich finde es furchtbar! Wenn schon abstempeln, dann wenigstens mit einem richtigen Stempelkissen.

Fledermaus & Pegasus

Morgen beginnt die letzte Schulwoche für unsere Abschlussklassen. Für mich bedeutet das, dass ich nach elf Jahren die letzten Unterrichtsstunden in „Betriebs- und Verkaufskunde“ erteile. Danach gebe ich nur noch Stunden in einem im Zuge der Reform neu entstandenen Fach. Schon vergangene Woche konnte ich Abschied üben, denn meine Donnerstags-Klasse sah ich bereits zum letzen Mal (weil ja nächsten Donnerstag ein Feiertag ist). Von diesen Azubis habe ich ein rührend passendes Kinderbilderbuch bekommen: Der Fledermausbuchhändlerin Cölestine gelingt es jeden Tag, ihre Kundschaft mit dem passenden Buch aus dem Alltag in andere Welten zu führen. Sie parliert, hilft, ordnet, bestellt und staubt zwischendurch ihre Pegasus-Statue ab, und abends veranstaltet sie auch noch Lyriklesungen mit Musikbegleitung. In der Nacht dann wird der Pegasus lebendig, und sie fliegen zusammen zum Fenster hinaus dem Mond entgegen.
Widmung der BH3B 2011

Remembering

Right after the earthquake, I went there (…). And then I realized that everywhere were these school bags of the children scattered around. (…) Because the bags were so vivid and colorful, they made a reallly strong impression on me. They are so closely related to the physical condition of the kids. So I wanted to design a work of art related to that. (…) Now I am using the bags to form a sentence, which was stated by a dead student’s mother who wrote to me. (…) The sentence we will put up on the front of the building is:
Remembering, 2009 in München
„She lived happily in this world for seven years,“ a sentence from a victim’s mother. She is very kind, she does not have much to say about all this and she just wants her daughter to be remembered. And of course we see all kinds of tragedies in this world, but I think the worst tragey is the disrespect for life.
Das sagte Ai Weiwei 2009 im Gespräch mit Mathieu Wellner in Bejing 2009 über die bevorstehende Ausstellung in München. Er erinnerte mit einer Installation aus bunten Schulrucksäcken an die unzähligen (und bis heute ungezählten) Schulkinder, die durch das Erdbeben in Sichuan im Mai 2008 ihr Leben verloren, weil die meisten Schulgebäude einfach in sich zusammenfielen.
Heute wurde die Ausstellung „Interlacing“ in Winterthur eröffnet. Kein Künstlergespräch morgen.