Unwetterbericht

Gab’s heute in der Schule. Neuigkeiten aus Thun: Der Krebser steht im Wasser. Die Buchhändlerinnen meinen es gut, aber Bücher kann man lange in die Höhe stellen, das ändert überhaupt nichts, Feuchtigkeit ist jedes Buches Ende. Ob es nun unter Wasser steht oder die Seiten von der feuchten Luft gewellt werden, macht keinen Unterschied. Einmal feucht heisst für immer futsch.
Rechte Berichterstattung aus der Stadt Bern gibt’s anderswo.

Gnade vor Recht+Freiheit

Herausgegeben vom Presseclub Schweiz erscheint vier Mal jährlich eine rechtsextreme Zeitung „Recht+Freiheit“: „Kopieren – verbreiten – Besellen Sie weitere Exemplare dieser Zeitung.“ (Daher habe ich beim Folgenden auch keine Urheberrechtsprobleme.)
In Ausgabe Nr. 3 vom August 2005, sucht J.J. Kariger aus Limpertsberg, Luxemburg, Hilfe bei Mitlesern. Er schreibt:

Verarmung der geistigen Schweiz. Conrad Ferdinand Meyer unbekannt!
Neulich fuhr mir ein gelinder Schreck durch die Glieder, der mich noch nicht ganz verlassen hat. Ich fragte bei meinem Buchhändler, übrigens ein Mann, der vollkommen auf der Höhe seines Berufes ist, nach den gesammelten Werken des Schweizer Novellisten und Dichters Conrad Ferdinand Meyer. Nach zwei Tagen vergeblichen Suchens (…) meldete er mir mit enttäuschtem Gesicht, er habe, ausser einer kurzen biographischen Notiz aus der Schweiz, von Veröffentlichungen gar nichts gefunden. Anfangs wollte ich ihm das nicht glauben; jenes herrliche Talent begleitet mich seit Schultagen durchs Leben; (…) Wie war das möglich? Ich wähnte ihn in mehr als einer Reihe gepflegter deutschsprachiger Klassiker – und nun schien er wie von einem bösen Geist aus dem Repertoire der Unsterblichen einfach gestrichen?
Welche Geister entscheiden über ein solches Fortleben? Sind es etwa dieselben, die in Stockholm der übelsten Pornographie, den Holocaustphantasten oder den farbig-rassistischen Romanschreibern die höchsten Preise nachschleudern? (…) Über dem Europa der Korruption und der Sodomiten steht auch künstlerisch-literarisch kein guter Stern. Vielleicht kann dieser oder jener Leser mich über das Vorgebrachte weiter aufklären? Ich wäre ihm sehr dankbar.

Sehr geehrter Herr Kariger, obwohl ich eigentlich keinen Nachtdienst mache, will ich Ihre Anfrage – angesichts Ihrer Not – dringlich behandeln. Conrad Ferdinand Meyer, auch in meinen Augen ein begnadeter Dichter, ist als solcher noch unter uns und wird gelesen, sogar als Klassenlektüre. Die Gesamtausgabe erscheint im Benteli Verlag. Folgendes würde gemäss meiner Einschätzung Ihrem Wunsch am besten entsprechen:

Conrad Ferdinand Meyer, Leseausgabe in 7 Bänden
Besorgt von Hans Zeller (Gedichte) und Alfred Zäch
Jeder Band gebunden mit Schutzumschlag
12,5 x 20 cm
ISBN 3-7165-0201-4
CHF 280.00
Artikelbeschreibung: Diese Leseausgabe beruht auf der historisch-kritischen Ausgabe der Werke in 15 Bänden, erschienen 1985–1996. Die Bände enthalten Faksimiles von Gedichthandschriften, die Meyers Arbeitsweise vor Augen führen, Reproduktionen der Titelseiten von Erstausgaben und anderen Dokumente sowie eine Zeittafel zu Meyers Leben und Werk.

Sollte Ihnen das – was ich allerdings nicht glaube – zu teuer sein, sind die bekannten Werke sowie die Balladen und Briefwechsel einzeln und teilweise in kostengünstigeren Ausgaben erhältlich. Auch antiquarisch könnte ich Ihnen einige Dutzend gut erhaltene Ausgaben anbieten.
Bitte erlauben Sie mir die Bemerkung, dass ich begründete Zweifel am Fachgeschäft hege, das Sie aufgesucht haben. Beherzigen Sie meinen Rat und wechseln Sie den Buchhändler.
[Brauche ich eine Kategorie Zensur und Desinformation? Mausert sich zum Dauerbrenner.]

ausgepackt

Die Packerin hat aufgehört, heute nehme ich sie schweren Herzens von der Blogrolle. Mir schien oft, wir hätten nicht den selben Beruf. Und so ist es auch. Die Arbeit vorne an der Front unterscheidet sich wesentlich von der Arbeit im Reduit.
Zur Derniere kommt aus dem Packraum noch eine letzte Knacknuss:

Präsens
Wenn ich ein Buch auswähle, habe ich ein ganz einfaches Kriterium: ich lese nichts, was im Präsens geschrieben ist. Das sind nämlich entweder
a) langweilige, hochliterarische Werke oder
b) heitere Romane für frustrierte Hausfrauen oder
c) im Eigenverlag erschienene Ergüsse

Ich habe viele Proben aufs Exempel gemacht und es gibt Ausnahmen. Aber Buchhändlerinnen müssen in Schubladen denken und da taugt die Faustregel erstaunlich gut. Wegen solchen Sachen und Erinnerungen an Urzeitkrebse und wegen der Design freien Zone und auch wegen der bissigen Verteidigung von Blogcontent, werde ich den Packraum vermissen.
Wenn etwas aufhört, muss ja etwas anderes anfangen: Zum Beispiel die Antithese zum Weltjugendtag: Werbung für Aufklärung mit Herr Schmidt-Salomon.

Kiffen neben der Schule

Kiffen und eine Lehre machen sind zwei Tätigkeiten, deren Auswirkung Züge einer klassischen Tragödie haben, da sie einander je widerstreben. Dafür gibt es etliche Gründe. In den Handwerksberufen ist Kiffen ein Unfallrisiko. Lehrfirmen, die ihren Lernenden vertrauen und Auto- oder Ladenschlüssel übertragen wollen, brauchen allseitig klare Köpfe. Im Detailhandel sind bekiffte Anprechpersonen unzumutbar und auch im Büro sind die bekifft ungenutzen Ausbildungsstunden ein Affront gegen alle, die auf eine Lehrstelle warten.
Ich bin frustriert darüber, wie viele Lehrerinnen und Lehrer auf bekiffte Lernende überhaupt nicht reagieren. Dank dem Eintrag in Herr Raus Lehrerzimmer habe ich mir wieder einmal Gedanken zum leidigen Thema gemacht. Auch zur Legalisierung, die in der Schweiz von vielen gefordert und in der Politik aktiv diskutiert wird (ich selber gehöre noch zu den Unentschlossenen).
Grundsätzlich wird das Kiffen in unserem Kanton toleriert. In vielen Berner Schulhäusern ist das auch ums Schulhaus herum so („man kann nicht viel machen…“). Manchmal fühle ich mich schon nach einem Besuch des Pausenplatzes irgendwie stoned, so geschwängert ist die Luft. Unsere Schule gehört allerdings nicht zu den Toleranten, der Konsum illegaler Drogen wird geahndet und es gibt ein Alkoholverbot für das ganze Schulgelände.
Vor einiger Zeit hatte es eine kleine Gruppe auf dem Pausenhof, die Selbstgedrehte rauchte, ich habe nicht weiter auf sie geachtet. Bis mir ihr „ich mach was Verbotenes“-Ausdruck auffiel. Da bin ich einmal näher getreten und habe freundlich gefragt, ob sie wissen, dass sie von der Schule fliegen? Nein, nein, das sei nur etwas spezieller Tabak meinten sie. Ich lächelte mein strahlendstes Lächeln (hab ich im Verkauf gelernt) und antwortete, jawohl, wunderbar, ich würde die Kippe gerne ins Labor mitnehmen. Diese Gruppe habe ich nie mehr zusammen rauchen sehen. Das tun sie jetzt nicht minder, aber ausserhalb und das war mein Ziel. Kiffen geht nicht zusammen mit Schule, siehe oben.
Meine wichtigste Frage lautet: Wie könnten Schulen reagieren, wenn Kiffen legal würde? Haben sie eine realistische Chance, es trotzdem und aufgrund der eigenen Hausordnung zu verbieten und das auch noch zu kontrollieren? Man könnte es machen wie die SBB, die nicht zuletzt deswegen die Raucherwaggons gänzlich abgeschafft hat. Allerdings müsste man bei einem Rauchverbot mit breiter Opposition aus dem Lehrerzimmer und den Chefetagen rechnen.
Und was wäre, wenn wir durch den Geburten- und Lehrstellenrückgang in eine stärkere Konkurrenzsituation mit anderen Schulen kommen? Wer hat bei Legalisierung die besseren Karten? Die Schulen, die Kiffen wie bis jetzt das Rauchen behandeln (nicht unter 16 Jahren) oder die, die es verbieten?

Lese ex.

Es geht weiter mit Ferienlektüre in Form von Lesexemplaren (=unfertige, kostenlose Bücher, die der Verlagsvertreter dem Buchhandel vor dem Erscheinungstermin zur Verfügung stellt):
-Joey Goebel, Vincent
Immer die gleiche Geschichte von Begabten und so, mochte ich nicht lesen.
-Stephen Clarke, Ein Engländer in Paris
Hab ich von anderen lesen und dann erzählen lassen, was sich als sand- und strandfeste Variante ausgezahlt hat. Es geht um einen Engländer, der eine Teehaus-Kette in Frankreich ankicken soll. Zwischen den beiden Ländern Frankreich und England gibt es genügend Gräben, die ein pfiffiger Schreiber mit Anekdoten füllen kann und dieser Clarke scheint so einer zu sein. Und wenn man wie ich noch in Frankreich selber sitzt, stets um Hundehaufen zirkelt und nicht weiss, ob jetzt ein guter Nachmittagsschluss „bon fin d’après-midi“ gewünscht werden soll oder schon ein guter Abend „bon soir“, dann ist das halt einfach passend.
-Tariq Ali, Der Sultan von Palermo
Ich hatte keine Lust auf dieses Buch, sorry. Es kann nichts dafür.
-Azar Nafisi, Lolita lesen in Teheran
Gute, subjektiv gefärbte Dokumentationen haben es mir angetan, ich lese politische Ereignisse am liebsten in dieser Form. Also war das genau das Richtige für mich. Ein Feuerwerk von Erlebnissen, Argumenten, Frauengedanken. Azar Nafisi ist im Iran aufgewachsen, studierte in England und Amerika und kommt zurück nach Teheran als Khomeini die Macht übernimmt und das Land mit entsprechenden Schergen und perfiden Methoden von der Moderne wegkatapultiert. Er baut in dieser Diktatur am Faschismus, wie es schon so oft gemacht wurde und immer wieder gemacht werden wird. Der Titel des Buches bezieht sich auf Nafisis Lese- und Diskussionsgruppe, die sie bei sich daheim mit ihren Studentinnen macht. Mein Nachteil bei der Lektüre war, dass ich mich nicht so gut mit original englischer Literatur auskenne, das aber genau das Thema ihrer Seminare war. Ich kam mir also ein wenig dumm vor. So oder so ist das ein Buch, das ich kaufen, nochmal lesen und ausführlicher besprechen werde.
-Kjell Eriksson, Die grausamen Sterne der Nacht (altes Leseexemplar, bereits erschienen.)
Da bin ich (trotz nordisch Krimi) dran geblieben, weil jemand der Müga das Buch schlecht fand. Mir gefiel die Kriminalgeschichte im Grunde gut, und die Kommissarin Ann Lindell ist in Ordnung. Als Leserin verfolgte ich hauptsächlich die ziemlich irre geleitete superintelligente Tochter eines verschwundenen Petrarca-Experten. Und dagegen hatte ich wirklich nichts, das war packend. Das Mordmotiv blieb mir jedoch irgendwie verschlossen und die Übersetzung war wohl noch nicht ganz fertig.
Die Verlage können auch nicht zaubern und haben jetzt schon Mess-Stress.

On

Passend zu Beruf und Berufung starte ich mit den Büchern (in a Nutshell) aus meinen Sommerferien:
-Haruki Murakami, Untergrundkrieg
Das ist Murakamis Zeugnis zum Giftgasanschlag in der U-Bahn von Tokyo im März 1995. Murakami ist ein Autor, der nie etwas übereilt, eine Liebesgeschichte ebenso wenig wie eine Dokumentation. Ähnlich wie Alexijewitsch tastet er sich vor, recherchiert über Information und Desinformation, stellt zurückhaltend die passenden Fragen zum richtigen Zeitpunkt und macht einfach gute Arbeit als Autor wie als Relais.
-Primo Levi, Anderer Leute Berufe
Habe ich dann doch nicht gelesen. Es war zu sehr eine andere Welt. Vielleicht später.
-Anne Holt, In kalter Absicht
Habe ich auch nicht weiter gelesen, soll aber spannend sein. Nordische Krimiautorinnen tendieren zunehmend zu Brutalitäten, die ich nicht brauche. An Eltern zurückgeschickte Leichenteile entführter Kinder, nur weil das grad noch niemand sonst schreibt? Die Krimischreibenden stehen einander im Norden zu sehr auf den Füssen rum.
-Plina Daschkowa, Nummer 5 hat keine Chance
Ein sehr kurzes und sehr feines Stück russischer Literatur. Immer an der Grenze zur Tradition russischer Klassiker, schleicht die Novelle den Ungerechtigkeiten im heutigen Russland nach. Aus alter Bauernfängerei wird neue und zuletzt verliert eine freundliche Lehrerin vom Land ihr ganzes Geld für den Rollstuhl ihrer Tochter im Spielcasino. Nein, das ist noch nicht ganz der Schluss, die Bösen büssen.
-Inger Frimansson, Die Treulosen
Nicht gelesen, siehe Holt.
-Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon
Habe ich während der Ferien ausgeliehen, lese ich später. Ist aber 1000 Mal besprochen und lobend dazu.
-Kaspar Wolfensberger, Glanzmann
(M)Eine Neuentdeckung! Der Protagonist Zangger, der Psychologe und geforderte Familienvater fast erwachsener Kinder, ist eine sehr gelungene Figur, auf die ich in jedem Buch warte, sie aber selten finde. Hier hat ein Autor geschliffen, an Personen und Situationen, hier kippen weder Geschichte noch Charaktere ins Konstruierte. Denn das ist oft die Gefahr, wenn eine heutige Geschichte in Schweizer Familien und erkennbaren Schweizer Städten spielt. Dieser Zangger lässt sich auf Grund beruflicher Verpflichtungen in einen Fall verwickeln, in dem auch die Zürcher Polizei ermittelt und gerät zwischen alle Stühle und Bänke. Ich werde noch den anderen Zangger-Titel von Wolfensberger lesen und die Bücher dann ausführlicher besprechen.
-Guido Bachmann, lebenslänglich
Ich habe selten jemanden gelesen, der so gelassen wie pointiert und selbstironisch vom Leder ziehen kann. Über die Eltern, die Lehrer, die Schweiz, sowohl im zweiten Weltkrieg als auch in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs. Aus dieser Autobiografie werden mir sehr viele Szenen im Gedächtnis bleiben. Zum Beispiel, als der Bub Bachmann endlich herausfindet, wo er ein Aufklärungsbuch hernehmen könnte, mit Herzklopfen in den Lesesaal der Stadtbibliothek vordringt, nichts als Kapseln mit gehefteten Katalogkarten aus dem Gestell zieht, diese aufschlägt, liest und wieder liest und weint.
-Qiu Xiaolong, Tod einer roten Heldin
-Qiu Xiaolong, Die Frau mit dem roten Herzen
Ich bereue, diese Bücher – trotz Empfehlung von zuverlässiger Seite – nicht schon lange gelesen zu haben. Die beiden Fälle für Oberinspektor Chen waren für mich als Leserin der Türöffner zum heutigen China samt Rückblick und Ausblick. Aber nie verliert sich der Autor in Reiseführerbeschreibungen, immer schafft er Zusammenhänge, kleine Erklärungen und wunderbar fremde Dialoge. Beide Fälle handeln im Kern von der Verletzung, als „zu gebildet“ „zu schön“ „zu dekadent“ deklariert zu werden und einer permanenten Umerziehung ausgesetzt zu sein.
Von den Büchern, die ich wiederholt lesen wollte, habe ich es nur bei Kafka getan. „Der Prozess“ ist sicher keine typische Ferienlektüre, aber dafür ein Meisterwerk an Beschreibung. Hat mich dieses Mal ein wenig an Kunerts Kurzgeschichte „Zentralbahnhof“ und an den Film „Dogville“ erinnert, die Bilder habe sich alle übereinandergeschoben. Markus Werners „bis bald“ habe ich weg gelegt. Ich denke, das Buch hatte mir damals viel bedeutet, weil ein Freund zu dieser Zeit an einem Herzinfarkt gestorben ist. Heute tendiere ich eher zur Bestätigung eines Kunden, der mir sagte, ich überschätzte dieses Buch Werners.

Open Space

Open Space ist eine Methode. Viele Beteiligte mit unterschiedlicher Erfahrung können mit dieser Methode eine komplexe Herausforderung angehen und dies mit realistischer Aussicht auf Erfolg.
Wir haben eine solche Situation im Buchhandel mit der Berufslehre. Wir sind konfrontiert mit einer neuen Berufsbildungsverordnung, die es möglichst gwinnbringend (win-win, versteht sich), aber auch kostenneutral (wie könnte es anders sein) umzusetzen gilt.
Das ist eine riesige Aufgabe. Vor allem, weil wir hier nicht für heute und morgen, sondern für die nächsten zwanzig Jahre vorspuren. Das verlangt unserer Branche einige Prognosen und mehr Konsens ab, als wir es gewöhnt sind.
Ich bin Mitglied der Projektgruppe, die für das Kick-Off zuständig ist. Wir haben uns relativ schnell auf „Open Space“ einigen können, weil wir genau in einer solchen Lage sind. Und unser Erfolg hängt von der Zustimmung der Branche ab, denn am Schluss zählt einzig: werden die Buchhandlungen diese Lehrstellen anbieten oder werden sie es sein lassen?
Wer an der Zukunft des Schweizer Buchhandels interessiert ist, reserviere sich folgende Termine:
Montag, 19. September 2005 (ganzer Tag)
Dienstag, 20. September 2005 (halber Tag)

Als Lehrerin weiss ich, dass ich nie davon ausgehen darf, dass etwas gelesen wird (Kollegen sind mitgemeint), und deshalb wiederhole ich:
Am 19. und 20. September dieses Jahres findet unsere Open Space Konferenz statt und die ganze Branche ist geladen. Es wird nicht gratis sein, aber kostengünstig. Wir haben uns um Sponsoren getan und auch schon welche gefunden (danke, Schule!).
Es geht hier um die Ausbildung im Buchhandel und die wiederum geht vom Lerndenden bis zur Geschäftsleitung alle an.
Die Konferenz wird bei Bern stattfinden. Ich wünsche mir, dass viele Angereiste hier ihr Lager aufschlagen und das Ganze zu einem buchhändlerischen Klatsch-und-Tratsch-und-weisst-du-noch-Abend in der Hauptstadt wird.
Die offiziellen Informationen folgen in den nächsten beiden Ausgaben des Schweizer Buchhandels.

Vor Urteil

Letzte Woche begann die Verhandlung für die jugendlichen Täter im schlimmsten Raubüberfall, den diese Stadt wohl je erlebt hat und von dem ich an anderer Stelle schon kurz berichtet habe.
In Bern gibt es eine ausgesprochene Leserbrief-Kultur. Schulklassen, Eltern, Angestellte, Seniorinnen, Zugewanderte, Ausgewanderte, die irgendwo mitlesen: zu solchen Ereignissen äussern sich verschiedenste Menschen. In der Folge der täglichen Berichterstattung erschienen also vergangene Woche besonders viele Statements. Auch die Schulklasse des Opfers hat einen ausgezeichneten Brief verfasst.
Und ich stelle fest, dass die so geäusserte Meinung, ob von Jugendlichen oder älteren Menschen, ob von Männern oder Frauen, recht eindeutig ist. Einerseits macht mir das Sorgen, weil die vehementen Äusserungen ja auch ein wenig an Lynchjustiz erinnern und ich eigentlich dankbar bin, dass wir Fachleute haben, die es sich nicht leicht machen. Andererseits bin ich überzeugt, dass das Gesetz allen Menschen dienen soll.
Sich nicht von Volkes Stimme leiten lassen, appelliert die Verteidigung an das Kreisgericht, „nicht einfach aufgeben und wegsperren,“ ist die Einstellung von Kriminologin und Psychologen. „Zuchthaus“ ist die Forderung der Bürgerinnen und Bürger.
Sehr repräsentativ finde ich die Leserbriefe aus dem gestrigen „Bund“. Die Leserbriefschreiber schreiben nicht irgend etwas, die haben nachgedacht und eigene Erfahrungen eingebracht. Und weil das hier auch mein Archiv ist, habe ich diese sicherheitshalber noch gescannt.
Am 4. Juli wird das Urteil eröffnet.

Aufklärung nach Fest

Im neusten SPIEGEL stellt sich der Hitler-Biograf, Autor des neuen (gut laufenden) Titels „Die unbeantwortbaren Fragen: Gespräche mit Albert Speer“ und legendärer Feind von MRR, dem Interview. Ich zitiere S. 142 aus SPIEGEL 25/2005:

Fest: Ich glaube nur, dass wir es uns im sicheren Abstand der Jahre oft zu leicht machen mit der moralischen Verdammung des „Dritten Reiches“. Totalitäre Versuchungen treten an die Völker von Zeit zu Zeit heran. Es gibt zwei Wege des „Halbwegs-sicher-Machens“: Moral oder Erkenntnis. Ich setze auf Erkenntnis.
SPIEGEL. Das klingt so, als wollten Sie Hitlers Diktatur moralisch nicht verurteilen?
Fest: Das „Dritte Reich“ hat mir moralisch nichts zu sagen. Dass man Menschen nicht grundlos einsperren und schon gar nicht totschlagen darf, sind Selbstverständlichkeiten. Geht es Ihnen anders? Das „Dritte Reich“ hat mir politisch etwas zu sagen. Und es hat mir zu sagen, dass das hochherzige Menschenbild der Aufklärung falsch war.
SPIEGEL: Sie meinen, die Verbrechen des Nationalsozialismus widerlegten die Annahme, der Mensch sei vernunftbestimmt und im Kern gut?
Fest: Die Aufklärung hat geglaubt, die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse oder die Erziehung führten uns auf Abwege. Das ist irreal. Der Mensch steht dem Bösen näher als dem Guten. Wenn man ihm alles erlaubt und ihn sogar für das Böse auszeichnet, dann tut er das Böse mit Lust.

Mich irritiert diese Definition der Aufklärung. Ich habe zum Beispiel Kant nie so verstanden, ganz im Gegenteil. Ethik wäre möglich, Wertbürgertum wäre möglich, wenn der Mensch sich auf seine Vernunft in seinem eigenen Kopf anstatt auf Anführer und deren Indoktrination berufen würde. Nur menschliches Selbstverständnis kann Menschlichkeit selbstvertsändlich machen. Also lese ich zumindest einen Aufklärer umgekehrt und dass das Sein allein das Bewusstsein bestimme, ist meines Wissens Postaufklärung. Aber ich muss noch viel lernen.

zum Begriff „literarisch“

Don Dahlmann und Lyssa lesen Blog.
Kann ein Text ausserhalb seines Mediums noch der Text des Mediums sein? Bloglesungen sind ein Widerspruch in sich.
Jedenfalls hat mich die Ankündigung drauf gebracht, meine Sammlung von „was ist ein Weblog?“ um Don Dahlmanns Definition zu erweitern.
Sowohl bei der Ankündigung wie bei der Definition ging mir die Verwendung des Wortes „literarisch“ gegen das Fell. Dass wir uns über den Begriff zoffen, hat eine lange Tradition und ist ein Lebenselixier, jedenfalls für Buchleute. Ich möchte daher nicht unflexibel erscheinen und eine Neubesetzung des Begriffs – wie sie ja alle paar Jahrhunderte mal gemacht wird – kategorisch ausschliessen. Aber solange die Würfel noch nicht gefallen sind, darf ich mich wundern:

Seitdem lebt und arbeitet er (Don Dahlmann) in Berlin und führt dort auch sein literarisches Weblog,

Ich halte dagegen. Das ist gutes Schreibhandwerk, ich lese da gerne. Aber ich anerkenne das nicht als literarisch, dafür müsste der Autor die Distanz zwischen sich und dem Text noch stark optimieren. Literarisch ist die Blogkategorie „Dranmor“ aus der taberna kritika. Das sind Teile eines Entwicklungsromans mit Kommentarfunktion und das ist ein Experimentierfeld. Aber nur weil ein Weblog mehr für amüsante und melancholische Aufzeichnungen gebraucht wird als für weiter verlinkte Fakten, ist es weissgott noch nicht literarisch.

Soweit ist es in Deutschland noch nicht, zumal sich die Blogszene, die so genannte „Blogosphäre“, mehr im allgemeinen und literarischen Bereich arbeitet. Hier bietet sich aber dann die ganze Vielfalt von Texten, die man Buchhandel schon lange nicht mehr findet. Vor allem Kurzgeschichten, die zum großen Teil aus persönlichen Erlebnissen bestehen, sind auf den meisten Seiten zu finden.

Was ist eine Kurzgeschichte, das ist hier die Frage. Ich brauche keine ganze Hand um die Weblogs, die sporadisch beinhalten, was nach Schulbuch als Kurzgeschichte gilt, abzuzählen.
Und was mit der Vielfalt von Texten, die man im Buchhandel schon lange nicht mehr findet, gemeint ist, bleibt mir verschlossen. Blogtexte konnte man per definitionem vor langer Zeit nicht im Buchhandel finden, weil es ja da Weblogs nicht gab. Und auch heute stehen vorwiegend Bücher im Regal und nicht Bildschirme. Es ist ein anderes Medium und nicht neu, dass sich die Message nicht einfach so übertragen lässt. Ein Text zwischen Buchdeckeln muss zwingend lektoriert und korrigiert werden. Es gibt Zeitformen und Perspektiven, Seitenzahlen und Satzspiegel, Kapitälchen und den Zeilenlauf und hoffentlich keine Hurenkinder.

Mittlerweile hat sich durch die Blogosphäre eine eigenständige literarische Gattung herausgebildet, die erst am Anfang ihrer Entwicklung steht.

Gattung ja, literarisch manchmal, Anfang der Entwicklung vielleicht.