Futura 2005

Futura & Fortune!
Hierhin habe ich heute E-Mails mit Anfragen geschickt. Das ist die Prüfungsbuchhandlung Futura, eine schönere Mini-Buchhandlung gibt’s in keinem Schulzimmer. Das Beantworten von Fragen per Mail gehört auch in diesen Teil der Lehrabschlussprüfung „Praktische Arbeiten im Betrieb“, die ich mit meinen Kolleginnen kommende Woche abnehmen werde.
Wie läuft das ab?
Die Kandidatinnen und Kandidaten richten vorgängig zusammen mit mir ein. Wir unterhalten uns laufend über die Geschäftsphilosophie, bei Futura zum Beispiel ist man „kultant, bis die Augen tränen“, wie das Jörg Winter zu nennen pflegt. Daneben kann jeder, der geprüft wird, drei Titel angeben, zu denen er befragt werden möchte.
Eine Prüfungsexpertin kommt einkaufen. Zuerst in einer Testsituation mit Freiwilligen und dann in der Prüfungssituation bei jedem. Sie tätigt ihren Einkauf genau nach Protokoll und zu einem grossen Teil auf die Arbeitsgebiete der Kandidatinnen und Kandiaten ausgerichtet. Zu den Spezialaufgaben gehören das Beanworten von Telefonanrufen, von E-Mails und die Reaktion auf Reklamationen. Nur mit guter Planung und durch sorgfältige Absprache zwischen der Expertin, die einkauft, und der Expertin die protokolliert, ist Chancengleichheit gewährleistet.
Wir werden oft gefragt, warum wir das nicht in den Lehrfirmen prüfen? Weil es logistisch und finanziell nicht machbar ist. Wir haben Lernende aus der ganzen Deutschschweiz. Unsere Branche verfügt nicht über genügend finanzielle Mittel und die Buchhändlerinnen und Buchhändler nicht über genügend Zeit, um die praktischen Prüfungen in nützlicher Frist am Lehrort zu Lehrort zu bewerkstelligen und das auch noch gut eingespielt und fair.
Wo auch immer, für nächste Woche heisst es Daumen drücken. Und noch weit darüber hinaus, ich wünsche allen von Herzen, dass sie eine gute Arbeitsstelle finden. Ich habe mich bemüht, die Lernenden gut zu coachen. Doch das Gefühl, dass ich noch mehr hätte tun können, gehört wohl einfach dazu.

Authentik um einen Preis

Ich schätze den Verlag „Beobachter“, der macht sorgfältig gut schweizerische und nützliche Ratgeber. Ich besitze selber einige und habe sie immer gerne empfohlen. Meine Eltern hatten die gleichnamige Zeitschrift aus diesem Verlag abonniert und – ähnlich wie Waschmittelmarken – bleibt man auch Medien aus dem Elternhaus in der Regel verbunden.
Vor zwei Jahren jedoch hatte ich eine unschöne Begegnung mit einem Beobachter-Journalisten. Der Mann wollte eine Story zum Thema Anlaufschwierigkeiten für Flüchtlinge aus dem Irak machen. Er brauchte Kontakte und Erfahrungsberichte via unsere Familie, eigentlich ein begrüssenswertes Anliegen. Allerdings entpuppte er sich als Thesenjournalist, die Schlagzeile war schon klar, ehe er überhaupt mit jemandem von uns gesprochen hatte und derart daneben, dass ich darauf verzichte, sie hier wiederzugeben. Deshalb haben wir nicht mitgeholfen. So wichtig informieren ist, verheizen geht nicht, das wird mit Flüchtlingen genug getan. Die Nachricht hat ihn auf dem falschen Fuss erwischt und er hat es nicht geschafft, höflich zu bleiben. Dennoch kein Grund, den „Beobachter“ in globo blöd zu finden.
Das ist mir wieder eingefallen, als ich gelesen habe, wer die „Goldene Feder 2005“ erhalten hat. Diesen Preis unterstützen zum Beispiel buch.ch und eben der „Beobachter“, welcher auch in der Jury sitzt. Dieses Jahr waren Texte zu Jugendgewalt gesucht, gewonnen hat einer der Täter im brutalsten Überfall seit ich Bern und Jugendliche kenne (und das ist mein ganzes Leben) mit dem Text „ohne die richtigen Freunde…“
Diese als Bekenntnis getarnte Rechtfertigung, diese als Perspektive verkleidete Anbiederung und Pseudo-Reflexion darf von mir aus geschrieben und gelesen werden. Aber prämiert, weil ach-so-authentisch? Mit einem Vorbildpreis, einem Jugendpreis? Weil das das Brauchbarste unter dem Eingereichten gewesen sein soll? Never ever.
Ist vielleicht schon ein Buch, eine Autobiografie oder gar ein Ratgeber in Planung?
Trostlos. Einfach nur trostlos.

14. Mai 1935 und 1948

Eigentlich dachte ich, ich überlasse die Berichterstattung kumulierter Gedenktage anderen, die das besser können und eher betroffen sind. Zum Beispiel Lila, die wieder einmal grandiose Blitzlichter aus dem Kibbuz geliefert hat (ja, ich kann die Hatikva auch besser als den Schweizer Psalm, meine Mutter ist schuld.).
Aber heute habe ich im Berner „Bund“ einen Artikel gelesen, der mein Buchhändlerinnenherz erschaudern liess. Offenbar finden die indizierten „Protokolle der Weisen von Zion“ immer wieder den Weg nach Europa. Vor 100 Jahren wurde dieses üble Falsifikat in Umlauf gebracht und am 14. Mai 1935 hat es ein sozialdemokratischer Berner Richter verboten. Allerdings „nur“ wegen Verstoss gegen das Schundliteraturgesetz, was in diesen Zeiten nicht lange vorhielt. Das anders lautende Berufungsurteil hat die 100 Mitglider NSDAP-Ortsgruppe Bern natürlich gefreut und ganz besonders die Nachbarn! Die verbreiteten den als Sachbuch getarnten Schund über die geheime Verschwörung der Zionisten, die nicht ihre Rückkehr nach Palästina sondern die Weltherrschaft planten, immer gern. Lesestoff war gesucht, mit den Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 war ja plötzlich viel dahin gegangen.
Ich halte buchhändlerische Zensur selten für angebracht, aber „Mein Kampf“ und „die Protokolle“ hätte ich nie und nimmer in einer kompletten und unkommentierten Fassung verkauft oder auch nur vermittelt, ganz egal, ob sie auf dem Index stehen oder nicht.
1948, genau 13 Jahre nach dem kurzzeitig klugen Berner Urteil waren die Juden um Millionen dezimiert, beraubt und vertrieben worden – und bekamen die knappe Zustimmung der UNO für einen eigenen Staat Israel.
Zum Historischen ein Auszug aus der Autobiographie von Amos Oz, eine Geschichte von Liebe und Finsternis, S. 538:

Um Mitternacht von Freitag, dem 14. Mai 1948, auf Samstag, den 15. Mai 1948, nach Ablauf der dreissigjährigen britischen Mandatszeit, entstand der Staat, den David Ben Gurion einige Stunden zuvor in Tel Aviv ausgerufen hatte. (…)
Aber um eine Minute nach Mitternacht fielen, ohne Kriegserklärung, Infanterie-, Artillerie- und Panzertruppen der arabischen Armeen ins Land ein: Ägypten von Süden, Transjordanien und Irak von Osten, Libanon und Syrien von Norden.

So begann der Leidensweg zweier Staaten im gleichen, von dem ich nicht glaube, dass er je eine Chance auf Abkürzung hatte. Und unabhängig davon, wie es mit den Unabhängigkeiten weitergeht, wird immer wieder zwischen Buchdeckeln auftauchen, was unendlich schlimmer ist als Schund, nämlich Hetze.

Bildung + Sport

Ich hatte ein sehr aufschlussreiches Gespräch mit einer Gymnasiallehrerin, deren Tochter Spitzensport macht. In unserem schönen Schweizerlande wird viel gejammert, wir hätten keine guten Sportlerinnen und Sportler mehr. Aber offensichtlich ist es gar nicht einfach, diese auszubilden. Denn Training und normales Gymnasium lassen sich schwer verbinden, genau so wie Training und normale kaufmännische Lehre.
Nun ist Sport wie Grundbildung etwas, was man im Lebenslauf nicht einfach so nach hinten verschieben kann. Und schon haben wir einen regelrechten Zielkonflikt. Lösungen wären Sportklassen, sowohl im Gymnasium wie auch bei uns am KV. Die Volksschule, die ich ja auch schon oft kritisiert habe, muss ich für ihre Fussballklassen loben. Viele Kinder, die ich kenne, eifern der Aufnahme entgegen und sind deshalb auch in den anderen Fächern besser (gute Noten und ebensolches Betragen sind eine Bedingung). Warum sollte das bei uns nicht gehen?
Die wenigen Sportklassen, die es in der Schweiz gibt, müssen immer wieder Jugendliche abweisen. Wenn Lehrpersonen das ändern wollen, ist das Killerargument, dass es ja nur zehn Abgewiesene waren und man doch keine Sportklasse an einer Schule machen kann mit zehn Leuten, also wirklich, wo kämen wir da hin? Aber Kleinklassen und Klassen für Leute mit Behinderung macht man ja auch mit zehn Lernenden. Zehn begeisterte und begabte sportliche Abgewiesene sind zehn zuviel.
Treue Leserinnen und Leser können meine Meinung erraten: Wir müssen dran bleiben. Es ist eine Frage der Argumente, eine Frage des Durchhaltewillens, der Bereitschaft, Pionierarbeit zu leisten und Rückschläge einzustecken. Ein Projekt auch mit wenigen zu starten, ist ein Frage des Mutes. Let’s roll.

Abschluss heisst Anschluss

In der Schweiz ist die Berufsbildung eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt. Das neue Berufsbildungsgesetz fordert auch von Buchhändlerinnen und Buchhändlern eine Berufsreform. Wie in jedem Unternehmen, liegt die Schwierigkeit darin, eine Vorstellung von der Zukunft zu bekommen, die mehr ist als ein Gefühl im Bauch. Denn häufiger als Zielharmonie kennen wir Buchmenschen (und nicht nur wir) den Zielkonflikt. Unsere Ziele werden also auch ein Beweis unserer Konsensfähigkeit, unseres Qualitätsbewusstseins und unserer Rechenschaft uns selber gegenüber sein. Und das ist neben einem harten Brocken auch ein langer Prozess.
Weil die „öffentliche Hand“ sich dessen bewusst ist, hat sie einen gut strukturierten und einhaltbaren Fahrplan entworfen, für den ich dankbar und auf den ich stolz bin. Letzteres sage ich vor allem mit Blick auf das verallgemeinernde ewig gestrige Beamten-Bashing.
Heute habe ich in diesem Zusammenhang ein aufschlussreiches Referat von Emil Wettstein gehört, aus dem mir neben etlichen Notizen zwei Leitlinien geblieben sind: „Kein Abschluss ohne Anschluss“ (Grundsatz der Berufsbildung) und „schaut ins Welschland!“ (in die französischsprachige Schweiz), denn hier sei Innovation.
Kurz zusammengefasst für berufsfremde Mitlesende: Es gibt drei Berufsfachschulen, auf die sich jährlich ca. 110 Lernende des Buchhandels verteilen: Winterthur (deutsch), Bern (deutsch) und Lausanne (französisch). Alle müssen sich gemeinsam mit den Lernenden als „Kundschaft“ und den Leuten der Branche auf ein Berufsbild einigen. Die einzige Alternative dazu ist ein toter Beruf.
[Emil Wettstein fand, ein Weblog sei bereits ein Teil von „E-Learning“, ich selber weiss zu wenig über den Begriff, den man ja noch nicht so definitiv besetzt hat. Hier die beiden Einträge mit der grössten Resonanz von Lernenden: Müdigkeit und Petit Riens. Ich werde gelegentlich Politikverdrossenheit thematisieren, was vielleicht gerne kommentiert werden wird.]

und ewig lockt die Abschaffung

der Buchpreisbindung. Die Diskussionen darüber reichen wirklich schon fast ins Paradeis zurück, aber diese Fragen der Buchbranche beblogge ich lieber kollektiv.
Doch die Chronologie über die politische Debatte zur Buchpreisbindung in der Schweiz, die die Nationalrätin Evi Allemann gemacht hat, die muss online sein. Sie ist vollständiger als alles, was ich in der Presse gelesen habe. Voilà: Buchpreisbindung in der Diskussion.
(Danke, Mann, für das nächtliche Layouten!)

Anker lichten

An den Ostertagen liegt die Schule gestrandet wie ein träges Schiff. Sonst ist immer jemand da, backbord wird ein Kopierer angestellt und steuerbord hurtig ein vergessener Ordner gesucht. Selbst in der Ferienzeit surrt es im Maschinenraum der Verwaltung und auch am Wochenende ist Licht oben auf Brücke, wo der Hauswart wohnt.
Nur zu Ostern und Auffahrt ist alles leer. Eine emsige Leere, denn die Abschlussklassen sind ausgeflogen, machen ihre Reisen, finden und verlieren sich in den Grossstädten Europas, tun manches zum ersten Mal und lassen anders schweren Herzens.
In dieser Zeit, in der es grünt an Land, schreibe ich die Lehrabschlussprüfungen. Drei Jahre haben ich Manöver gelehrt, Bojen geworfen, die Chancen und Gefahren der freien Fahrt gezeigt. Und jetzt bleibt nichts, als winkend und etwas wehmütig am Steg zu stehen.
Den Anker lichten sie selber.

In der Zwischenzeit

…habe ich anderes geschrieben. Zum Beispiel über Widerstand als Bedingung für menschliche Entwicklung. Und über Physik und über Tschernobyl. Dazwischen habe ich Blogs gelesen. Neben den verbrannten Lateinbüchern bei Herrn Rau ging es bei Lila um eine härtere Auseinandersetzung. Bei ihr vom 24.3. an rückwärts lesen. Sie balanciert ohne zu wackeln. Chapeau.
Aber ich, ich bleibe trotz allem deprimiert.

Hinsehen!

Die Münstergass-Buchhandlung hat ein ausgezeichnetes Schaufenster. Über Gewalt. Die Gewichtung der Auswahl liegt bei der Schule. Mit gutem Grund. Denn unsere Volksschulen haben ein Gewaltproblem und unsere Aussenquartiere ganz besonders. Egal wie lange und wie oft und wie intensiv und wie strukturiert wir diskutieren, es führt kein Weg an der Reaktion vorbei. Ich will eine Amerikanisierung unserer Gesellschaft vermeiden, ich will, dass ein Kind die Regeln kennt, die es bricht, ich will nicht, dass Jugendliche die Grenzen erst vom Richter und Erwachsene sie auf dem elektrischen Stuhl erfahren.
Hinter jedem Problem, das ein Kind macht, steht ein Problem, das es hat. Aus der Integrationsarbeit, die ich schon längere Zeit mache, habe ich drei private Weisheiten im Umgang mit gewalttätigen Kindern gefiltert:
Sie brauchen Regeln.
Sie brauchen Alternativen.
Sie brauchen Wertschätzung.
Und was ich sonst noch wissen muss oder Kindern anbieten kann, die unter die Räder kommen, erlese ich mir. Danke, liebe Münstergass-Buchhändlerinnen für diese grosse Arbeit, mögen noch andere Lehrende euch erhören.
Ich glaube, ich schlage langsam die Nulltoleranz-Richtung ein. Vielleicht liegt es am eigenen Kind unter den Rädern, vielleicht daran, dass es in diesem Land Menschen gibt, die eine Synagoge samt ihrer Bibliothek und einem jüdisches Geschäft niederbrennen. Ich weiss es nicht, ich weiss nur, dass ich mich aufrege und dass ich sehr beunruhigt bin.
Das illustrieren wohl auch meine Zwischenrufe bei Herrn Rau, der eine sehr wichtige Diskussion lanciert hat.