im rauen Wind

swissinfo: Befürchten Sie nicht, dass die Krise um die Meinungsäusserungs-Freiheit den Gipfel gefährden könnte?

Moritz Leuenberger: Wir dürfen unsere tiefe Überzeugung von der Bedeutung der Meinungsäusserungs-Freiheit nicht aufgeben, um eine Krise zu vermeiden…

Ach, diese Schweizer! Unbelehrbar. Bundesrätin Ruth Dreifuss hat schon 1999 Jiang Zemin damit belästigt und Bundesrätin Micheline Calmy-Rey hat es nur dank diplomatischer Fleissarbeit geschafft, ihre Ausladung vom Türkeibesuch wieder umzudrehen. Die eine hatte ein paar tibetische Demonstranten übersehen, die andere hatte sich erlaubt, neben einem Kurden zu stehen und ihn darauf hinzuweisen, seine Anliegen bitte schriftlich einzureichen.
The World Summit On The Information Society entwickelt sich wenig überraschend. Tunesien, Ranglisten Hundertsiebenundvierzigster der Pressefreiheit 2005, bleibt bei seinen Leisten und stellt halt swissinfo ab. Nachdem schon Samuel Schmid zensuriert werden musste, reicht es denen nun wirklich, jawohl. (Ich möchte an dieser Stelle kurz daran erinnern, dass auch Inländische schon versucht haben, Swissinfo wegzufegen. Ha! Jetzt gibt es aber Auftrieb!)
Eigentlich verschaffte uns der Blick gen‘ Osten wieder einmal ein paar gute Gründe für Polemik. Aber wir sind ja nicht Broder, sondern Schweizer. Von Neutralität durchdrungen, in guten wie in schlechten Tagen. Deshalb bleibt mir als begeisterter Steuerzahlerin und Internetnutzerin nur das Wünschen übrig. Wünschen, dass unsere Initiativen ankommen. Wünschen, dass die Icann schrittweise eine internationale Organisation wird und sich nicht länger damit zufrieden gibt, ein Arm des US Handelsministeriums zu sein.
Die Idealistin sagt: Menschenrechte sind eine Aufgabe. Die Pragmatikerin sagt: Menschenrechte rechnen sich.

Meldungen zum Tage

Die Schweiz, das Einwanderungsland seit jeher. Aber es vergisst sich leicht, dass die Clavels, Boveris und Nestlés, die eigenen Grossväter und Urgrossmütter eben alle zugewandert sind.
Nach unserer Qulaifikation empfehle ich für die Unterschriftensammlung für das Referendum die Referenden folgenden Claim:
Mit diesem Asylgesetz wären wir nicht an der WM 2006.
Danke Valon Behrami, danke Philippe Senderos. Ohne euren Vorsprung aus dem Heimspiel hätt‘ s hüt nid glängt.
Erfolg ist eben nicht immer innerhalb der Landesgrenzen geboren und Prognosen lassen sich eher auf dem Fussballfeld als in der Beugehaft stellen. Hopp Schwiz.

Kampfzone: die Folge

Der Schluss des heutigen Bund-Artikels „Der Staat fährt schweres Geschütz auf“ ist mir zu schade, um in den Kommentaren zu verschwinden. Und vielleicht haben noch andere Ergänzungen und Quellen, für die ich immer dankbar bin.
Ich bin froh, dass Rudolf Balmer „meinem“ Thema konkret Aufmerksamkeit schenkt und Bericht darüber erstattet, was politisch machbar ist, um die Ghettos zurückzuwandeln in Wohnquartiere, in denen alle Kinder und Jugendlichen zur Schule gehen.

Völlig unterzugehen drohen die politischen Vorschläge, die Premierminister Villepin auch machte. Er hat indirekt eingestanden, dass es ein Fehler war, aus Spargründen die Subventionen für die Vereinigungen zu kürzen oder zu streichen, die in den Banlieue-Quartieren für ein Minimum an sozialer Kohärenz sorgen. Die Renovierung der Sozialbauwohnungen will er, wenn möglich, beschleunigen. Er versprach auch, die Stipendien für Studierende aus den Vorortsiedlungen würden verdreifacht. Da rund 15 000 Schulpflichtige dem Unterricht definitiv den Rücken gekehrt haben, sollen neu Jugendliche ab 14 Jahren, also vor dem Ende der obligatorischen Schulzeit (bis 16 Jahre), die Möglichkeit erhalten, eine Berufslehre zu beginnen.

Update 17.11. 2005: 100 Millionen waren gestrichen worden, was nun rückgängig gemacht werden soll. Heute im Handelsblatt. Thanks to Marian Wirth!

Kampfzone

Ich bedaure, dass die Konflikte in den Ghettos europäischer Städte auf Konflikte mit Migranten reduziert werden. Ich möchte auf den Artikel „Aufruhr in Eurabia“ bei SPO eingehen. Die meisten Links werden zu blogk führen, einem Weblog, das das Leben in einem Blockquartier am Stadtrand Berns dokumentiert.

Der Traum eines friedlichen Multikulti-Miteinanders zerplatzt.

Dieser Traum hat nie existiert. Was existiert, ist seine leere Hülle. Die gleiche Hülle bezeichnet das andere Lager mit „wird nie funktionieren, die haben halt eine andere Kultur!“.
Diese Hülle, egal welcher Aufschrift, diente seit jeher dem Zweck, willkürliches Tun zu rechtfertigen. Ziellos und mit den Mitteln, die eben gerade zur Verfügung standen, in die Richtung, die im jeweiligen Land gerade trendy war, wurde Quartierarbeit gemacht. Man hielt es mit den Aussenquartieren, wie am Anfang mit der Entwicklungshilfe: hie und da etwas ausprobieren und wenn’s nicht klappt, erfährt’s ja keiner.

Dilain ist Sozialist und Vizepräsident des französischen Städtetages. […] Clichy-sous-Bois besteht förmlich aus Schulen, Mutter-und-Kind-Zentren, Sozialbüros, Parks und einem Collège wie aus dem Architektenwettbewerb. In der Stadtbibliothek läuft der Aufsatzwettbewerb „Ich komme von fern, mein Land hab ich gern“.

Claude Dilain ist seit zehn Jahren Bürgermeister von Clichy-sous-Bois. Er gehört sicher zu denen, die „Integration“ als Aufgabe sehen, die durchdacht, gut strukturiert und ohne zu knausern gemacht werden muss. Er erinnert mich ein wenig an Boris Banga, den Stadtpräsidenten von Grenchen. Grenchen ist eine Kleinstadt, einst reich durch die Uhrenindustrie, heute verarmt und mit einem überdurchschnittlichen Arbeitslosen- und Ausländeranteil. Banga tut sein Möglichstes, der Verlotterung beizukommen und hat es mit seiner Forderung nach dem Kopftuchverbot in Schulen bis in die Boulevardpresse geschafft. Seine Probleme sind bekannt, aber er hat kein Geld.
Die Secondos und Secondas in Europa sind inzwischen vierzig Jahre alt! Die vertane Zeit müssen nicht nur die Stadtpräsidenten und Bürgermeister teuer bezahlen. Wir haben nicht einfach ein „Eurabia“ in den Ghettos, wir haben den Import von Mafia-Strukturen aus der ganzen Welt erlaubt und den Frauen nie zugehört. Zum Beispiel Samira Bellil, auf die ich schon an anderer Stelle hingewiesen habe, wurde in Frankreich bis zu ihrem Tod kaum wahrgenommen.
Das Armutsproblem (geistige Armut ist mitgemeint) in Europa beschränkt sich nicht allein auf arabische Migrantinnen und Migranten, es trifft auch Einheimische, überall. In der Schweiz zum Beispiel regiert seit fünfzehn Jahren Sparpolitik auf Kosten der Grundversorgung an Bildung, Kultur und Sozialwesen. Diese nagende Minderung der Wirksamkeit von Massnahmen fördert die Ghettoisierung, die Radikalisierung, sie verhindert Gleichheit und besonders effektvoll die Entwicklung von Intellekt.

„Die Logik dieser Unruhen“, sagte ein Polizeioffizier, „ist die Sezession“ – die Abtrennung und Verselbständigung ganzer Viertel und Gemeinden, Zonen eigenen Rechts, zu denen die Staatsmacht keinen Zutritt mehr hat, wenn sie nicht als feindlicher Eindringling empfunden werden will.

So ist es. Aber warum waren die nicht jeden Tag da? Warum fährt die Polizei nicht seit dreissig Jahren regelmässig Streife in gefährdeten Siedlungen? Ich und viele andere haben diese Frage hier in Bern oft gestellt und es hat sich gelohnt. Dennoch ist die Polizei so knapp dran, dass die Polizeistreifen in die Villenviertel Aussenquartiere jederzeit wieder gestrichen werden könnten.

Die Kampfzone weitet sich aus, wie es der bleiche Autor Michel Houellebecq in seinem Bestseller formuliert. Und es sieht ganz danach aus, als würden die wurzellosen Zuwanderer das Leben in Europa auf dramatische Weise verändern.

Dieser Abschluss widerstrebt mir als Buchhändlerin. Wer an Fachlichem nicht interessiert ist, verzichte aufs Weiterlesen.
„Ausweitung der Kampfzone“ (Orig. „Extension du domaine de la lutte“ ) von Michel Houellebecq war leider noch kein Bestseller, sondern vielmehr ein Geheimtipp, von Wagenbach entdeckt und mit Verzögerung von fünf Jahren ins Deutsche übersetzt. (Houellebecq ist danach den dicken Checks gefolgt – dass er jetzt bei Dumont erscheint, macht seine Literatur nicht besser.)
Die Geschichte erzählt ein Programmierer, der hauptsächlich für das französische Landwirtschaftsministerium arbeitet. Ausser an zwei Araber, von denen einer vor dem Protagonisten auf den Boden spuckt, kann ich mich an nichts erinnern, das in einem Zusammenhang mit „Eurabia“ stehen würde.
Doch der Begriff „Kampfzone“ ist ein Zufallstreffer. Er wird bei Houellebecq benutzt als das, was Kinder ausweiten, wenn sie in Kriegsspielen nicht mehr mit Plastiksoldaten, sondern eine Rolle spielen, das was man dehnt, wenn man die Regeln hinter sich lässt, das, was dazwischen liegt, wenn man am einen Ufer losschwimmt und es weder ans andere noch zurück schafft. Als Ausweitung der Kampfzone bezeichnet er die Erkenntnis, dass das Leben nichts kann als misslingen.
Wenn schon als Aufhänger verwendet, hätte eine genauere Lektüre von Houellebecqs Erstling dem Artikel bestimmt nicht geschadet.

Tischgespräch [3]

Mutter:
Wie fandest du eigentlich deine Hebstferien?
Kind:
Die waren in Ordnung.
Mutter:
Was war das Schönste?
Kind:
Das Sportlager. Doch. Aber wenn du nicht 2 bis 5 Kollegen findest, bist du verloren. — Und es war sehr teuer!
Mutter:
Fidest du?
Kind:
Ja, doch es war eben auch sehr gut. Aber 250.— Fr. ist sehr viel Geld!
Vater:
Du musst es genau umgekehrt betrachten. 250.— Fr. reicht nicht für das, was du dort bekommen hast.
Kind:
Und wer bezahlt dann den Rest?
Vater:
Alle Erwachsenen. Mit ihren Steuern. Auch die, die keine Kinder haben und die, die ihre Kinder nicht ins Sportlager schicken. Deshalb ist es besonders dumm, immer über das Steuern zahlen herzuziehen.
Kind:
Aha. Weisst du denn, ob deine Steuern jetzt für Frühstück oder für die Betten gebraucht wurden?
Mutter:
Nein, ich weiss nicht, wofür gerade meine Steuern gebraucht werden. Ich weiss aber, wo grundsätzlich Steuern gebraucht werden, weil es sonst das Angebot gar nicht geben würde. Eben zum Beispiel bei deinem Sportlager. Und beim Theater. Da könnte ja niemand mehr hingehen, wenn die Theaterleute für einen Platz 400.— Fr. verlangen müssten.
Kind:
Ihr könnt also nicht bestimmen, wofür eure Steuern gebraucht werden?
Vater:
Nein, nicht direkt.
Mutter:
Manchmal würde ich schon gerne hinschreiben: „bitte nicht für Panzerabwehrminen verwenden.“ Aber das geht nicht. Denn die, die Panzerabwehrminen wichtig finden, würden dann schreiben „bitte nicht für Junkies verwenden“ oder so. Das hebt sich alles auf.
Kind:
Ah klar, sonst würde jeder etwas hinschreiben, weil jeder etwas will und etwas nicht. Und so könnten die bei den Steuern ja gar nicht richtig arbeiten bei dem Durcheinander.
Mutter:
Yep. Und über die grossen Ausgaben und über die Richtung, wie der Staat sein Geld brauchen soll, können wir ja abstimmen.
Kind:
Da verliert ihr aber auch!
Mutter:
So ist es. Doch ob Abstimmen oder Steuern zahlen: es nicht zu tun ist keine Alternative.

Khomeinis langer Schatten

Nachdem die deutsche Presse online wie offline die Demos zum Al-Quds-Tag eher desinteressiert kommentiert hat (und ich das gar nicht schlecht finde), empfehle ich folgenden Blog-Lauf:
Start bei Bessere Zeiten, via dortigen Kommentar zum passenden Eintrag bei classless und von dort zur History bei scrupeda.
Und wenn der Iran schon so viele Schlagzeilen generiert: Was macht eigentlich Shirin Ebadi, die Friedensnobelpreisträgerin 2003? Immer noch vorgeladen – ohne Angabe von Gründen, versteht sich – beim Revolutionsgericht?
Wie der Al-Quds-Tag und die Fatwa gegen Buchmenschen ist auch das Revolutionsgericht eine Erfindung Khomeinis. Das sind die, die in den Achzigerjahren im iranischen TV Mütter für die Todesstrafe ihrer missratenen aufständischen Söhne flehen liessen. Flugblätter verteilen hat gereicht dafür. Das kennen wir doch irgendwoher.
Wer weiss, was Ahmadinedschad noch einfällt. Im Moment ist er abgesehen von seiner Rhetorik noch ziemlich schlampig. Wie anders können wir uns sonst das erklären?
UPDATE: Repolitisiert das Internet (…) by eDeomokrat.