Das Schöne an der Rütli-Schule-Diskussion ist, dass ich dazu gar nichts zu sagen brauche, weil ich es entweder schon gesagt habe, ein anderes Blog es schon gesagt hat oder eine Zeitung es gleich sagen wird. Ich habe mich das vergangene Jahrzehnt oft verteidigen müssen, aber im Moment bin ich echt bei den Leuten. Nachdem sich die NZZ am (letzten) Sonntag noch entblödet hat „Der Multikulti-Mythos wankt“ zu titeln, vermeldet heute sogar SPON mein Credo: Multikulti ist nicht erfolgreich oder gescheitert, sondern Realität. Die ZEIT hatte es schon viel früher gemerkt.
Das Tragische an der Rütli-Schule-Diskussion ist, dass sie nichts ändern wird. Dass sich damit kein einziger tropfender Wasserhahn flicken lässt und kein noch so kleiner Band-Raum daraus entstehen kann. Eher wird einer geschlossen („Ende der Kuschelpädagogik“).
Und ich korrigiere Test Nr. 1-13 zum Thema Zwischenbuchhandel, Kreditoren und Mehrwertssteuer.
Zwischen Amüsement und Verbitterung schwanke ich, wenn sich hinter jeder neuen Integrationskrise ein sozialdemokratischer Bürgermeister aus der Schale pellt, der eigentlich schon lange gewarnt hat. Nun, Heinz Buschkowksy (Neukölln, D), Dilain Claude (Clichy-sous-Bois, F) und Boris Banga (Grenchen, CH) werden bald nicht mehr allein, sondern an der Spitze einer langen Polonaise durch die überhitzten und auf Hirsebrei heruntergesparten Küchen Europas wanken.
Und ich korrigiere Test Nr. 14 – 20 noch immer zum gleichen Thema. Und einen Nachholtest zu Nummern und Normen.
Von mir aus kann man gerne sämtliche individuelle, nicht für den Unterricht verwendete Elektronik auf dem Schulareal verbieten, Handys und iPods können mir da wirklich gestohlen bleiben. Aber die Sanktionen und deren Umsetzung müssten pro Schule klar sein. Alternativen müssten auf- und ausgebaut werden. Kurzfristig hiesse das: Räume für das Abspielen guter Filme. Mittelfristig: Permanente Schulsozialarbeit mit dem ganzen Friedensstifter-Programm, Pausenbetreuung inklusive gesunde Ernährung und zielorientierten Medienkonsum, an dem alle teilhaben können, die wollen. Langfristig: Mediotheken mit Büchern, Lernspielen und einer freundlich-bestimmten hübschen Dame à la Mary Poppins am Desk. Ja, ich weiss, dass das unrealistischer ist als das Leben auf dem Mars.
Und ich korrigiere und layoute 16 Prüfungsfragen eines Kollegen zum Thema Warenkunde.
Beim Bündeln des Altpapiers begegnen mir noch einmal die Fragen an Einbürgerungswillige, die die NZZ am Sonntag aus verschiedenen europäischen Ländern gesammelt hat (nicht online). Sie scheinen mir furchtbar kompliziert. Ich würde lieber mündlich und mehr auf unsere Verfassung bezogen fragen, denn hier liegt mein häufigstes Integrier-Problem. Man unterhält sich über alles, nur nicht darüber, wie etwas hier gesetzlich geregelt ist. Jede Frau darf ein Kopftuch tragen, wenn sie nicht irgend eine andere Uniformpflicht oder Hausordnung unterschrieben hat, aber niemand hat das Recht, sie dazu zu nötigen.
Ich weiss ja selber nicht, was kluge Fragen wären. Gut Integrierte sollten sie ja wirklich einfach beantworten können, sonst wird es absurdes Theater.
Ich korrigiere dann mal den Plan der Lehrabschlussprüfung und ergänze die Schulwebsite um die Daten.
Vielleicht würde ich fragen:
Sicher ist es wichtig, dass Einbürgerungswillige wissen, dass Homosexualität bei uns nicht strafbar und für die meisten viele ganz gewöhnlich ist. Aber für mich ist die Akzeptanz von Homosexualität unter anderem eine Folge davon, dass wir hier unsere Kinder weder zusammenschlagen noch enterben noch zur Reproduktion mit einem von uns gewählten Partner zwingen dürfen.
Und jetzt korrigiere ich Test 1-10 zum Thema „ökologische, technologische, soziale und ökonomische Einflüsse auf Ihr Unternehmen“. Und dann ist es genug.
Das Verrückte ist, wenn man vernünftig nach Antworten sucht, sind die kreischenden Populisten schon lange zum nächsten Punkt übergegangen. Argumente werden gar nicht wahrgenommen. Nur die Lautstärke.
Differenzierung (auf Faulheit? Schnelllebigkeit? Dummheit?) ist eines der grössten Defizite, Hokey, da bin ich absolut mit dir einig, man sieht es auch bei anderen Themen wie der Atomenergie, die du aufgegriffen hast.
Aber Artikel, wie der der Schuldirektorin heute bei SPON und diese Woche in der ZEIT und in diversen französischen Zeitungen sind schon ein grosser Fortschritt. Artikel, die erst einmal aufzeigen, wie es ist, anstatt den Jugendlichen oder dem Islam oder der antiautoriären Erziehung der Achtundsechziger die Schuld zu geben.
Es ist ein Paradoxon unserer heutigen Gesellschaft, immer nach mehr Sachlichkeit zu rufen und gleichzeitig der Skandalisierung ins Netz zu gehen.
Ich gebe zu, ich war ja auch erleichtert, dass die Süddeutsche (von der war das zu erwarten) aber auch der Spiegel sich deutlich gegen diese platt-nationalistische Sicht des Herrn Baring in der Bild gestellt haben.
Erleben wir da gerade eine (wenigstens publizistische) Trendwende? Wäre ganz im meinem Sinne, wenn man sich endlich einmal ernsthaft eines der wichtigsten Themen unserer Gesellschaft annehmen würde.
Ehrlich gesagt, habe ich keinen blassen Schimmer, wie es diesbezüglich in der Schweiz aussieht. Habt Ihr auch dieses dreigliedrige System?
(Im übrigen eine tolle Idee, das mit den wechselnden Bilder im Header!)
Danke für das Kompliment wegen dem Header, Idee ist schon von mir, aber ich hatte Hilfe bei der Umsetzung.
Du stichst mit deiner Frage in mein persönliches Wespennest, es wird also länger werden und ein missionarischer Unterton wird sich schlecht vermeiden lassen….
In der Schweiz kennen wir das Problem auch. Das einzige, was wir weniger haben sind Ghettos, in denen nur Leute gleicher Herkunft leben. Aber Ghettos mit Bildungsfernen und Einkommensschwachen gibt es durchaus und leider auch viele Parallelgesellschaften, die relativ ungehindert und über Generationen an der Integration vorbeigehen.
Zur Teilung: Ja, wir haben ein ähnliches System. Die 1. bis 6. Klasse besuchen alle gemeinsam (was den Privatschulen Aufwind bringt, weil es mehr Durchmischung ist, als der runtergesparte Durchschnittslehrer bewältigen kann), danach gibt es eine Trennung zwischen Realschule, Sekundarschule und Gymnasium (die Durchlässigkeit variiert nach Kanton). Die Realschülerinnen und Realschüler haben ganz übel schlechte Karten auf dem Lehrstellenmarkt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist eines unserer dringendsten Probleme, denn die Übergangslösungen platzen aus den Nähten und werden gleichzeitig mit jedem Sparpaket reduziert. Die Antwort der bürgerlichen Parteien – die im Kanton Bern sowie im Land die Mehrheit haben – ist lapidar: Die demographische Entwicklung wird das von alleine lösen.
Ich empfinde die Situation zwar als grauenvoll, aber schon etwas weniger Gewalt geladen als in Deutschland und Frankreich. Doch Drohungen sind durchaus an der Tagesordnung, auch gegenüber Lehrpersonen.
Sehr grosse Hoffnung und viel Gratisarbeit setze ich in die Berufsbildungsreform, die eigentlich sehr gut angelaufen ist. Gesetzesauftrag: „Kein Abschluss ohne Anschluss.“
Also: Wir kennen die Attest-Ausbildung, eine Art Vorlehre für Jugendliche mit Verhaltens- und Sprachdefiziten (die meisten Lehrstellen bieten hier die Staatsbetriebe). Neu kann also, rein theoretisch, ein Realschulabgänger via Attestlehrstelle – regulären Lehrabschluss – Berufsmaturität (entspricht Abi) und Fachhochschule an die Uni. Auch wenn es im Moment noch drei Detailhandelsangestellte pro Jahr sind, die die Berufsmaturität in Bern schaffen, es ist der richtige Weg (wenn man genügend Lehrstellen anbieten kann).
Was mich in Deutschland so erstaunt, ist das mangelnde Bewusstsein der Konsumierenden, Firmen zu berücksichtigen, die ausbilden. Bei uns gibt es manchmal Kampagnen und Klebebilder neben dem Kreditkarten-Aufkleber an der Ladentür: „Wir bilden aus!“ und das ist dann wie ein Label, auf das auch die eher bürgerlich geprägten KMUs grossen Wert legen. Dass ein Land die Berufsausblidung fördern muss, darüber herrscht im Grundsatz bei den Helvetiern so viel Einigkeit wie sonst selten. Und es gibt viele ganz verschiedene Leute und Branchen, die etwas dafür tun.
Tanja,
sehr schöner Eintrag, mal wieder. Wenn mir das Thema nicht bis zur Unterlippe stehen würde (zwei innerparteiliche Integrations-Arbeitsgemeinschaften sind vielleicht doch eine zuviel), würde ich dazu auch was schreiben…
Bei uns gibt es manchmal Kampagnen und Klebebilder neben dem Kreditkarten-Aufkleber an der Ladentür: “Wir bilden aus!” und das ist dann wie ein Label, auf das auch die eher bürgerlich geprägten KMUs grossen Wert legen.
Die gibt es bei uns auch. Sie fallen mir allerdings nur bei Bäckereien auf, was daran liegen könnte, dass ich ausser Bäckereien kaum andere Geschäfte aufsuche ;-).
Dass ein Land die Berufsausblidung fördern muss, darüber herrscht im Grundsatz bei den Helvetiern so viel Einigkeit wie sonst selten.
Ach, bei uns herrscht doch nur Einigkeit darüber, dass Deutschland in der WM-Vorrunde ausscheidet. Mehr Einigkeit gibt es in D momentan nicht, imho. Egal, worum es geht.
Du, Marian, bei uns steht das auch an Bürotüren und im Entrée zum AKW. Vielleicht bildet sogar Köbi Kuhn aus. Es gibt nämlich einen neuen Beruf „Logistiker/in“. So eine/n könnte er sicher irgendwo einsetzen. Ich hoffe nicht, dass Deutschland schon so früh ausscheidet, ich habe D an der letzten WM gerne spielen sehen. (Aber da bin ich wohl in der ganzen Schweiz die einzige, leider.) Hey, viel Glück in den beiden Integrations-AGs! (Kenn‘ ich doch von irgendwoher…)
Wenn ich dann allerdings die Schmiergeld-Kampagne betrachte, frage ich mich, ob die Wertschätzung für ausbildende Lehrbetriebe wirklich gross ist…
Christoph, es handelt sich bei der Kampagne um erklärte Schwarzmalerei. Die SP ist selber ein Lehrbetrieb. Im Gegensatz zur FDP. Danke.
Ein großartiger Beitrag.
Ein Genuß, ihn zu lesen.
Ist Hilflosigkeit die einzige Antwort?
Oder Stoiberismus?
Oder was sonst?
So einen Beitrag mag man noch lesen, wenns gegen Mitternacht geht. Alle Achtung!
Danke, 1st. Stolle, Stoiberismus geht nicht, der tritt die Chancengleichheit endgültig in den Staub und wir haben kaum genügend Kinder, um es uns leisten zu können, einen Drittel fallen zu lassen. Lisa Rosa hat Wege aufgezeigt, allerdings an einem Beispiel von schon hohem Niveau.