Swissness II

Das war Tells Geschoss
Was ist Swissness?
Es wäre mir eine Erleichterung, dem immer öfter verwendeten Begriff Inhalte zuordnen zu können, aber ich scheitere seit seiner Erfindung an der Identifizierbarkeit von Swissnesspartikeln.
Vielleicht braucht Swissness zu viele Indizien?
Dass man uns von Belgien (auch mehrsprachig, auch Schokolade), den USA (auch Banken, auch Chemie) oder Japan (auch vorbildliches Telefonnetz und hohe Handydichte) unterscheiden kann, haben wir hauptsächlich unserer geografischen Lage, unserer exzessiven Form direkter Demokratie und unserer quadratische Flagge zu verdanken.
Als Binnenland kannten wir weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit Kolonien zu bunkern. Wir liegen im Auge des Hurrikans und die Welt scheint sich darauf geeinigt zu haben, sich die Schweiz als Ort der Erholung und Stabilität zu erhalten. Und weil wir glauben, das sei unser Verdienst, haben wir beschlossen, uns darüber zu definieren. Kein Wunder also, reagierten wir geschockt, als Ben Vautier zur Weltausstellung 1992 die lieb gewonnene These entlarvte.
Es lohnt sich auf der Suche nach Antworten einen Blick auf das vermeintliche Schweiztum in der Kunst zu werfen.
Die Schweiz hat zahlreiche Künstlerinnen und Künstler hervorgebracht und beherbergt, doch nur wenige lassen sich eindeutig dem Land zuordnen. Für die Buchhändlerin ist natürlich erfreulich, dass zu den wenigen ausgerechnet viele Autoren gehören: Gotthelf, Keller, Frisch, Dürrenmatt und sogar Spyri fanden zu Lebzeiten und auch im Inland Anerkennung.
Die meisten anderen Künstlerinnen und Künstler waren freiwillig (wie Meret Oppenheim – der bis heute nur mässig Respekt gezollt wird) oder gar zwanghaft (wie Paul Klee – zu Ehre gekommen dank dem Absatz künstlicher Hüftgelenke) ausserhalb bekannt geworden. Ob C.F. Ramuz oder Robert Walser, ob Jean Tinguely oder Bernhard Luginbühl, ob O.H. Ammann oder Jacques Herzog, sie lebten häufig im Ausland und identifizierten sich jeder mit einer ganz anderen Schweiz.
Vielleicht ist wenigstens Understatement schweizersich?
Die berühmten Schweizer Schriften „Helvetica“ von Max Miedinger (1967) und „Frutiger“ von Adiran Frutiger (1976) gelten aus unauffällig und sind für den internationalen Gebrauch und Missbrauch gleichermassen geeignet. Man begegnet ihnen zwar überall, aber das hiesige Kind, das in der Schule jemals etwas davon gehört hätte, ist mir noch nicht über den Weg gelaufen. Und dass die vermutlich weltweit grösste Plakatsammlung bei einem der besten Serigrafen im Keller lagert, weiss wohl nicht einmal das Bundesamt für Kultur.
[Anekdote gem. oraler Tradition und bar jeder Quellenangabe: Japan zeichnet seit ca. 1970 den weltbesten Siebdrucker aus. Als der Hinterkappeler das erste Plakat einschickte, bekam er eine kurze Antwort, er solle bitte die Teilnahmebedingungen studieren, es gehe um Siebdruck, nicht Offset. Der Drucker telegrafierte umgehend, es handle sich bei dem Plakat auch darum. Worauf eine japanische Delegation ins Dorf anreiste, um sich zu vergewissern und ihm danach den Preis über Jahre in Folge verlieh.]
So wie Swissness nach dem Swissairdebakel dankbar aufgegriffen wurde, so importieren Kunstmanager nun die peinliche Kreation „Swiss Style“. Immer mehr Veranstaltungen und Studien werden damit garniert, als handle es sich dabei um einen stehenden Begriff aus der Nachkriegszeit, was meines Wissens grundfalsch ist.
Weil sich die gemeine Buchhändlerin doch nicht allzuweit aus dem Fenster lehnen sollte, habe ich mich beim (hier mit Bild zitierten) Lieblingsgrafiker erkundigt.
Er antwortete, es gäbe ganz entschieden keinen Schweizer Stil. Den einen dazu zu zählen und den anderen nicht, sei vergebene Liebesmüh und – mit Verlaub – lächerlich. Im Gegenteil, gerade die bekannten Plakatkünstler hätten sich an verschiedensten Grafikern orientiert, an inländischen wie ausländischen. Wichtig war ihnen der Zusammenhang von Grafik und Inhalt, wie ihn besonders deutsche Nachkriegsgrafiker gesucht haben. Inhalt zu trasportieren war nicht nur für das Kunst- und Werbeplakat relevant, sondern auch für die neuen politischen Bewegungen, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten und die häufig in der Schweiz beheimatet waren (siehe oben: geografische Lage, Hurrikan-Auge). Besonders findet er die Schweizer Haltung. Die jahrelange Überzeugung, weder ästhetische Tradition noch Kunstakademien zu forcieren, sondern einfach mit einer Berufslehre ein Handwerk weiterzugeben, den Einfluss der Mehrsprachigkeit auf die Typografie aufzugreifen und mit Charme weiterzuentwicklen, zeugt durchaus von Originalität.
La Suisse n’existe pas. Das ist das Schweizerische an der Schweiz. Es ist kein kulturelles Defizit, das nach Verinfachung schreit, sondern eine Stärke, von der wir uns noch einmal überlegen sollten, ob sie von „Swissness“ repräsentiert wird.

14 Gedanken zu „Swissness II“

  1. La Suisse n’existe pas. Das ist das Schweizerische an der Schweiz.
    Von meinem Standpunkt aus gesehen definiert sich die Schweiz vorwiegend über das, was sie nicht ist. Sie ist keine homogene Masse und hat daher keine andere Wahl; kein anderes Land in Europa verbindet so viele Sprachen und [judeo-christlichen] Kulturen, und es kommen ja laufend mehr dazu. Die religiösen und sprachlichen Grenzen sind nicht deckungsgleich gezogen, was den Reiz und die Herausforderung für das Land noch verstärkt und vielleicht Angst um den Zusammenhalt und mancherorts einen irrationalen Abschottungsreflex auslöst. Zudem soll die Schweiz die direkteste Demokratie weltweit sein, was mich besonderes beeindruckt und – siehe Bundesratswahl vergangener Woche (sorry!) und Geschichte der Frauenstimm- und wahlrecht – auch frustriert.
    Paradoxerweise bin ich eine der angeblich über 500’000 Schweizer/Innen die zudem noch eine andere Staatsbürgerschaft besitzt, was für die Offenheit der Schweiz und ihre Bürger spricht. Kann man dieses Land überhaupt erklären? Ich gebe es gerne zu; ich habe eine zwiespältige Beziehung zur Schweiz. Was ja auch eine gut schweizerische Eigenheit ist…

  2. Oh ja, ein gespaltenes Verhältnis zur Schweiz zu haben ist völlig natürlich 😉 Danke für die schöne Zusammenfassung deines Standpunktes.
    Und ja, ich kenne die Amnesty-Kampagne, habe mich allerdings nicht damit befasst aus welchem Haus sie kommt. Der Claim ist 1A, aber die Bilder – da bin ich nicht ganz überzeugt, aber ich bin ja auch nicht hauptsächlich das Zielpublikum.
    Interessant ist die Tendenz der Organisationen, bei ihren Kampagnen Perspektivewechsel vorzunehmen. Helvetas hatte eine mit Wasser (Nicht online aber in Erinnerung: „…als Frau von 36 Jahren investieren Sie soundsoviel Zeit in die Wasserbeschaffung.“ Dann Bild/Film und dann die Auflösung: „In Somalia“.)
    Terre des Hommes hatte eine gegen Prostitution und jetzt eine mit Jugendlichen. Dem Kind ist sie jedenfalls aufgefallen und hat Anlass zu Diskussionen gegeben.
    Ich finde das Plakat ein enorm wichtiges Medium.

  3. Ein enorm wichtiges Medium sicher, dessen Bedeutung mit der im täglichen Leben steigenden Reizüberflutung leider abnimmt.
    Korrigendum: Die Schweiz ist eine Fussballmannschaft! 🙂

  4. Ich bin mir nie sicher, ob die Bedeutung abnimmt oder ob die Wahrnehmungsfähigkeit abnimmt und auch nicht ob das das Gleiche ist.
    Das geht auch in ein Thema hinein, das mich sowieso beschäftigt: Ich glaube, dass wir im Moment in der Schweiz zwar gute Grafiker haben, aber fast keine Leute mehr, die gute Grafik überhaupt erkennen.
    Diese Bedenken habe ich auch bei der deutschsprachigen Literatur.
    (Gewonnen, jawohl! Und ich hatte Weiterbildung zum Thema Umgang mit Lernschwäche in einem Raum, der über einem Restaurant lag…)

  5. Gute Grafik, na ja. Könnte man die berühmt-berüchtige Plakatserie der Zürcher SVP als „gute“ Grafik bezeichnen? Gelungen war sie auf jeden Fall; sie hat ihr Zielpublikum erreicht *und* Entrüstung ausgelöst.
    Plakativ-primitiv eben. Aber nicht gut.
    Bei der deutschsprachigen Literatur muss ich leider passen. Ja, ich schäme mich zutieftst. Ganz ohne Sarkasmus. Vielleicht könnte mir die Buchhändlerin einige Lesetipps weiterreichen?

  6. Nein, das war relativ gute Werbung, aber nicht gute Grafik. Mit der guten deutschsprachigen Literatur meine ich mehr, dass es sie noch immer gibt, aber dass es immer weniger Leute gibt, die sie erkennen.
    Wenn du sonst Englisch liest, würde ich empfehlen:
    1. Zuerst in eine Buchhandlung in deiner Nähe gehen und dich inspirieren lassen.
    2. Online-Tipps für Vero (ohne Gewähr):
    Irene Dische (schreibt vorwiegend Amerikanisch, erscheint aber verspätet oder gar nicht in Amerikanisch), dann Geschichten von Erwin Koch und Judith Hermann. Und weil es hier um Swissness geht, noch zwei Schweizer: Mundart wäre meine Empfehlung Ernst Burren (äusserst zeitgenössisch, auch wenn man es dem merkwürdigen Titel nicht anmerkt!) und als Neuerscheinung würde ich Peter Zeindler lesen.

  7. Danke für die Tipps an Vera – ich habe seit der Uni nichts mehr von Ernst Burren gelesen, muss ich gleich mal ändern.
    Ich habe mir heute zwar schon ein Buch gekauft – aber keine deutschsprachige Literatur. (R.L. Stevenson – die Ausschlachter. Etwas für heisse Tage am See.)

  8. Kein Problem, Katia. 🙂
    Ha! Mein Adrenalinspiegel steigt…
    Uebrigens, merci vilmal für die Shakespeare’schen Geburtstagswünsche. Du warst nicht zu spät. Morgen. Ich melde mich bald. xxx

  9. Der Mensch hat einen guten Geschmack und erwähnt vor allem Menschen und Kunstwerke (vielleicht abgesehen von Ursula Andress, welche übrigens aus dem gleichen Berner Vorort stammt wie Michelle Hunziker), die mehrere Schweizer (?) Tugenden auf einmal repräsentieren.

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