Immer zu spät

Gestern hatte ich Dienst am Stand des Quartiervereins. Ein neues – saubereres – Quartier in der Nachbarschaft wurde eingeweiht. Ich war da, in bester Manier über das Bestehende Auskunft zu geben. Leider hat’s nicht geklappt mit der Standbeschriftung. Als ich merkte, dass unser Verein keine ansehnlich vergrösserbare Vorlage seines Logos hat, war’s zu spät für eine Vektorgrafik und ein Transparent.
Nur ein Beispiel meiner gegenwärtig permanenten Verspätungen. Während ich das eine überfliege, sollte ich eigentlich dringend das andere gegenlesen, habe jedoch keine Ahnung mehr, was zuerst versprochen war. Die Doodleterminumfragen a-c überschnieden sich längst mit denen x-z. Beim Korrigieren muss ich höllisch aufpassen, dass ich nicht die Lehrjahre und bei den Stellvertretungen (Grippenwelle) nicht die Zimmer verwechsle.
Wo ich bei Sitzungen sonst eher zu den früh Eintreffenden gehöre, hechte ich dieser Tage als Letzte dazu. Zum ersten Mal im Leben musste ich einen Weiterbildungstag absagen, weil ein anderer – vergessner, übersehner, zu spät erhaltener? – Termin Priorität hat.
Ob meine neue Unzuverlässigkeit an der Unfähigkeit Nein zu sagen oder an herbstlicher Ineffizienz liegt, ist im Moment einerlei. Für nächste Woche hänge ich mir einfach ein Schild um: „Ich bitte um Entschuldigung.“

Kisses from New York

Art Spiegelman, Küsse aus New Yors, S. 83

You have to look very closely at the picture before you notice the towers. They are there and not there, effaced and yet still present, shadows pulsing in oblivion, in memory, in the ghostly emanation of some tormented afterlife. When I saw the picture fot the first time, I felt as if Spiegelman had placed a stethoscope on my chest and methodically registered every heartbeat that had shaken my body since September eleventh. Then my eyes filled up with tears. Tears for the dead. Tears for the living. Tears for the abominations we inflict on one another, fort the cruelty and savagery of the whole stinking human race.
Then I thought: We must love one another or die.
Paul Auster, 2002

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Schau-Schule

Ich diskutiere ständig mit anderen Lehrerinnen und Lehrern. Einerseits wiel’s zum Job gehört, andererseits weil ich das gerne mache. Schule gibt viel zu reden, weil viele dran beteiligt sind. Ich habe meine Meinung im Laufe der Jahre verschiedentlich revidiert.
In zwei Bereichen tue ich mich schwer: Unterrichtsbesuch und Eltern-, bzw. Lehrmeisterabend. Hier herrscht die Ansicht vor, man „solle keine Show machen“. Sondern so auftreten, wie man halt sonst auch immer auftrete.
Das finde ich überhaupt nicht! Wann alles geben, wenn nicht zu so einem Anlass? Wenn eine Vorgesetzte, ein Beirat, eine Delegierte des Kantons oder wer auch immer eine Probelektion von mir besucht, dann reisse ich mir ein Bein aus. Wenn die Ausbildungsverantwortlichen meiner Einladung folgen, dann ist es doch selbstverständlich, dass ich mein Bestes tue und nicht bloss Normalität abbilde.
Es wäre toll, man müsste keine Show machen, es wäre schön, wenn der Unterricht immer so gut wäre wie in der Probelektion und alle so überzeugend und nett wie am Lehrmeisterabend. Aber jeder versteht, dass Alltag auch anders aussehen kann.
Sicher, viele Kolleginnen und Kollegen, die sagen, sie machten bei solchen Gelegenheiten „sicher keinen Zirkus“, verhalten sich ja dann trotzdem anders, als an normalen Schul- und Arbeitstagen. Zum Glück.
Wenn eine Mutter nämlich an einen Elternabend kommt, bei schlechter Luft auf einem zu kleinen Stuhl im zu engen Kreis sitzt, miserable Kopien kriegt und geduzt wird („ich begrüsse euch zum Elternabend der 2. Klasse…“) sieht sie nicht in erster Linie Authentizität, sondern bloss, dass sich die Schule nicht einmal mehr bemüht.

Tischgespräch [35]

Kind:
Wir haben wieder einen Praktikanten.
Mutter:
Und – wie ist er so?
Kind:
Gut. Und der schon der zweite, der sogar gut angezogen ist. Nur die Uhr trägt er mit dem Zifferblatt nach unten. Dann macht er immer so [demonstriert eine rasche Bewegung des Handgelenks]. Aber er hat die Zeit auf die Sekunde im Griff. Heute sagte er „ihr könnt das Heft schliessen“ und danach hat es geklingelt.
Mutter:
Perfekt. Nicht zu überziehen ist heilige Lehrerpflicht. Du, spielt es eigentlich eine Rolle, wie ein Lehrer angezogen ist?
Kind:
Nein, eigentlich spielt es keine Rolle. Es fällt halt einfach auf, wenn einmal einer gut angezogen ist.
(…)
Blöd ist aber, wenn einer aus dem Mund stinkt.
Mutter:
Hast du einen?
Kind:
Ja, der [Fach X]-Lehrer.
Vater:
Ach, ist das fachspezifisch? Du hattest doch schon einmal einen anderen [Fach X]-Lehrer mit Mundgeruch?
Kind:
Nein, nicht ich. Das war Titeuf.

Wochenretraite

Letzte Woche war in vielerlei Hinsicht unerfreulich und das war auch die Grundstimmung, die ich ins Wochenende mitgenommen habe. Nun, da dieses vorbei ist, bin ich wieder in the Mood, das Gute zu sehen:

  • Die junge Sachbearbeiterin unserer Schule, die ebenda auf dem Fussgängerstreifen überfahren wurde, wird gesund; etwa in einem Jahr.
  • Die Lernenden im ersten Lehrjahr sind genau so freundlich, wie sie mir scheinen; sagen die Kolleginnen und Kollegen, die sie ebenfalls unterrichten.
  • Die neue Nummer unserer Schulzeitung „Pegasus“ ist fertig und ausgeliefert. Zusammen mit einem kleinen Planer für unsere Abteilung und den bereits erwähnten Buchzeichen.
  • Mit meiner Meinung, dass die Gewalt in der Schule vom Kind ein inakzeptabler Ausmass erreicht hat, stehe ich nicht allein.
  • Meiner Nichte gestern ein Like-a-bike zu kaufen, war eine hochamüsante Angelegenheit.
  • Mit lieben Verwandten auf dem Piz Gloria ein Schnitzel zu essen ebenfalls.
  • Ich komme auf dich zu

    Seit Killerphrasen in Verruf geraten sind, bekommt engagiertes Personal auf Vorschläge und Nachfragen die Antwort: „ich komme auf dich zu.“
    Der Mann und ich, die wir uns wahrlich in sehr verschiedenen Arbeitswelten bewegen, haben uns beim Abendessen problemlos auf fünf Grundbedeutungen dieses Satzes geeinigt:

  • Ich werde nichts unternehmen.
  • Ich weiss, dass ich wissen sollte, worum es geht.
  • Ich könnte herausfinden, wovon du sprichst. Vielleicht später.
  • Ich will, dass das vergessen wird.
  • Frag nie wieder.
  • Remember September

    Schwimmen am Familientag 2008
    In den letzten Tagen habe ich viele Kinder und Jugendliche so unternehmenslustig erlebt: interessiert und vielseitig an der Berufsausbildungsmesse, sportliche und witzig am diesjährigen Schwiegerfamilientag.
    Ob sie sich nach der Entwicklung des Lehrstellenangebots erkundigten, nach Fachhochschulen fragten, ob sie zusammen jassten oder in Unterhosen in den See sprangen: sie schienen mir alle zukunftshungrig, wie es seit jeher der Jugend Sinn – gar Auftrag! – ist.
    Aber morgen jährt sich die Katastrophe in der Schule von Beslan. Die ersten Septembertage sind mir seither bedrückende Tage. Und dieses Jahr mit diesem Krieg – was bedeutet das für die Wünsche und Hoffnungen der Jugend in Nord- und Süd-Ossetien?
    Wer Entwicklungen in Russland – gute, schlechte, politische, kulturelle – in Blogs verfolgen möchte, dem sei erneut Krusenstern empfohlen. Dort gibt es auch eine Liste englischsprachiger, teilweise äusserst lesenswerter Blogs.

    Der Umbruch beginnt. Morgen.

    Nach den vielen Papers und Workshops über „Basisstufen“, die niemand umsetzen kann und „Integration statt Separation“, die kaum gratis geht, ist ein Artikel über die eigene schulische Realität eine wahre Wohltat. Ich kannte Anton Strittmatter bisher nicht, sollte ich aber, er hat sogar schon gebloggt. Klare Fragestellung, gute Rezepte, wenn auch in Sachen „freie Schulwahl“ anderer Meinung als ich.
    Nachfolgend ein von mir gewählter Auszug aus seinem Artikel zum Thema Schulleitung:

    (…) So füllt sich das Pflichtenheft der Schulleitungen mit einer nie dagewesenen Vielfalt von Aufgaben, deren gute Erfüllung von vier Gelingensbedingungen abhängen:

  • Es herrscht unter allen Beteiligten eine schulgerechte Führungskultur. Diese respektiert die Schulleitung, aber auch, dass jede einzelne Lehrperson tagtäglich selber Führung ausübt und ein hohes Mass an Verantwortung trägt.
  • Schlleitungen müssen mit viel Zeit ausgestattet sein, damit nicht nur der sichtbare Organisationsaufwand, sondern auch der viel wichtigere Aufwand an Anteilnahme geleistet werden kann.
  • Die Leitungspersonen brauchen ein tiefes Verständnis von Führung einer Schule und ein breites Repertoire an Führungstechniken und -instrumenten.
  • Die Schulleitung muss in sehr gut geklärten Zuständigketen stattfinden können. Die heute noch zu sehr überlappenden und diffusen Zuständigkeitsverhältnisse mit bis zu vier parallelen Führungslinien sind Gift für erfolgreiche Schulführung.
  • PDF des Artikels Schulleitung im Umbruch (aus links.ch 08.08).

    Analoge Lebensart kommt auf

    In meinem Fach beginnt die Lehre bei den Waren. Bei den Dingen, die halt täglich über den Ladentisch gehen. Die Lernenden bringen selber Beispiele mit in die Schule: Ein gebundenes Buch, ein fremdsprachiges Taschenbuch, einen Felix-Bleistiftspitzer, Landkarten, Postkarten, Mondkalender, Kartenspiele, Software, GPS-Chips und stellen die Handelsobjekte einander vor. Diese Woche hatten wir viele DVD, Games, Liedli-CD und CD-ROM. Jedenfalls genug, dass ein Schüler seufzte, ihm seien analoge Speichermedien einfach näher, zum Beispiel Videos und Langspielplaten. Vor allem LPs seien mehr und mehr gefragt.
    Ich äusserte zuerst Zweifel an der These, aber mehrere aus der Klasse teilten die Einschätzung. Also habe ich noch andere Lernende gefragt und bei ExLibris und MediMarkt geschaut, ob sich ein gemainstreamtes LP-Sortiment finde? Und siehe da, man kann bei den grossen Medienverkäufern wirklich LPs haben, ExLibris hat sogar eine Sachgruppe „Vinyl“ mit Zeugs, das kaum für DJs sein kann. Sollte sich die Vermutung meines Schülers bewahrheiten, werden wir also in der Haushaltelektronik neben Epiliergeräten, Tischgrills und Nespressomaschienen bald lustig bunten Plattenspielern aus China begegnen.
    Noch brauche ich keinen. Unsere 226 Langspielplatten (ich habe vorhin gezählt) drehten die letzten zwei Jahrzehnte auf einem Thorens TD 320 MkII treu ihre Runden. Nie hätte ich gedacht, dass es Thorens noch gibt. Dabei feiern die gerade Jubiläum. Und geben eine Zeitschrift mit dem Titel „Phono“ heraus: „Das Magazin für analoge Lebensart“.