Eine gute Handvoll

Neulich in der Mensa fragte mich die Kollegin, nachdem sie mir von ihrem Kind, seiner Betreuung und dem erneut anstehenden Schwangerschaftsurlaub erzählt hatte: „Und, wie machst du das eigentlich?“
Die Gretchenfrage heutzutage, die Antworten gehören zum modernen Mütterrepertoire:

Ach, irgendwie geht es immer.

(Vortragsweise: betont normal)

Ach, weisst du, es ist nie einfach, allen gerecht zu werden! Man soll ja ein aufgeschlossenes, glückliches, allgemein gebildetes aber bloss nicht neurotisches Kind aufziehen, um welches man sich angemessen kümmert, aber auf jeden Fall ohne ein Helicopterparent zu sein und – mit Verlaub – ohne den Partner zu vernachlässigen und ganz sicher auch ohne dass die Arbeit oder die Weiterbildung – „le-bens-langes Lernen!“ – irgendwie zu kurz kämen. Von den Verwandten und Freunden, die einen um gotteswillen mögen mögen, garnichtmalzureden.

(Vortragsweise: sehr schnell)

Ach, das ist bloss einen Frage der Organisation. Und der eigenen Einstellung.

(Vortragsweise: langsam)
Leider war die Kollegin angesichts ihres zweiten Kindes und dem sich verdoppelnden Planungsbedarf beharrlicher und ich somit gezwungen zuzugeben:
Früher, vor dem Familienleben, habe ich das gemacht, was ich auch ordentlich konnte. Heute könnte ich nach den früheren Kriterien nur noch eine gute Handvoll Dinge tun:

  • Buchhandel unterrichten
  • Komische Kinder integrieren
  • Sitzungen vorbereiten, leiten, protokollieren, nachbearbeiten sofern in Deutsch
  • Saubere Aufträge für Grafiker, Buchbinder und Drucker formulieren
  • Bücher verkaufen
  • Putzen
  • Die Kollegin, eine ausgesprochen gebildete Gymnasiallehrerin, fand das gar nicht so übel. Kochen könne sie auch nur noch im Bereich von höchstens zwei Herdplatten.

    Tischgespräch [29]

    Mutter:
    Gefallen euch meine arche-Schuhe?
    Kind:
    Ja, die passen gut zu dir. Aber die waren echt teuer.
    Mutter:
    Stimmt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein wunderbares Gefühl das ist, einen schönen und bequemen Absatzschuh zu haben, der erst noch politisch korrekt ist! (Kind geht ab.) Stellt euch vor: Europäisches Leder! Hundert von Hand ausgeführte Arbeitsschritte von Leuten, die zu guten Arbeitsbedingungen angestellt wurden. Eine Sohle aus Natur-Latex, hergestellt aus der Milch des Gummibaums, die genau in der richtigen Menge gewonnen wird, um das Wachstum des Baumes zu fördern. Die Milch wird erst in Frankreich in die Sohlenform gegossen…
    Vater:
    Doch, das kann ich gut verstehen. Wer möchte nicht das Wachstum eines Gummibaumes fördern?
    Mutter:
    Nur wächst er nicht in der Region.
    Vater:
    Wir sollten die Bewirtschaftung der Büropflanzen evaluieren. Könnten wir eine Initiative lancieren? Wahlen 2?
    Mutter:
    Wer war das schon wieder?
    Vater:
    Traugott Wahlen, der von der Anbauschlacht.
    Mutter:
    Doch das war letztendlich viel Wind um wenig.
    Vater:
    Wir leben in anderen Zeiten! Das kannst du heute extern geben. Die Büropflanzen sind sowieso outgesourct.
    Mutter:
    Echt…?
    Vater:
    Sicher! Es gibt nichts im Büro, was du nicht outsourcen kannst. Die Kaffeemaschine, das Nachbestellen des Büromaterials, das Erstellen der Exceltabellen. Und die Bürobegrünung sowieso. Das geht mit Luwasa, kostengünstig, einmal Giessen im Monat reicht, wenn du das nicht selber machst, ist es nur unwesentlich teurer. Die Büropflanzenvermieter sollten wirklich ein Gummibaummilch-Mandat bekommen.
    Mutter:
    Diese Büropflanzenvermietung kannte ich überhaupt nicht. Bevor wir Wahlen 2 starten, schaue ich jetzt mal in diesem Internet.
    „Tischgespräch [29]“ weiterlesen

    Aus dem Reisenotizbuch [8]

    10. April 2007 7:00
    Fitnessraum 15′
    Packen & Duschen 15′
    Check out 10′
    Leavin‘ LA 60′ (aber nur dank CARPOOL; eine Überholspur für Autos, die mehr als zwei Passagiere haben).
    **
    10. April 2007 8:45
    Unterwegs auf der Interstate 15 (I 15). Kurz nach San Bernardino sehen wir den ersten Zug in Amerika. Es ist ein Güterzug mit vier Lokomotiven und 85 Güterwagen, die je zwei aufeinandergestapelte Standard-Schiffscontainer geladen haben.
    **
    10. April 2007 12:30
    Wir verlassen Californien in Richtung Nevada. Bereits 100m nach der Staatsgrenze beginnt die Gambling-Zone. Das erste Casino am Weg ist zwar pleite und bedankt sich mit grossem Schild „For 18 Years“, nur die Tankstelle daneben ist noch offen.
    Der Radiosound ist zuckersüss und wir beschliessen, lieber Encore zu hören, um Vegas zu traversieren.
    **
    10. April 2007 13:30
    Las Vegas.
    Woher nimmt Las Vegas seinen Zement?
    Warum hat der Colorado River überhaupt noch Wasser?
    Wie kann ein Lastwagen mit zwei Anhängern Kurven fahren?
    **
    10. April 2007 13:55
    Fertig Las Vegas. Durch das Moapa Reservat via Longdale, Glendale, Mesquite durch die westlichsten Ausläufer der Rockys an die Grenze zu Utah. Mesquite ist eine Oase mit Golfschwerpunkt, bewässert vom nunmehr dünnen Virgin River.
    Wir machen Rast beim „Cedar Pocket Camping Ground“. Und das ist eine der allerschönsten Bleiben auf unserer ganzen Reise.
    Cedar Pocket Camping Ground

    [Kein Amok]

    [Nein, ich schreibe nichts über den Amok in Finnland. Ich konnte mir das Grauen schon nach den ersten paar Worten im News-Ticker bestens ausmalen. Im Lehrerzimmer tippte ich auf die Schlagzeile „Amok im Pisa-Paradies“. Und wie es so geht im Leben, wurde die Zynikerin von der Realität überholt. Ich mache jetzt lieber wieder einmal einen Reisenotizbuch-Eintrag – aus der Zeit vor Virginia Tech.]

    Zentrale Fragen

    Heute, nach einem langen Sitzungstag in Zürich, bin ich auf dem Nachhauseweg beim Stauffacher in Bern eingekehrt, um zum Ausklang einige Bücher zu kaufen (den neuen König, den neuen DeLillo, den neu entdeckten Schalamow).
    Und da treff‘ ich meinen Chef. Ich meine Ex-Chef. Eigentlich wär‘ ich jetzt sein Chef. Aber sowas funktioniert ja nie. Das weiss jeder.
    Und er gratuliert mir zur neusten Ausgabe unserer Schulzeitung Pegasus, die er 85 Nummern zuvor aus der Taufe gehoben hatte. Besonders zufrieden ist er mit dem Interview (ab S. 4) mit einem unserer Kulturkundelehrer.

    Das hätte ich dir, ich meine euch beiden – nicht dass du das jetzt falsch verstehst – gar nicht so zugetraut… auf diesem Niveau. Zentrale Fragen, die das gestellt werden, zentrale Fragen für die Bildung.

    Das mag übertrieben sein für ein so kleines Interview. Aber freuen tut es mich.

    Happy Weekend

    Wochenende! Ich habe Berge von Liegengebliebenem abgetragen. Nicht nur die Wahlen sind durch, auch das Gäbelbachfest ist vorbei. Das Budget wurde eingehalten und die Presse hat sogar auf die kurze Presseerklärung reagiert und ich staune, was man im Internet-Zeitalter alles nachts erledigen kann.

    Die Äpfel meiner Mutter

    Jetzt habe ich gewaschen, gebügelt, gefaltet, abgestimmt (ja, schon wieder), der Versicherung geschrieben, eine Lektion Gutenberg vorbereitet, alle Termine vom November entkollidiert (ausser einem), neue WC-Deckel erworben (der lösungsorientierte Mann fand auch Ersatz für die beiliegenden zu kurzen Steckschrauben), zahlreiche Digitalbilder vom Schulhausinnern sortiert und aufgehellt, ein neues Interview für unsere Schulzeitschrift entworfen und – das war lustig – einen Adventskalender gemacht (also die Säcklein hatte ich vom Vorjahr).

    Mein eigenes Apfelmus

    Jetzt muss ich morgen bloss noch ein paar Tests korrigieren und eine tricky Buchpreisbindungsfrage beantworten und dann kann ich locker wie schon lange nicht mehr in die neue Woche.

    Besuch in der Turnhalle

    Zu meinen Schuljahreszielen gehört, dass ich bis im Juni alle Lehrerinnen und Lehrer meiner Abteilung einmal im Unterricht besucht habe. Und zwar ohne Krisenintervention, ohne Reklamation, sondern einfach zum Mitmachen.
    Heute war ich beim Sport. Sportunterricht ist nicht abhängig von der Art der Berufslehre, er ist nicht freiwillig sondern steht sogar samt Lektionenzahl im Berufsbildungsgesetz. Und das ist aus vielen, vielen Gründen absoult richtig.
    Rückblick auf heute Nachmittag:
    Top – Der Sportlehrer. Man merkte ihm das Feuer eines begeisterten Trainers an. Daneben war er sehr gut organisiert und dokumentiert und drückte mir einen perfekten Lektionenplan in die Hand. Wunderbar.
    Flop – Die Absenzenliste. Lauter Kartoffeln. Auch heute wurde von einer nicht geringen Anzahl Lernender geschwänzt, die vorher normal am Unterricht des Tages teilgenommen haben.
    Was ich überdenken werde: Ich habe im laufenden Stundenplan die Sportstunden in voller Absicht ans Ende des Schultages genommen. Dies, damit die Lernenden ihren Tag mit Bewegung beenden können, ohne danach noch für zwei Stunden Rechtskunde ins Schulhaus zu müssen. Aber es scheint schwieriger, den Sportunterricht – in dem es keine Noten gibt – ernst zu nehmen, wenn es die letzten Schulstunden sind.

    Die Schnecke anschieben

    Ich weiss nicht, wie das in anderen Ländern so läuft und ich sage das also, ohne einen fundierten Vergleich in petto: Die Schweiz ist in der Gleichberechtigung rückständig. Der Vorteil dabei ist ein guter Trainigseffekt, welcher sonst nur Minderheiten verbehalten ist. Der Nachteil ist der enorme Zeitaufwand, den Frauen in der Schweiz haben.
    Fast achzig Jahre ist es nun her, dass die SAFFA-Damen die Frauenstimmrechtsschnecke geschoben und gezogen haben. Als meine Mutter das Frauenstimmrecht erhalten hat, war ich schon zwei Jahre alt, das war 1971. Heute gibt es zwar Frauen in der Politik, aber ihre Vertretung ist keinesfalls angemessen und die Beurteilung ihrer Arbeit ist nicht selten himmelschreiend sexistisch. (Dieses Wort auch nur einmal zu verwenden, macht einen in weiten Teilen der Schweiz und besonders in der Arbeitswelt zur Jutte-statt-Plasik-Feministin mit lila Latzhose, obwohl es die schon seit 25 Jahren nicht einmal mehr zu kaufen gibt. Kurz: Der Emanzipations-Schock sitzt hierzulande tief.)
    Eine sehr beliebte Taktik bei der Kritik an Politikerinnen ist es, „polemisch“ zu sein. Sich mutig gegen die politische Korrektness zu stellen, die heute allen das ehemals lustige Leben vergrault. Dieses Rezept hat vergangenen Freitag auch G. Girardet angewandt, als er nach einer Woche SP-Debakel-Analysen in der Presse noch etwas schrieben durfte, bevor das Thema auch dem Hinterletzten über ist.
    Sein Artikel wird nicht ewig online sein und das ist auch gut so. Zu solchem Anlass ist es schwierig zu entscheiden, ob eine Reaktion lohnt. Die Chancen stehen mittelmässig, dass ich jemanden z.B. mit einem Leserbrief umstimmen kann. Andererseits sind wir es unseren Vorfahrinnen, die uns das aktive und passive Wahlrecht erstritten haben, schuldig, den Mist von den jungen Nachfolgerinnen zu kratzen, den Männer meist ungehindert über ihnen ausschütten dürfen. Zum besseren Verständnis zitiere ich ein Müsterchen, damit auch die interessierten Ausgewanderten wissen, wer in die Pfanne gehauen wird:

    Ursula Wyss, Chantal Galladé, Pascale Bruderer, Evi Allemann sind die Vertreterinnen einer Frauengeneration, die durch den Frauenbonus ohne politischen Leistungsausweis auf die nationale Bühne gespült wurden.

    Na ja. Es war heute doch ganz nett zu sehen, dass mein Leserbrief ungekürzt publiziert wurde und sogar den Titel geliefert hat. Ein paar Leute haben mich drauf angesprochen, immerhin. Und vielleicht habe ich ja damit meiner Nichte einen Kiesel aus dem Weg geräumt.

    André Gorz, Brief an D.

    André Gorz, Brief an D.
    André Gorz
    Brief an D.
    Geschichte einer Liebe
    Rotpunktverlag 2007
    978-3-85869-353-2
    Originaltitel: Lettre à D. Hostoire d’un amour

    Von meinem Lehrmeister wurde André Gorz zitiert wie von meiner Grossmutter die Bibel: pointiert und bedeutsam. Wenn ich Gorz dann selber zu lesen versuchte, erging es mir auch wie bei der Bibel: es war umständlich und langfädig.
    „Die Kritik der ökonomischen Vernunft“ erschien 1989 mitten in meiner Lehre in einer selbstverwalteten Buchhandlung für Soziologie, die den Satz „Kritische Bücher zur Zeit“ gleich ins Logo eingebaut hatte. Dieses Buch war in meiner Lehrbuchhandlung ein Bestseller und meine Schulkolleginnen hatten noch nie etwas davon gehört.
    Mein Rückzug von der Buchhandelsfront wurde ebenfalls von Gorz begleitet: „Wissen, Wert und Kapital“ habe ich zwar 2004 noch beworben, aber schon nicht mehr verkauft.
    Ich schreibe dies, weil meine Begeisterung für „Brief an D.“ damit zu erklären ist. Ich schätze, dass sie nur schwer geteilt werden kann von Leserinnen und Lesern, denen weder Gorz noch seine Zeitgenossen etwas sagen. Vielmehr fürchte ich, sie würden die Lektüre schnell und enttäuscht zur Seite legen. (Aber in Kundengesprächen sind es oft gerade diese Vermutungen, die die Leute neugierig machen.)
    Was mich an dieser Geschichte einer Liebe so berührt, ist die Einsicht. Das Eingeständnis eines gefeierten Philosophen, Kapitalismuskritikers und Vorbilds einer Generation, die grosse Liebe für die Öffentlichkeit kleingeredet zu haben. Die Autobiografie mit Urteilen über die Frau an seiner Seite verbittert zu haben, die er selber gar nicht glaubte. Die Sytemkritik bisweilen auf dem Rücken des Menschen ausgetragen zu haben, auf den er sich zu jeder Zeit am meisten verlassen konnte.
    Dieser Text hat nicht Reuiges. Eher etwas Fragendes. Wer war diese Frau genau, was hat sie in diesem Leben an meiner Seite eigentlich alles bewirkt? Wie bin ich auf die unsägliche Idee gekommen, ihren Wert in meinem Leben zu negieren?
    Dass Gorz diese Korrektur in der Erinnerung an sich und sein Werk noch so entschieden vornahm, zeigt eine Versöhnlichkeit, die einem auch in seinen anderen Büchern begegnet. Ein alter Linker, der sich noch einmal losschreibt, weil er die wahre Liebe nicht länger als Obszönität abgeurteilt haben will – weil er es jetzt besser weiss.
    Gorz hat diesen Text im Juni 2006 in Französisch beendet. Die Übersetzung ins Deutsche hat er bis zum Schluss begleitet, mit dem schöne Bändchen im Rotpunktverlag waren er und seine Frau sehr zufrieden. (Selber Deutsch schreiben, das tat der österreichische Jude nur in grösster Geldnot.) Vor einem Monat, am 24. September 2007, hat André Gorz sich zusammen mit seiner kranken Frau Dorine das Leben genommen.
    R.I.P.