Hürden der Woche

Erste Hürde:
Der neue Pegasus ist da. Dieses Mal zum Thema „andere Häuser“ und mit einem Beitrag eines Lehrers aus anderer Schule: Hanjo von arts20. Der „Pegasus“ ist unsere Schulzeitung. Er erscheint in einer Auflage von 440 Exemplaren und wird im Buchhandel ordentlich gelesen. Layout, Produktion und Versand werden von der Schule bezahlt (ich weiss, das ist luxuriös). Konzipieren, Schreiben und Korrigieren tun wir ehrenamtlich und zusätzlich und diese Woche war’s mir gerade etwas gar viel.
Zweite Hürde:
Schlusssitzung unserer Berufsbildungsverordnung beim BBT. Das ist eine formale Angelegenheit, aber keine reine Formsache. Nach der Zustimmung der Branche geht ein reformierter Beruf ein Jahr lang in die Vernehmlassung zu jedem einzelnen Kanton, weil Berufsbildung in der Schweiz auf kantonaler Ebene geregelt ist. In dieser Schlusssitzung beim BBT geht es also hauptsächlich um Geld und Gesetz. Mit dem Beruf emotional verbunden zu sein ist dabei eher hinderlich. Positivstes Ergebnis der vierstündigen Verhandlung: Wir haben unsere (verglichen mit anderen Berufen hohe) Lektionenzahl für den Unterricht bekommen. Negativstes Ergebnis: Wir dürfen keine Abschlussprüfungen vorziehen, qualifiziert wird ausschliesslich am Ende der Lehre. Eine Wahl zwischen Teufel und Beelzebub: Die (zu) hohe Prüfungslast zum Lehrabschluss akzeptieren oder Prüfungen ersatzlos streichen.
Aber „ungerem Strich gseeh“, wie wir hier gern sagen, war’s Hürden-mässig eine gute Woche.

Hurra, alle sind krank!

Heute wurde die Schule vom Kind abgesagt. Schon gestern kamen nur neun von 26, in Hauswirtschaft sogar nur vier von 13 zum Unterricht. Inzwischen liegt auch ein grosser Teil der Lehrerinnen und Lehrer flach.
Wenn etwas ist, was für den nächsten Schultag gilt, aber nicht am vorherigen bekannt gegeben werden kann, gibt es abends oder am Morgen früh eine Telefonkette (von manchen Telefonlawinie genannt, was ich grässlich finde). Ich weiss nicht, ob andere Länder das System auch kennen.
Meistens teilt der Lehrer gleich am Anfang der Zusammenarbeit jedem in der Klasse ein Blatt aus, auf dem steht, wie diese Kette im Falle eines Falles funktionieren soll und natürlich erklärt er die Wichtigkeit der Telefonkette anhand blumiger Beispiele. Wie man das eben so macht als Lehrer.
Beim Kind sind auf der Liste drei Spalten mit je 8-9 Kindernamen und Telefonnummern. Die obersten drei Kinder ruft der Lehrer selber an. Danach müssen die drei Kinder versuchen, den nächsten in ihrer Kolonne zu informieren. Wenn das nicht möglich ist, versuchen sie es beim übernächsten und notieren sich, wer nicht erreicht werden konnte. Das Kind, das je am Ende der Dreiergruppe steht, ruft dann den Lehrer an und quittiert, dass alle informiert sind. Die Nicht-Erreichbaren werden ebenfalls dem Lehrer gemeldet (aber das kommt im Handy-Zeitalter kaum mehr vor).
Nun, jedenfalls hat das auch in diesem Fall einwandfrei geklappt. Was mich immer wieder erstaunt ist, dass mehrheitlich die Eltern anstelle ihrer Kinder telefonieren, ohne dass ihr Name irgendwo auf einer Telefonkettenliste steht und obwohl ihr Kind vom Lehrer instruiert ist.

Stimmung: aufgeräumt

Vergangene Woche ist – nach zwölf Jahren wackerer Lehrerschaft – endlich eine meiner zahlreichen Befürchtungen eingetroffen.
Mir ging ein Test verloren. Die Schülerin hat ihn abgegeben, ich habe ihn korrigiert, beim Rückgabetermin war sie krank, ich habe ihn aufbewahrt und weg war er.
(In Lehrerblogs ist schon viel Aufschlussreiches über Unterrichtsarchive geschrieben worden und die Tipps in den Kommentaren waren nicht minder nützlich. Nur leider ist und bleibt meine Realität, dass ich – egal, was ich mir vorgenommen habe, egal wie viele verschiedenfarbige Mäppchen, Register oder Stapel ich vorbereite – am Ende der Stunde den ganzen Krempel zusammenschiebe.)
Ich hatte keine Ahnung, was ich tun würde, wenn der Test verschwunden bliebe. Es erschien mir deshalb angebracht, mich in den Heuhaufen zu stürzen und ihn zu suchen. So begann ich heute in der Zehnuhrpause mit dem Aufräumen und machte bis zum Abend ausser Konversation nichts anderes. Etwas, was sonst nur in den Schulferien vorkommt.
Ich habe den Test gefunden. Und im selben schwarzen Loch noch einiges mehr.

Redaktionssitzung 1987

Meine Mutter zieht um. Deswegen übergibt sie mir portionenweise das Archiv aus meiner Schul- und Ausbildungszeit. Heute habe ich meine Notizbücher und Agenden aus den Achzigerjahren zu lesen angefangen.
Am 8. November 1987 war ich offenbar an einer Sitzung der Berner WOZ-Redaktion. Ich war siebzehn Jahre alt und erinnere mich nur noch vage. Die Stimmung war für heutige Verhältnisse emotional, aber für damalige Begriffe nur wenig revolutionär.
Die Sitzung wurde von einer Journalistin geleitet, die ich immer noch kenne, weil sie ebenfalls im Buchbusiness gestrandet ist. Sie begann damit, dass Frauen in der Linken und damit in der WOZ mehr Präsenz haben sollten. Das wurde entweder nicht aufgenommen oder ich habe es nicht notiert. Gemäss meinen Unterlagen ging es in der Debatte mehr darum, wie man Widersprüche am besten austragen könne. Jedenlass bis jemand fragte, warum man diese überhaupt austragen solle? Der blieb aber in der Minderheit. Die Mehrheit meinte, dass eine Zeitung eine bestimmte Richtung verfolgen solle über welche man sich in einem ewig andauernden Prozess und immer wieder neu einigen müsse.
Daraufhin diskutierte man – wie jede Woche – über das WOZ-Publikum. Einerseits fragte man sich, wer die WOZ lese. Andererseits ging es darum, mit der WOZ politisch denkenden Leuten eine Möglichkeit fürs Schreiben zu bieten, ja, gar verschiedenen Bewegungen ein Verbreitungs-Angebot zu machen. (Wenn ich heute die Marketinglehre höre, dass jedes Produkt einen Community brauche, die Zielgruppe tot und nur die Interessegruppe lebendig sei, dann war die WOZ damals echt visionär.)
Als nächstes wurde gesagt, dass das Zeilenhonorar per basisdemokratischer Abstimmung auf der Hauptredaktion in Zürich abgeschafft worden war und man nun ein Texthonorar auszahle. Erst danach kam das Gespräch langsam auf mögliche Themen der nächsten Nummer. Eingangs warf jemand ein, dass Bern schon Nischen-Themen liefern könne, aber die sollten doch bitte mindestens einigermassen anerkannt sein. Diese/r jemand sagte „anerkannt“ nicht „interessant“ oder „relevant“. Das war nämlich die Zeit, in der man sich politisch korrekt ausdrückte, indem man sich permanent der Unfähigkeit bewusst war, objektiv zu sein. Erst danach wurde endlich konkret, was Bern für die nächste Wochenzeitung thematisch bieten konnte: AKW, Soldaten, Reitschule. AKW, Soldaten, Reitschule. Wie sich die Zeiten ändern.
Die Sitzungsleiterin schloss mit der Bitte, nicht zu pessimistische Visionen zu verbreiten, keine Texte zurückzuziehen, die schon eingeplant worden waren und Widersprüche regelmässig zu thematisieren.

Was Messe auslöst

In diesem Land gibt es keine öffentlichkeitsrelevanten Intellektuellen unter sechzig mehr. Und gäbe es Peter Sloterdijk und Botho Strauß nicht und würden Elfriede Jelinek und Peter Handke nicht auch irgendwie für Deutsch gehalten, gäbe es sogar keinen unter siebzig.

– Thea Dorn im SPIEGEL 42/2008 zum 60. Geburtstag der Frankfurter Buchmesse: „Deutschland, keine Denker.“

Vorkommnisse, die dem Ansehen des Börsenvereins als Berufsorganisation des Gesamt-Buchhandels [ohne Angestellte und Lehrlinge ] … Messebedingungen … Hausordnung … Hausrecht … das Erforderliche … fest entschlossen … ordnungsgemässe Messearbeit … auch nicht davor zurückschrecken … Hausecht … andere Massnahmen … notwenigen Ergebnis. Die Frankfurter Buchmesse repräsentiert die Welt des Buches … Aufrecherhaltung des Messefriedens … Massnahmen notwendig … nicht der Platz für politische Auseinandersetzungen irgendwelcher Art, für Demonstrationen oder enthemmte Selbstdarstellungen … Zerrbild des deutschen Verlagswesens … unseres Berufsstandes unwürdig … Auswüchse .. sachdienliche Eingangskontrolle … Grenzen des Taktes und der guten Sitten.

– Stilprobe aus dem Rundbrief des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels vom 13. August 1968 an alle Verleger. Publiziert im Tintenfisch Nr. 2 bei Wagenbach 1969.
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Literaturpreise

Jeder scheint zu wissen, wer den Literaturnobelpreis hätte bekommen sollen. Es ist wie beim Fussball.
Le Clézio wurde in der Schweiz während meiner Lehr- und Jungbuchhändlerinnenzeit gelesen, ich jedenfalls habe ihn damals verkauft, wenn auch nicht häufig. Die Schlagzeile „Literaturpreis für einen Unbekannten“ passt hier sicher weniger als bei Wisława Szymborska (1996) oder Gao Xingjian (2000). Der Nobelpreis ist halt einfach international und das Komitee muss ausdrücklich Idealismus ehren.
Vielleicht hasst das Nobelkomitee Amerika gar nicht so sehr, wie das derzeit in einigen Kolumnen behauptet wird. Vielleicht ist die US-Literatur nicht zu schlecht, sondern zu gut. Jede Entscheidung für einen Amerikaner schliesst die anderen wieder für ein paar Jahre aus. Vielleicht wissen die einfach nicht, wem sie den Preis zuerst geben sollen. Frisch und Dürrenmatt standen bestimmt auch eine Dekade auf der Liste und starben dann so nah aufeinander, dass gar keiner mehr für den Nobelpreis übrig blieb. Hoffen wir für die USA auf ein besseres Timing von Updike, DeLillo, Roth und Pynchon. Doch trivial ist das nicht. Einerseits wegen dem Idealismusanspruch im Nobel-Testament und andererseits, weil sie alle in den Dreissigern geboren sind und einer mit dem Sterben ohne die höchste Auszeichnung anfangen müsste.
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Von Aufwertung ermattet

Seit vier Jahren lebe ich auf, neben und hinter einer der grössten Baustellen Europas: Westside. Nur selten schob die Limousine des Stararchitekten sich lautlos vorbei. Treue Begleiter waren Staub und Lärm, sichere Zaungäste rüstige Rentner aus dem ganzen Land.

Jahrelang hat Bern sich bemüht, seinen verrufenen Westrand aufzuwerten. Hochhaussiedlungen türmen sich hier zur Geröllhalde einer missglückten Planungspolitik, bis die heruntergekommenen Wohnscheiben und Türme von Gäbelbach nur mehr Stadtrand-Tristesse sozialer Notstandsgebiete verströmen.

– NZZ am Sonntag vom 5. Oktober 2008

Von dieser Geröllhalde komme ich her, dahin bin ich immer wieder zurück gekehrt. Ich musste aus Herkunftsgründen oft beweisen, dass ich lesen, schreiben, lernen, ja sogar lehren kann. Heute wäre ich sogar fähig, einen gepfefferten Leserbrief für die NZZ am Sonntag zu verfassen. Als Beilage Feinheiten der Architekturgeschichte, Ideen urbaner Entwicklung, Beispiele selbstregulierenden Wohnens und Statements begeisterter Architekturstudenten aus aller Welt. Aber ich bin zu müde.
Unsere Baustellen erleuchteten Nächte sind nun zusätzlich von bunten Lichttests für die morgendliche Gala erhellt. Grüne, violette und blaue Leuchtkegel brennen sich in die Höhlen hunderter Termiten, die heruntergekommene Türme bevölkern und ohnehin nicht schlafen, weil sie nachts arbeiten. Schwarz. Auf der Baustelle.
(Keine Sorge. Natürlich werde ich morgen bei der Eröffnung dabei sein! Schliesslich gibt es eine neue Buchhandlung und das ist in meinem Sinne, weissgott. Aber bitte verzeihen Sie mir alle, ob in Ausbildung, in Leitungsposition oder andere Vertreter der Buchbranche: Ich komme erst nach den Eröffnungsreden. Ich weiss jetzt, dass ich aufgewertet wurde. Es wird keines weiteren Presseartikels und keiner Politrhetorik bedürfen, ehrlich.)