Gretchenfrage

Was ich gehofft hatte, ist eingetroffen: Dass eine oder einer von den klugen bloggenden Menschen in Bayern sich zu den Ereignissen äussern möge. Die Gretchenfrage stellt die Kaltmamsell.
Mir aus dem protestantischen Bern schienen die Forderungen der Fortschrittlichen schon länger etwas unlogisch, aber ich bin im realen Leben eigentlich nur mit katholischen Menschen konfrontiert, denen diese Debatte egal ist oder solchen, die in derlei Veränderungen eine grosse Gefahr sehen. Meistens sind das Menschen aus dem Osten, die den alten Papst hoch verehrt haben, die Ferien genommen und Fronarbeit geleistet haben, während er letztes Jahr in Bern war: Taxidienste für Priester, Übernachtungsangebote für Pilgernde, Kinderhütedienst, Putzarbeiten und Parkplatzbewirtschaftung. Die sind zufriden mit der Wahl und beten täglich dafür, dass der Neue nichts verändern möge. Im Gegenteil, dass er gar mit neuer Kraft dieser furchtbaren schweizer Kirche Einhalt gebietet, die sich immer wieder über Befehle hinwegsetzt. Keiner in dieser Schweiz soll sich wundern, wenn niemand zuhört, wenn eine Frau (mit Ohrringen!) die Messe liest, sagen sie und schütteln besorgt ihre Köpfe.

Abschluss heisst Anschluss

In der Schweiz ist die Berufsbildung eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt. Das neue Berufsbildungsgesetz fordert auch von Buchhändlerinnen und Buchhändlern eine Berufsreform. Wie in jedem Unternehmen, liegt die Schwierigkeit darin, eine Vorstellung von der Zukunft zu bekommen, die mehr ist als ein Gefühl im Bauch. Denn häufiger als Zielharmonie kennen wir Buchmenschen (und nicht nur wir) den Zielkonflikt. Unsere Ziele werden also auch ein Beweis unserer Konsensfähigkeit, unseres Qualitätsbewusstseins und unserer Rechenschaft uns selber gegenüber sein. Und das ist neben einem harten Brocken auch ein langer Prozess.
Weil die „öffentliche Hand“ sich dessen bewusst ist, hat sie einen gut strukturierten und einhaltbaren Fahrplan entworfen, für den ich dankbar und auf den ich stolz bin. Letzteres sage ich vor allem mit Blick auf das verallgemeinernde ewig gestrige Beamten-Bashing.
Heute habe ich in diesem Zusammenhang ein aufschlussreiches Referat von Emil Wettstein gehört, aus dem mir neben etlichen Notizen zwei Leitlinien geblieben sind: „Kein Abschluss ohne Anschluss“ (Grundsatz der Berufsbildung) und „schaut ins Welschland!“ (in die französischsprachige Schweiz), denn hier sei Innovation.
Kurz zusammengefasst für berufsfremde Mitlesende: Es gibt drei Berufsfachschulen, auf die sich jährlich ca. 110 Lernende des Buchhandels verteilen: Winterthur (deutsch), Bern (deutsch) und Lausanne (französisch). Alle müssen sich gemeinsam mit den Lernenden als „Kundschaft“ und den Leuten der Branche auf ein Berufsbild einigen. Die einzige Alternative dazu ist ein toter Beruf.
[Emil Wettstein fand, ein Weblog sei bereits ein Teil von „E-Learning“, ich selber weiss zu wenig über den Begriff, den man ja noch nicht so definitiv besetzt hat. Hier die beiden Einträge mit der grössten Resonanz von Lernenden: Müdigkeit und Petit Riens. Ich werde gelegentlich Politikverdrossenheit thematisieren, was vielleicht gerne kommentiert werden wird.]

Cold heart

Im Frühling vor zwei Jahren starb June Carter, die Country-Sängerin, Hit-Komponistin („Ring of Fire“) und die Partnerin von Johnny Cash, der danach nur noch wenige Monate lebte. Einen Tag nach seinem Tod am 12. September 2003, war ich in einer grossen Schweizer Stadt zu Besuch. Ich fand leider weder Bücher noch buchhändlerische Kenntnisse über Johnny Cash, in mehreren Buchhandlungen wurde ich von ausgelernten Berufsleuten gefragt, wie man das schreibe, trotz etlicher Nachrufe in TV und Tagespresse. Dies und die Tatsache, dass Hitparademusiker, allen voran die Rapper, auf seiner Beerdigung auftauchten, hat mich veranlasst, eine Lektion zum Thema Cash & White Trash zu machen.
Nun, es wurde kein Erfolg, die Lernenden schauten mir staunend beim Unterrichten zu und beteiligten sich ausser beim Phänomen EMINEM kaum, auch nicht an meinen Umfragen. Bei der Feedbackrunde meinten sie, sie könnten die Zusammenhänge, die ich angesprochen hätte (zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Macht der Literatur) nicht sehen.
Ich weiss, warum ich hier kein gutes Angebot zuwege kriege. Ich bin nicht in der Lage, die Realität zu akzeptieren. Und die Realität ist, dass es bei vielen Azubis keine Kenntnis zu historischen Hintergründen gibt, ohne die ich persönlich seit meinem 16. Altersjahr kaum einen (Berufs-)Tag über die Runden gebracht hätte. Ich wusste vieles nicht, als ich in die Lehre kam, vor allem bei der Geschichte des 20. Jahrhunderts klafften Riesenlücken. Aber ich konnte die Sprengkraft von Brüchen in Konventionen durchaus nachvollziehen und bin bei Übungen und Erläuterungen dazu nie eingeschlafen.
Mein Problem heute ist, dass ich das von meinen Lernenden auch erwarte, selbst wenn ich vorgebe, es nicht zu tun. Mir sind zwar viele Dinge gar nicht mehr wichtig, die andere Kollegen die Wände hochjagen (es ist mir schnurz, wenn niemand weiss, was die Abkürzung UNO heisst und OPEC sowieso und AIDS erst recht – ist längst ein neues Wort und schreibt sich inzwischen Uno, Opec, Aids). Aber dass die blühende Jugend kaum mehr als verwelkte Lust an Zusammenhängen hat, macht mir insgeheim furchtbar zu schaffen. Meine Hitliste für das „Auf-die-Kartoffel-Beissen“ ist:
Bibelübersetzung & Reformation
Aufklärung & Weltbürgertum
Realismus & Industrialisierung
Wahlen & Abstimmungen
Wie ist es möglich, sich für diese Themen nicht zu interessieren? Ohne Bibelübersetzung (und ohne Buchdruck) wäre das Deutsche nie zu dieser kunstvollen Hochsprache geworden. Die Klassik, die Philosophie, die Volksschule, Kant, die Aufklärung, undenkbar. Und der Realismus! Hier haben wir mit Gotthelf und Keller nationale Grössen, die das Erzählen vom „kleinen Mann“ erst angefangen haben. Die Industrialisierung, die Entstehung der Arbeiterschaft, das Elend als Antithese zum Welthandel, die ähnliche Konstellation wie wir sie heute mit dem Nord-Süd-Gefälle haben, alles langweilig? Die Erfindung der Druckmaschinen wie die Erfindung neuer Schriftypen (Times), die Neuerfindung der Medien als Machtfaktor. Und Politik? Viele (nicht alle!) finden sie einfach zu kompliziert. Aber das ist ein Thema für einen eigenen Beitrag, ich bin schon genug abgeschweift.
Zurück zur Countrymusik: Johnny bleibt unvergesslich und wer eine deutsche Biografie lesen möchte, wende sich Franz Dobler zu. Die umfassende Biografie von Stephen Miller ist in Deutsch schlecht erträglich, da miserabel übersetzt.
Zum Schluss sei noch der Rootigste von allen erwähnt: Hank Williams erinnert an Artur Rimbaud, er war ein verdammt guter Dichter, von weit unten und mit wenig Zeit. Und dank der Popularität der Norah Jones klingt auch „Cold, Cold Heart“ wieder über den Äther.
[Animiert von Herr Raus Eintrag zum Thema Interpretation und den Kommentaren dazu.]

echt emsig

Habe en famille Wohnteile herumgeschoben, zwecks Putzen und Fehlerkorrektur aus früheren Jahren. Die grösse Fehlkalkulation war das grosse Kinderzimmer am hintersten Ende der Wohnung. Das Kind hatte selten Lust dort zu sein, es war einfach zu weit weg von allem allen. Jetzt ist es das Büro. Aber kein Büro ohne viel Kabel (Funk ist noch Emmentaler) und darum viel Kleinarbeit.
Aber Aufgaben (und Kriterien) für das 2. Lehrjahr, die in Einzelarbeit auf Exkursion gelöst und dann benotet werden, habe ich gestern am Morgen vor dem Ausstöpseln noch geschafft. Habe ich so noch nie gemacht, aber wegen der kommenden Feiertage bekomme ich nur so genügend Noten ohne zu viel Stress für die Lernenden zusammen. Mal sehen.
Und eine Ergänzung von Evi Allemann zur Chronologie Buchpreisbindungsdebatte habe ich auf Papier gemacht und doch noch knapp vor Highnoon aufgeschaltet.
Zwei Tage ohne Netz. Und Arbeiten geht.

Leben punktiert

Ich habe heute wertvolle Lebenszeit und eine Milliarde Sonnenstrahlen auf der Nasenspitze vergeudet, um alle Prüfungsprotokolle und Kriterien dieser fragwürdigen Regelung anzupassen. Ich dachte eigentlich, zu viel Auflehnung würde sich nicht rechnen und habe mich zurückgehalten. Aber die sechs Stunden, die mich das gekostet hat, hätte ich wahrlich besser und lehrreicher in Kampfgeist und -strategie investiert.

Aufräumen

Während ich hier, in meinem Büro und auch ein wenig in meinem Leben aufräume, empfehle ich drei Geschichten, die mir am Herzen liegen:
Eine Buchgeschichte von Herrn Rau. Über die Freuden des Buchbesitzes und die Vorfreuden auf das Lesen.
Eine Migrantinnen-Geschichte. Über die Selbstverwirklichung der Eltern und die eigene.
Eine kurze Geschichte des Volksschul-Dilemmas.
Bis dann.

mea culpa

Tut mir Leid,
dass ich noch nicht fertig bin,
für den ganzen Kommentarspam,
für jeden verlorenen Kommentar,
dass man die Bilder nicht mehr sieht,
dass ich nicht weiss, wie die Kategorien ordnen,
und überhaupt.
Eigentlich möchte Tanja einfach nur bloggen. Ab und zu.

Schwermut kommt vor dem Fall

In meiner Lehrerinnen-Rolle neige ich zeitweise zur Schwermut. Ich ertrage nicht immer, dass die Welt, in die ich „meine“ Lernenden entlasse, schlecht ist und nicht einmal der tote Papst kann mir helfen. Er ist nicht mein Vater und ich vermag mich nicht einzugliedern in den Schwall euphorischer Menschen, die wieder wahre Werte finden.
Ich lese dann so Sachen wie beim Shopblogger letzten Samstag und sehe, dass die Welt trotz viel mehr Pilger keinen Deut besser geworden ist. Ich denke an die junge Frau aus meiner Klasse, der ein Kunde die Bibel angeschmissen hat, mit dem Aufschrei „haben sie die üüü-ber-haupt jemals gelesen ?! Haben sie eine Ahnung, wie sie sich versündigen?“ Und warum? Die Lernende arbeitet zwar in einer theologischen Fachbuchhandlung, hat aber auch Harry Potter im Regal.
Ja, so ist es nicht weit her mit den heeren Werten von Verständnis und Menschlichkeit. Gerade im Verkauf sind Beschimpfungen und Verunglimpfungen an der Tageordnung, selbst Tätlichkeiten kommen vor.
Die gute Nachricht: Inzwischen habe ich zu dem Brand der Synagoge, der mich in verschiedenen Zusammenhängen beschäftigt hat, etwas gefunden, was mein ungutes Gefühl treffend beschreibt.