Von Aufwertung ermattet

Seit vier Jahren lebe ich auf, neben und hinter einer der grössten Baustellen Europas: Westside. Nur selten schob die Limousine des Stararchitekten sich lautlos vorbei. Treue Begleiter waren Staub und Lärm, sichere Zaungäste rüstige Rentner aus dem ganzen Land.

Jahrelang hat Bern sich bemüht, seinen verrufenen Westrand aufzuwerten. Hochhaussiedlungen türmen sich hier zur Geröllhalde einer missglückten Planungspolitik, bis die heruntergekommenen Wohnscheiben und Türme von Gäbelbach nur mehr Stadtrand-Tristesse sozialer Notstandsgebiete verströmen.

– NZZ am Sonntag vom 5. Oktober 2008

Von dieser Geröllhalde komme ich her, dahin bin ich immer wieder zurück gekehrt. Ich musste aus Herkunftsgründen oft beweisen, dass ich lesen, schreiben, lernen, ja sogar lehren kann. Heute wäre ich sogar fähig, einen gepfefferten Leserbrief für die NZZ am Sonntag zu verfassen. Als Beilage Feinheiten der Architekturgeschichte, Ideen urbaner Entwicklung, Beispiele selbstregulierenden Wohnens und Statements begeisterter Architekturstudenten aus aller Welt. Aber ich bin zu müde.
Unsere Baustellen erleuchteten Nächte sind nun zusätzlich von bunten Lichttests für die morgendliche Gala erhellt. Grüne, violette und blaue Leuchtkegel brennen sich in die Höhlen hunderter Termiten, die heruntergekommene Türme bevölkern und ohnehin nicht schlafen, weil sie nachts arbeiten. Schwarz. Auf der Baustelle.
(Keine Sorge. Natürlich werde ich morgen bei der Eröffnung dabei sein! Schliesslich gibt es eine neue Buchhandlung und das ist in meinem Sinne, weissgott. Aber bitte verzeihen Sie mir alle, ob in Ausbildung, in Leitungsposition oder andere Vertreter der Buchbranche: Ich komme erst nach den Eröffnungsreden. Ich weiss jetzt, dass ich aufgewertet wurde. Es wird keines weiteren Presseartikels und keiner Politrhetorik bedürfen, ehrlich.)

Weiterbildung in Faksimile

Das Buch von Lindisfarne, c Faksimile Verlag Luzern
Das ist das Schöne am Buchhandel: Man kann montags Digitalisierung und mittwochs schon Faksimilierung.
Gestern war ich an einen der seltenen Führungen durch den Faksimile Verlag Luzern. Dies ist die einzige Möglichkeit, die besten Faksimiles der Welt genauer anzuschauen und sogar in die Hand zu nehmen.
Natürlich ist fast alles Betriebsgeheimnis. Zum Beispiel wie der Elfenbeinersatz für die Nachbildung mittelalterlicher Einbandkunst gemacht wird und welche Stickereiwerkstatt die Millimeterfäden für die Replik vikorianischer Einbände zeichnet und der Kundenstamm sowieso. (Das sollte allerdings nicht nur bei Buchkunden, die pro Titel um die 30’000 CHF ausgeben, so sein, sondern ausnahmslos bei allen. Merkt euch das werte Branchenleute, Amen.)
Trotzdem gibt es im Verlag immer noch genug Neues zu erfahren: Handschriften bleiben immer am Ort. Es reisen die Hersteller, niemals das Original. Manche Handschriften dürfen per tesamentarischer Regelung nicht einmal einen bestimmten Raum verlassen. Jede Seite wird unter Sperberaugen der Restaurateure der Biblioteca Apostolica Vatican, des Corpus Christi Colleges, des Schlosses Chantilly und etlicher anderer hohen Herbergen fotografiert. Dass Seiten nicht von selber gerade liegen, weiss jeder. Wie viel es braucht, bis sie es doch tun, fast niemand:
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Physical and digital sales

Gestern war ich an einer Tagung. „Digitalisierung im Buchhandel“. Es ging da um Begrifflichkeiten, Facts und Prognosen.
Ich hatte mir selber versprochen, nach dem Anlass wenigstens ein paar Einschätzungen anderer zum Besten geben zu können. Ich werde ja häufig gefragt, was ich von Kindle und Co. halte. Nur ist Digitalisierung leider keine Konstante im Koordinatensystem meiner Meinung und als Lehrerin bin ich sowieso froh um fremde Zitate (anstatt persönliches Glatteis).
Ich war erleichtert zu erfahren, auf welche Begriffe wir uns in der Branche geeinigt haben (was ja nichts heissen will, weil die Mehrheit immer alles ändern kann, vgl. Deppenapostroph). Terminologie für Messegespräche:

  • E-Content ist elektronisch verfügbarer Inhalt ohne besondere Form.
  • E-Book ist ein elektronisch verfügbarer Inhalt, den es auch als gedrucktes Buch gibt.
  • E-Publishing ist das Verlegen elektronischer Inhalte (egal, ob online oder offline)
  • Was die Presse häufig „E-Book“ nennt, heisst bei uns im Buchhandel also „Lesegerät“. Noch besser ist’s, die Marke zu nennen, weil Sony Reader, Kindle, iLiad und CyBook verschiedene Stärken haben. Welche, probieren wir gerade aus (Sony Reader und Kindle erst in Miniportionen, Auslieferung hier frühstens auf die Buchmesse, wenige Exemplare von US-Aufenthaltern).
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    Sommer verblasst

    Passages, Camargue, Julliet 2008 Dunes, Camargue, Julliet 2008
    Mürrisch braust der Eichenwald,
    Aller Himmel ist umzogen.
    Und dem Wandrer, rauh und kalt,
    Kommt der Herbstwind nachgeflogen.
    Courir, Camargue, Julliet 2008 Sauter, Camargue, Julliet 2008
    Wie der Wind zu Herbsteszeit
    Mordend hinsaust in den Wäldern,
    Weht mir die Vergangenheit
    Von des Glückes Stoppelfeldern.
    Aigues-Mortes, Camargue, Julliet 2008 Sel, Camargue, Julliet 2008
    An den Bäumen, welk und matt,
    Schwebt des Laubes letzte Neige,
    Nieder taumelt Blatt auf Blatt
    Und verhüllt die Waldessteige;
    La Mer, Camargue, Julliet 2008 Les Poissons, Camargue, Julliet 2008
    Immer dichter fällt es, will
    Mir den Reisepfad verderben,
    Dass ich lieber halte still,
    Gleich am Orte hier zu sterben.
    Le canal, Camargue, Julliet 2008 La Plage, Camargue, Julliet 2008
    Dank der freundlichen Unterstützung von:
    Nikolaus Lenau (1802-1850) mit seinem
    Gedicht: „Herbstgefühl“ (1832).

    Diskriminierung ist irgendwie… zu kompliziert

    Dass Diskriminierung zu jeder Zeit und an jedem Ort zu menschlicher Verhaltensweise gehört, ist bekannt. Ich weiss nicht mehr, welche Ethnologen ihr Lebenswerk auf dieser Erkenntnis begründet haben, ich habe zu lange keine stw mehr verkauft (Erdheim, Durkheim, Strauss?).
    Das Bedürfnis, Diskriminierung zu bekämpfen, wächst wohl mit dem Bildungs- und Wohlstand. Denn für ausstossende Gesellschaften ist beides arg begrenzt.
    Warum ist dann Diskriminierung so selten das Thema?
    Die aktuelle SPIEGEL-Titelstory widmet sich erneut der Erkenntnis, dass die Ur-Feministinnen ganz besonders unrecht hatten, weil Frauen und Männer – ehrlich bewiesen! – unterschiedlich seien (genetisch, psychologisch, ethnologisch, ethologisch, biologisch, jedenfalls wissenschaftlich erhärtet). Dies‘ Mal zeige Susan Pinker in Das Geschlechterparadox, dass Frauen andere Kompetenzen und deswegen Vorstellungen vom Leben haben, die für die Machtergreifung kaum taugen.
    Um das zu bestreiten, fehlt mir der akademische Background. Aber ich finde, die Medien könnten sich etwas häufiger den Grundsatzfragen der Diskriminierung stellen, anstatt ständig die gleiche Story (Frauen zeigen Frauen, dass sie – echt! – anders sind als Männer…) zu variieren.
    Wo und wie entsteht Chancengleichheit? Wie und weshalb geht sie verloren? Ist das Streben danach ein Goodie oder eine Bedingung für die Menschheit?
    In ganz wenigen, gut versteckten Zeilen findet man sogar im SPIEGEL Zweifel:

    Natürlich handelt es sich bei alledem nur um Mittelwerte – keiner der Wissenschaftler behauptet, dass diese Aussagen auf jeden Mann und jede Frau zuträfen. Im Gegenteil: Meist seien die Unterschiede innerhalb eines Geschlechts deutlich grösser als die zwischen Mann und Frau.

    Das wäre eben interessant. Und die Antworten auf die Unterschiede zwischen Menschen würden viel eher zeigen, ob das Geschlecht wirklich ein so relevantes Merkmal ist. Antworten auf Fragen, weshalb Jungs, die nicht bluffen nirgends hinkommen, weshalb Aufschneider einfacher Karriere machen, warum Buben mit Puppen noch immer belächelt werden, wären spannender, als jede Unterschied-Studie mit Seitenhieb auf die Frauenbewegung breitzutreten.
    Die Forscher haben laut SPIEGEL sogar herausgefunden, dass selbst im Kibbuz die Verteilung der Geschlechter auf die Tätigkeiten nicht gleichstellungskonform ist: es gebe mehr Männer in der Landwirtschaft und mehr Frauen im Kinderhaus.

    Nun müsste da nicht unbedingt ein Unheil sein. Denn wäre es wirklich so schlimm, wenn uns am Krankenbett weiterhin eine Frau das Frühstück bringen und ein Mann den Rohrbruch im Badezimmer flicken würde – vorausgesetzt, beide erhielten dafür die gleiche Bezahlung?

    Fragen über Fragen. Aber keine sexy Antworten.

    Erinnerungen ans Schnuppern

    Letzte Woche hatte das Kind Arbeitswoche. Das ist eine Projektwoche, in welcher Untergymnasiasten an einer Stelle ihrer Wahl „schnuppern“ und das Erlebte in einer Semesterarbeit dokumentieren. Das Kind wollte in den Verkauf („nicht Bücher!“). Solche Stellen sind schwer zu finden. Weil diese Schüler keine Lehrstelle suchen, springt für die Geschäfte ausser ein wenig PR nichts raus. Nach einigen Bewerbungen (von der Mutter verdonnert, ganz korrekt mit Lebenslauf und Begleitschreiben) fand das Kind je eine halbwöchige Schnupperstelle bei SportXX und bei Ochsner.
    Es war eine lehrreiche Woche, auch für mich. Wer 8-9 Stunden arbeitet, spricht abends im Fachjargon, ich musste oft nachfragen. „Ich habe eine Stunde Damen aufgebügelt, danach zwei Stunden Freizeitschuhe gesichert“ bedeutet, neu eintreffende Frauensportkleider an Bügel und danach an rollbare Kleiderständer zu hängen und Turnschuhe mit einer Diebstahlsicherung zu versehen.
    Meine eigene Schnupperzeit ist weit weg. Ich erinnere mich gut an die Praktika, die ich gleich nach der Steiner-Schule bei der Presse gemacht habe. Aber die Wochen und Monate, in denen ich eine Lehrstelle gesucht habe, liegen im Nebel.
    Ich habe einen Tag bei einem Anwalt geschnuppert, dessen Namen und Gesicht mir völlig entfallen ist. Ich weiss noch, dass ich dort die Kaffeemaschine nicht bedienen konnte, weil ich damals nur das System Filterkaffee (von Hand abgeschüttet) kannte. Er war höchst ungehalten, dass ich das einzige, was er von einer Schnupperlehrtochter verlagte, (nämlich Kaffe auf seine Bestellung zu richten) nicht beherrschte. Ich bewarb mich danach noch für etliche andere kaufmännische Lehrstellen, aber das meiste habe ich verdrängt. Meine Steinerschulzeugnisse waren Honegger zu unklar, dem Berner Bär waren meine Eltern zu geschieden und die Galerie Kornfeld lobte zwar meine Kunstkenntnis, stiess sich aber am Rest und besonders an meinem Wohnquartier. Bei denen musste sogar die KV-Lehrtochter eine präsentable Adresse haben.
    Die Berwerbung und die Schnuppertage in der Buchhandlung gingen mir hingegen leicht von der Hand. Ich packte aus und ein, holte und brachte die Post und half am Ende noch bis tief in die Nacht mit bei einem Büchertisch zu einer überfüllten Lesung mit Niklaus Meienberg („Die Welt als Wille und Wahn“). Es war, als hätte ich nie etwas anderes getan, Meienberg kannte ich schon aus dem WOZ-Praktikum und auch seine Leserschaft war mir vertraut.
    Mein zukünftiger Lehrmeister redete kaum mit mir, aber er verspach am Ende der Schnupperzeit, sich bald wegen der Lehrstelle zu melden. Er rief mich einige Tage später an und fragte, was ich nun für Pläne im Leben hätte? Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte, hatte aber auf der Berufsberatung gelernt, dass man keine Gegenfragen stellen dürfe. So entgegnete ich „Buchhändlerin werden“ und das war offensichtlich das Richtige.

    Der aktuelle Schreibtisch

    Als ich damals in das Büro meines Chefs eingezogen wurde, habe ich den mir zugedachten Tisch fotografiert. Heute ist mein damaliger Chef pensionierter Lehrer mit anderem Lehrauftrag und anderem Büro, und auch mein Schreibtisch ist nicht mehr derselbe.
    Mein Büro 2008
    Aus Gründen – wie Sibylle Berg derlei formulieren würde – ist es mir nicht gelungen, meinen ersten, zu kleinen Schreibtisch von der Schule ersetzen zu lassen. Ich habe mir mein Inventar selber neu gekauft oder occasion erworben. (Sollte ich einmal ausziehen, wird für meine Nachfolge ein PC am Boden stehen.)

    Echtheit in Echtzeit

    Der Artikel „Der Sieg der Strasse“ im neuen SPIEGEL (gehöre zu den alten Abonnentinnen) ist bemerkens- und leseswert. Ich habe mir ja angewöhnt, vor meinem Senf nachzusehen, ob nicht ein anderes Blog schon kommentiert hat. Medienlese hat ganz in meinem Sinne.
    Blogs werden die Medien- und Politlandschaft nicht verändern, sie haben sie bereits verändert. Für mich sind die Grenzen zwischen Blogger-Vereinigungen oder News-Portalen kaum mehr auszumachen, Informationen und Personal fliessen längst hin und her.
    Authentizität anheizen, anritzen, absprechen, wieder aufbauen ist das Programm. Nur wer ein endloses Casting erträgt, taugt für die Politik, dafür geht’s auch mit der Berühmtheit schneller. Obama und Palin sind Prototypen.
    Trotzdem wird kein Kandidat – egal ob für den Berner Grossrat oder für das US-Präsidium – deswegen auch nur fünf Minuten weniger Strassenwahlkampf machen können. Nur mehr Fehler.