Weil sich mein Buchhändlerinnen-Ich wie auch mein Pädagoginnen-Ich wie auch mein Mutter-Ich gesträubt hat bei der Abkanzlung der sogenannten „Problembücher“ in den Lehrerzimmer-Kommentaren, werde ich heute ein paar solche empfehlen. Wenn man nicht die Kinder direkt befragt – was das Naheliegendste wäre – kann man auf Buchhändlerinnen und Verlage zurückgreifen um zu erfahren, dass viele Jungs im Alter von ca. 12-14 Problembücher mögen. Da manche Lehrerinnen und Lehrer mit „Problembuch“ noch immer das veraltete Rolltreppe abwärts (erschienen 1974) assoziieren, nützt vielleicht ein Blick auf die Aktualitäten. Bis auf eine Ausnahme spielen die nachfolgenden Bücher nämlich im 21. Jahrhundert.
Zuerst zwei Titel aus der Reihe „short & easy“ von Ravensburger, einer Reihe für äusserst schwache Leser, für „Erstleser“ ab 12, wie es sie bei Jungs eben gibt. Volle Pulle oder Genug geschluckt sind erfolgreich, weil sie Leseantrieb bieten, weil in einem Abschnitt schon vieles zu erfahren ist und auch langsame Leser eine Aufgabe wie „4 Seiten lesen“ so leicht bewältigen können wie „Normalleser“ die Leselöwen. Trotzdem zeigen die Umschläge ganz deutlich, dass es keine Kinderbücher mehr sind, was Jungs ein gutes Gefühl gibt. Diese Bücher haben am Ende meist eine positive Wende, eine Lösung.
dtv junior bringt jährlich viel Literatur für Jungs unter dem Motto: lesen – nachdenken – mitreden. Zum Beispiel Vorstadt Roulette. Übliche Geschichte: Marcel aka Hannibal will dazugehören und baut Scheisse, entsprechend beschissen geht das Buch aus. Unüblich sind die Figuren. Die Mutter ist nicht auf den Kopf gefallen und auch die Lehrer und die Polizei sind nicht von gestern. Es geht nicht darum herunterzuleiern, dass es nicht anders kommen konnte, sondern um den verdammt schmalen Grat. Was er davon hält und auf welche Seite er kippt, entscheidet der Leser, nicht die Autorin. Gutes Schriftbild, kurze Kapitel, guter Aufbau, erst im September erschienen und gut verkäuflich.
Mikael Engström und Mats Wahl sind zwei schwedische Konfliktbuch-Schreiber und Schweden ist in der Gegenwartsliteratur bekanntlich stark. Beide erscheinen in Deutsch in der ausgezeichneten Reihe Hanser bei dtv.
Mikael Engström erfindet Jungs, denen ich nicht widerstehen kann. Er schafft ihre ganze Not in Sätze zu packen wie kaum ein anderer. Brando ist inzwischen eine bekannte und beliebte Figur geworden und Brando ist auch die Ausnahme, die nicht im neuen Jahrhundert, sondern in den Gastarbeiter-Siedlungen der Siebzigerjahre daheim ist. Steppo ist ein weniger schnell erfassbarer Protagonist, sein Profil kriegt er erst im Laufe des Lesens, vor allem durch Dialoge. Engström (Jg. 1961) kann Jugendsprache, er kann Liftfasssäulen, er kann Dealergehabe und er kann Migrationsgesellschaft.
Mats Wahl ist brutal. Er knallt dem Leser eine. Sein Protagonist ist kein Junge sondern Kommissar Fors, ein Ermittler à la Wallander. Die Bücher entsprechen dem Label „Jugendbuch“ insofern, dass es nicht um Beziehungskisten geht und auch nicht um politische Zusammenhänge, die Sprache ist knapp und klar, der Rest gnadenlos. Ich halte Wahl für eine Wende im (Jungen-)Jugendbuch – und er wird gelesen.
Es ist, als wollte er den Jungs sagen, ok, ihr mögt Ego-Shooter, ist in Ordnung. Derbe Sprüche, Gewalt, Exzesse, Liebäugeln mit Drogen, mit Radikalen – das interessiert euch. Dann mach ich doch mal ein paar Bücher über die harte Welt, in die ihr so gerne eintreten wollt. Keine Bilder, keine Farben, kein Ton – bloss ein paar Buchstaben. Dafür Schüsse im Kopf. Du siehst zu beim Amok in der Schule, Kinder sinken zusammen; Kinder die du kennen lernst, nachdem sie schon tot sind, wenn die Eltern ihre Zimmer ausräumen und schreien dabei. Du siehst ganz genau hin, unter jedes Schülerpult, siehst wie die Care-Team-Gruppen arbeiten. Und dazu lernst du ein paar Fakten zur Polizeiarbeit, zum grauen Alltag, in dem es kein zweites Leben gibt und mancher nicht mehr aufsteht. Und Sterben – Sterben aus dem echten Leben heraus – das ist halt endgültig.
Doch das ist Mutter-Optik. Mats Wahl hat nämlich kein einziges „Merk dir das!“ zwischen den Zeilen. Er vermittelt den Jungs, die ihn lesen: „Entschuldige, Junge, dass ich es dir nicht eher gesagt habe. Hier. Ich nehme dich für voll. Mach damit, was du willst. Immerhin kannst du nicht mehr sagen, du hättest nichts gewusst.“