Vergangenen Sonntag war ich bei einer Tagung aufs Podium geladen, die sich mit der Herausforderung E-Book befasste, was interessant war, weil’s bei E-Themen ja garantiert etwas gibt, was man noch nicht weiss. Breitformatige E-Books für Kinderbilderbücher beispielsweise kannte ich nicht, den Exklusiv-Reader der Kette X hatte ich noch nie in der Hand gehabt, von dem der Kette Y wusste ich nicht, was er schlussendlich kosten soll. Die neusten Zahlen zu den Lesegewohnheiten bisheriger User (eine Datenbasis von 100 ist dabei schon viel) sind wohl nicht ganz verlässlich und die Bewegungen auf neuen Absatzmärkten bzw. Gadgets können nur teilweise erhoben werden. Die Antwort auf die Frage, wer wem die Preise diktieren und/oder die Inhalte klauen wird, bleibt wolkig, das liegt in der Natur der E-Sache.
Dieses Mal ging es zusätzlich um den Einfluss auf den Berufsalltag der Buchhändlerin und des Buchhändlers und da tun sich – wie in allen Buchberufen – Gräben auf. Die Diskussion läuft sehr emotional und schon eine ganze Weile im Kreis. Das papiererne Buch zu bewahren ist ein legitimer Anspruch, bei der Digitalisierung der Inhalte vorne dabei zu sein ebenso. Warum sollten wir heute sagen können, wer sich zukunftsgerichteter verhält? Es erscheint mir doch ziemlich vermessen, 5000 Jahre Buch als nahezu abgeschlossen zu betrachten. Und es scheint mir wenig hilfreich, zehn Jahre globales Heavy-E-Reading als Hype abzutun. Die jetzigen Generation Buchmenschen muss von beidem etwas verstehen, pragmatisch, neugierig und vor allem den Inhalten zugeneigt bleiben. Denn diese Würfel sind noch lagen nicht gefallen.
Kategorie: In der Lehre
Aus dem Schulzimmer
Pegasus Nr. 100: Jubel!
Gestern ist unserer Schulzeitung „Pegasus“ zum 100. Mal erschienen. Es ist keine besondere Jubelnummer mit Gastbeiträgen Prominenter oder Auszügen aus dem Archiv (welches auf Floppy-Discs sein unvollständiges Dasein fristet), wie es sich eigentlich für eine Zeitung gehörte. Wir mussten aus Gründen, die sich jeder denken kann, auf die grosse Kelle verzichten und beim kleinen Löffel bleiben. Mir persönlich gefällt das sowieso besser, es passt zum Buchhandel. Auch wenn es viele nicht begreifen wollen: In unserer Branche ist Grösse und Getöse weder eine Garantie für Qualität noch für Rendite.
Auf den 100. Pegasus!
Zur Digitalisierung der Öffentlichkeit
In seinem Artikel im SPIEGEL vom 23. August 2010 „Demokratie und Heuhaufen“ zeigt Thomas Darnstädt kurz und richtig, dass die Street-View-Entwicklung nicht in erster Linie das Privatleben, sondern die Öffentlichkeit bedroht. Auch wenn einiges davon schon bei Zeh und Trojanov steht, sehr lesenwert, weil Darnstädt aus der entgegengesetzten Richtung denkt.
(…) Haben die Bürger einst die Öffentlichkeit dem Absolutismus abgetrotzt, um frei zu sein, müssen sie nun erleben, dass neue absolute Mächte ebenso unkontrolliert wie einst Ludwig XVI. in Frankreich die Übersicht über alles beanspruchen.
Was Wunder, dass Politiker ratlos sind – es ist noch die klügste Reaktion. Denn selbst gutgemeinte Versuche des Staates, die Digitalisierung der Öffentlichkeit zu stoppen, gehen ins Leere. Die bürgerliche Öffentlichkeit lässt sich nicht durch saatliche Interventionen retten – Öffentlichkeit ist kein Naturschutzgebiet, um das der Staat Zäune errichten kann. (…)
[Bild: Vorstellungsrunde meiner neuen Azubis anhand von Arbeits- und Wohnort auf einer Schweizer Planokarte.]
Die erste Schulwoche
Die Neuen sind sehr nett. Allein schon der Umstand, dass sie in diesen Zeiten Buchhändlerin und Buchhändler werden wollen, macht sie mir natürlich sympathisch.
Die Herausforderungen der ersten Schulwoche sind daher rein organisatorischer Natur. Hufeisen-Bestuhlungen, die über die Ferien wieder zu Reihen geworden sind, Arztzeugnisse für Einschränkungen aller Art verarbeiten, Gesuche für späteren Eintritt in den Unterricht aufgrund langer Schulwege ausfüllen lassen und genehmigen, Azubis beruhigen, die Fächern zugeteilt sind, die sie schon in einer anderen Ausbildung abgeschlossen haben – solche Sachen halt. Prä-Internet hat die Klärung dieser Angelegenheiten das ganze erste Quartal in Anspruch genommen, heute dauert es noch zwei, drei Wochen. Aus chronistischen Gründen nachfolgend ein paar Links zu den Informationen, die wir zu Schulbeginn geben:
Notes to myself
Im Lift in der Schule stecken geblieben. Baustaub schade dem Getriebe, er muss gereinigt werden. Beantragt, dass Lift bis nach der Reinigung geschlossen bleibt. Unerträgliche Vorstellung, dass die neuen Azubis in ihrer neuen Schule als erstes eingesperrt würden.
Vor zweit Tagen das Schulhaus beziehen können, bis auf vier Kisten alles ausgepackt und wieder eingeräumt. Nachher-Fotos und Kamera vergessen. Gestern Weiterbildung in Sachen Führungsverständnis inkl. Test mit 147 Fragen. Gemäss Resultat (Transaktionsanalyse) geringer Anteil Kindheits-Ichs (humorlos, unspontan). Heute Schulkonferenz: Viele gute Gespräche, wenig Bewegung. Viel gelacht.
Grosse Freude an den Reinigungsfrauen im Schulhaus. Haben ohne Anweisung Anweisung gegeben, wie mein Büro einzurichten sei; perfekt. Erstmals realisiert, wie sehr sie meine Bilder von Jörg Müller schätzen. Hatte „Vorsicht! Originale!“ drauf geschrieben und ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie ja immer Sorge tragen zu meinen Sachen.
Abschluss 2010
Schulschluss gibt eine Menge Arbeit, manchmal so viel, dass ich morgens nicht daran glaube, bis am Abend auch nur das Nötigste getan zu haben. Sommeranfang ist für die meisten Lehrpersonen eine Zeit des Abhakens und des Verabschiedens.
Unsere Abschlussfeiern haben immer einen ähnlichen Ablauf und finden am gleichen Ort statt. Dennoch sind sie pro Jahrgang unterschiedlich. Dieses Jahr hielten ein frischer Buchhändler der einen Klasse und zwei frische Buchhändlerinnen der anderen Klasse je eine sehr passende Rede. Es las Ruth Schweikert – unter anderem einen ganz neuen, berührenden Text über die Herkunft und Heimat eines Kindes, welches sie selber gewesen ist.
Fast an jeder Abschlussfeier bekomme ich Rückmeldungen, die mich verblüffen. Dieses Jahr war es die Anerkennung der Autorin: „Danke für Ihr Engagement für den Beruf, der unser Überleben sehr befördert.“ Es kommt selten vor, dass Autorinnen diesen Zusammenhang herstellen, normalerweise ist der Buchhändler der erste, der in der digitalen Revolution beerdigt und der letzte, der verdankt wird.
Eine mir unbekannte Mutter (in Berufsfachschulen kennt man nicht die Eltern, sondern die Ausbilderinnen) erzählte, wie wichtig meine Hilfe und mein Zuspruch für den Erfolg der Tochter gewesen und wie dankbar die Eltern mir stets gewesen seien. Hätte mich jemand gefragt, wem ich in diesem Jahrgang besonders behilflich gewesen war, diese Tochter wäre mir zuletzt eingefallen.
Eine Azubi, mit der ich während der Lehre ein paar Mal ein ernstes Wort sprechen musste, weil sie wegen eines sportlichen Hobbys viel fehlte, erinnerte mich beim Abschied an etwas, was ich ihr im 1. Lehrjahr gesagt hatte: Für die vielen Absenzen müsse sie dann auch eine Medaille heimbringen. Nun war sie in ihrer Sportart wirklich Schweizer Meisterin geworden!
Es wird uns Lehrerinnen und Lehrer doch besser zugehört, als wir denken.
Gesagt ist nicht gehört v.v.
Für eine Projektarbeit zum Thema „Schulbildung früher und heute“ im Fach „Wirtschaft, Recht, Gesellschaft“ haben drei Lernende der Abschlussklasse mich (und viele andere) befragt. Sie wollten wissen
Ich gebe mir bei solchen Antworten immer Mühe, weil ich ja weiss, dass meine Kollegen vom anderen Fach mein Zitat lesen werden und es mir sehr peinlich wäre, wenn ich Mist erzählte. Was ich nun meine, geantwortet zu haben:
Die Reform unserer Berufsbildung ist in meinen Augen für die Schule und die Branche ein Gewinn. Ob ihnen der Beruf attraktiv erscheint, werden aber bis ans Ende aller Tage die zukünftigen Azubis entscheiden, indem sie den Beruf wählen oder eben nicht.
Ich habe in den letzten Jahren viele Veränderungen festgestellt, aber dass die Lernenden „dümmer“ werden gehört definitiv nicht dazu, auch wenn man das immer mal wieder liest. Die Abhängigkeit von Elektronik und speziell vom Internet und einigen wenigen Playern darin, macht mir aber schon Sorgen. Wie und warum sollen Jugendliche genau und vorausschauend arbeiten lernen, wenn sie heute mit E-Monokultur, Geschwindigkeit und Oberflächlichkeit besser beraten sind? Vielleicht ist es einfach der Lauf der Zeit, dass die Arbeit im Detail gar nicht mehr gefragt ist. Es ist kein objektiver Eindruck und eine Statistik habe ich auch nicht, aber ich sehe es gut in den mündlichen Arbeiten wie Vorträgen mit Präsentation: Der Inhalt ist häufig etwas wacklig, aber die Referiernden sprechen frei und lebendig und die Präsentationen sind meist viel besser und zweckmässiger als das, was ich von (längst) Ausgelernten zu Gesicht bekomme.
Was nun in der fertigen Arbeit steht:
Frau M. ist mit dem neuen System (der Ausbildung zur Buchhändlerin, sic.) zufrieden. Sie findet es zeitgemäss und der heutigen Gesellschaft angepasst.
Sie hat aber im Allgemeinen Angst davor, dass die Menschen durch das Internet sehr beeinflussbar werden. Zudem wird alles schneller, dafür weniger genau. Dies sei jedoch der Lauf der Zeit. Aber es gäbe auch Verbesserungen in den Schulen, zum Beispiel die immer besser werdenden Präsentationen der Schüler.
(Ich weiss, alle Lehrpersonen kennen das Staunen bei der Wiedergabe dessen, was sie gesagt haben. Aber meistens kommt das einem ja nur selber zu Ohren und Augen und nicht den Kollegen. Ich finde meine Antwort hier im Zitat ziemlich altbacken und leicht frustriert. Aber vielleicht habe ich ja wirklich so geklungen und vielleicht bin ich einfach alt. Aber sicher nicht frustriert von meinen erwachsenen Azubis, die ich seit einem Jahrzehnt nicht mehr „Schüler“ nenne.)
Nachtrag 24. Juni 2010: Inzwischen habe ich die ganze Arbeit gelesen und sie hat mir einige neue Erkenntnisse gebracht. Die Aussagen der befragten Lehrpersonen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind ziemlich unterschiedlich.
Ein guter Tag
Schon am Morgen haben männliche und weibliche Azubis ihren Charme spielen und ihre Wimpern klimpern lassen, um den Match schauen zu dürfen. Heute einen Unterrichts- und keinen Arbeitstag zu haben war eine einmalige Chance, schliesslich sollen Buchhandlungen auch weiterhin ein sicherer Hort derer bleiben, die sich nicht um Fussball scheren. Schulen weniger. Wir haben eine Lösung gefunden, der Lehrer der „technischen Warenkunde“ konnte unsere Infoscreen im Schulhauseingang zum TV umfunktionieren. Es war wundervoll zu sehen, wie sich die Schulhaustreppe in eine Zuschauertribüne verwandelte. Aber natürlich waren die Lernden aus spanischem Elternhaus nicht glücklich, da sind die 10% ein kleiner Trost.
***
Als ich am Abend im überfüllten Bus sass, zusammen mit deutlich mehr Leuten in Spanien-Tricots als mit solche mit Schweizer Kreuz, hörte ich ein kleines Mädchen zu seiner Mutter sagen: „Komm, wir fahren bis Endsation und kaufen ein Büchlein („äs Büechli“) und sagen Papi nichts.“ Die Mutter nickte nachdenklich. Ich konnte mich nicht zurückhalten zu fragen, ob der Buchkauf denn nun ein Geheimnis sei oder eine Überraschung gebe? „Ein Geheimnis,“ flüsterte das Mädchen.
Futura 2010
Zwischenstand
Für mich ist diese Zeit von der ersten Prüfung bis zur Prüfungsfeier die Anstrengendste im Schuljahr. Fehlplanung strikes back – denn jeder Fehler multipliziert sich in Windeseile. Selbst kleine Ignoranzen wie ein ermunterndes Lächeln zu unterlassen oder keine Taschentücher abgeben zu können, haben eine miserable Wirkung auf das Klima.
Ich habe in Prüfungszeiten viele Funktionen, die schwer (gleichzeitig) auszufüllen sind. Das ist halt alles historisch gewachsen. Erst war ich nur Expertin und habe keine Fragenstellungen gemacht. Dann wurde ich zur Examinatorin und war auch an der Fragestellung im mündlichen und schriftlichen Bereich beteiligt. Danach wurde ich Hauptexpertin und war auch zuständig für die Qualitätssicherung aller anderern Fragestellungen im Fachbereich Buchhandel inklusive Verlag. Dann wurde ich Abteilungsleiterin und bekam die Prüfungsleitung. Weil die Lehrabschlussprüfung in dieser Form aber wegen der Reform ein Auslaufmodell ist, gibt es niemanden, der eine meiner Funktionen übernehmen möchte.
Ich befinde mich deswegen in diesen Juni-Wochen einfach in einer gelinde gesagt verzwickten Lage und kann nur hoffen, dass alles in der zweiten Halbzeit weiter läuft wie in der ersten. Ich habe Grund zur Zuversicht, denn die Lehrpersonen und externen Expertinnen in meinem Team sind wirklich sehr engagiert bei der Sache. Es gibt sogar ein sog. überparteiliches Komitee „häb Sorg zur Chefin“, welches mir beispielsweise Mandelbären zukommen lässt. Nein, es gibt wirklich keinen Grund zu jammern.