Kriterien eines guten Gesprächs

Kriterien eines guten Gesprächs (mindestens so wichtig wie eine gute Mahlzeit):
1. Themen, die alle interessieren, Themen, die hin und wieder wechseln und deren Bedeutung auch gewissen objektiven Kriterien standhält;
2. einander zum Denken zwingen, zum Beispiel durch Fragen (Sokrates), auch bei Abschweifungen;
3. Abschweifungen beliebig zulassen, aber immer nach dem Gedanken fragen;
4. wenn der andere erzählt, ihn fragen, was er genau gesehen, gehört, gefühlt hat, was auffällig war, was für allgemeine Schlussfolgerungen sich für ihn daraus ergeben;
5. ausgeglichener Wechsel zwischen Reden und Zuhören, also auf die Herausgabe von Einfällen verzichten, wenn es den anderen in seinem Gedankengang unterbricht.
6. sofort stoppen, wenn die Leute anfangen, einander Witze zu erzählen.
Notiert von Peter Noll (1926-1982) am 21. März 1982.
Publiziert in seinem Buch „Diktate über Sterben und Tod“
(Piper TB 539 auf S. 140)

Tischgespräch [41]

Vater:
Die Göschener lassen wirklich kein Klischee aus. Sie jammern, sie würden vergessen. Sie sagen, ihre Arbeitsplätze fielen weg und unterschlagen natürlich, dass neue entstehen im Lichtjahre entfernten Altdorf. Ungesagt lassen sie auch, dass sie sechs Jahre Zeit haben für die Umstellung. Und sie sind sentimental genug, sich den europäischen Transitverkehr auf Rädern vor ihre Haustür zurückzuwünschen.
Kind:
Von wegen Göschenen: Wie sagt man jetzt, wenn man nicht mehr „Göschenen-Airolo“ sagen kann?
Mutter:
Gute Frage, gehört schliesslich zu meinem erziehenden Wortschatz.
Vater:
Erstfeld – Biasca?
Mutter:
Wie? Geht nicht gerade leicht von der Zunge.
Vater:
Frutigen – Raron? Die Lötschbergverbindung klingt vielleicht besser. Oder der alte Tunnel: Kandersteg – Goppenstein? Und als nächstes dann ein Bundesamt nach Göschenen verlegen.
Für Erklärungen für Nicht-Schweizer/-Integrierte hier „Tischgespräch [41]“ weiterlesen

Im Empfangsbereich notiert

Soweit ich mich erinnern kann, habe ich nie freiwillig Frisch gelesen. Nur in der Schule oder höchstens, weil ihn mir jemand dringend empfohlen hatte. Seit der Veröffentlichung seiner Entwürfe zum dritten Tagebuch lese ich ihn aus eigenem Antrieb, gerade jetzt im Empfangsbereich der Palliativtherapie. Ab und zu werde ich abgelekt vom Einatmen der anderen, die auch warten unter Bibelzitaten und wie ich nicht wissen, was sie erwartet, falls sie vorgelassen werden. Ich versuchen besonders respektvoll zu lesen, ich fühle mich hier erhöhter Aufmerksamkeit verpflichtet. Der Autor selber hat mir das in seinem Tagebuch empfohlen. Frisch notierte darin unter anderem, sein vorletztes hätte es verdient, sein letztes Buch zu sein. Auch Peter Noll kommt ständig vor, er starb im Oktober 1982, diktierte aber bis zum Ende (muss dieses Buch heute nachkaufen, finde es nicht mehr), Frisch hielt seine Totenrede. Lesen ist das Beste in dieser Zeit, in der die Sonne immer seltener durch die Wolken bricht und das Mittagsmenü im Tea-Room nebenan schon um 12:15 seine Gültigkeit verloren hat: „Die Nummer eins wäre jetzt Schweins-, nicht Kalbsbraten. Und die Nummer zwei wäre Felchen“ sagte die Kellnerin müde und ohne jemanden bestimmtes anzuschauen.

Dreimal Ché

Che Guevara war Argentinier und sein Konterfei hat sich ja bekanntlich weitherum etabliert. (Ich frage mich allerdings schon Jahre, ob aus berechtigen oder ästhetischen Gründen – habe viele Varianten von Ches Tagebüchern verkauft, aber keine ohne ihn vorne drauf.) Jedenfalls ist uns der gute alte Che sowohl in der Ausstellung auf der Buchmesse als auch als Dekoration im Haus der Jugend, wo wir wohnten, begegnet.
Che, argentinischer Ehrengast Che, Stammgast im Haus der Jugend
In Argentinien ist „Ché“ zudem ein Ausruf, um jemandes Aufmerksamkeit zu erregen (steht bei Wikipedia, aber ich hab mich auch bei unserer argentinischen Schulhaus-Reinigungsfrau abgesichert). Offenbar ist Ernesto Guevara ausserhalb seiner Heimat zu seinem Übernamen gekommen und war damit überall als Argentinier zu orten, wenn auch der Akzent der Internationalität geopfert werden musste.
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Zwischen(Messe)stand

Wir sind gut aus Frankfurt zurückgekehrt. Nur hatte der ICE auf der Rückreise unsere 82 Platzreservationen zweimal verkauft. Die anderen 82 kamen vorwiegend aus Berlin und sassen schon. Das ging zurest nicht so gut, weil die Azubis an der Buchmesse ihr Gepäck vervielfachen – aber die Aufregung legte sich schon in Mannheim weitgehend und in Karlsruhe haben dann definitiv alle irgendwo geschlafen.
Jetzt sortiere ich Fotos und Verlagsunterlagen und mache Schulzeitschrift und Unterricht daraus. Ich arbeite mit Notstrom, der nur für meinen PC und dessen Umgebung reicht. Der Umbau unseres Schulhauses ist noch immer nicht beendet, aber ich hoffe, dass die Heizung bald wieder geht. Sonst müssten wir dann irgend ein Bewegungsgerät unter den Pulten installieren und die Energie selber machen. Denn hierzlande ist wahrlich Winter eingebrochen.
Der Bücherfragebogen ist eine so schöne Idee, ich könnte stundenlang lesen, was die Bloggerinnen hierzu schreiben, besonders, wenn sie es akribisch tun. Für eine traditionelle Buchhändlerin wie mich sind das alles tolle Kundengeschichten und eine sprudelnde Quelle für kommende Beratungsgespräche. Ich war noch nie beleidigt, dass Buchkonsumenten einander Bücher empfehlen oder einander davon abraten, das ist ja weissgott nicht erst seit dem Internet so. (Ein wenig komisch wirkt es auf mich, wenn die Software die Empfehlung übernimmt. Aber da alle Onlinebuchshops vermelden, es sei gewünscht und funktioniere.)
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25 Jahre Ehrenamtliches

Ich mag Ehrenamtliches, bei mir selber und bei anderen. Als Ehrenamtliche kann man sich ohne viel Vorlaufzeit in alles einmischen – ja, man wird geradezu darum gebeten und die anderen müssen auch noch dankbar sein dafür. In der Regel sind solche Gremien (Vereinsvorstände, Kommissionen) geprägt von Verbindungen, die weit über die Gremiumsgrenzen hinausgehen, aber wer nur networken will, bleibt meist nicht lange, dazu gibt’s zu viel zu tun. Ehrenämter fressen laue Sommerabende und gemütliche Winternächte, sie treiben meine Mobiltelefonrechnung in schwindelnde Höhen und zerren an Freundschaften mit Nicht-Ehrenämtlern.
Der Hauptgrund für meine Ehrenämter sind meine guten Erfahrungen damit. Seit 25 Jahren.
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Chwila

Als ich gestern in meiner Tageszeitung den Titel zum Jahrestag 9/11 Der Tag, als die Furcht zur Angst wurde las, ist mir mein Litetaraturlehrer aus der Buchhhändlerschule eingefallen. Dieser zitierte nämlich zu verschiedensten Gelegenheiten (von Prüfungsbammel bis Politikversagen) Kierkegaard mit den immer gleichen Worten „Angst geht tiefer als Furcht“. Ich weiss nicht, ob das Zitat so korrekt ist und ich möchte es auch nicht herausfinden. Kirkegaard kommt im lesenswerten Artikel dann auch nur am Rande vor. Aber das Zitat ist mir in den letzten zweiundzwanzig Jahren häufig im Zusammenhang mit der Schule, Freiwilligenarbeit, Erziehung des eigenen Kindes eingefallen.
So konsequent, wie Res Strehle das in seinem Artikel zu 9/11 tut, habe ich noch nie zu Ende gedacht. Ich habe Kierkegaard zwar stets so vestanden, dass Furcht ein Ergebnis der Vernunft ist, während Angst von Innen kommt und der Verdrängung, Entschuldigung (Rechtfertigung) oder Begründung bedarf. Da es sich dabei um unangenehm anstrengende Tätigkeiten handelt, ist verständlich, dass Angst oft aggressiv macht und der Ängstliche schnell nach dem Schuldigen sucht. Wie sehr das heute im Zusammenhang mit fehlender Aufklärung und Abgeklärtheit steht, war mir weniger bewusst. Dabei hätten die Schweiz, Deutschland und die USA je eine in dieser Hinsicht absolut taugliche Verfassung. Was ich ähnlich wie Strehle neun Jahre nach 9/11 als übermässig empfinde, sind Empörung und Verklärung. (Deshalb hoffe ich sehr, dass deutsche Buchhändlerinnen und Buchhändler nicht aufhören, Heisig zu empfehlen. Sarrazin läuft sowieso von selber.)
Dieser Tage las ich mehrmals das Gedicht von Wisława Szymborska „Fotografie vom 11. September“, in dem der letzte Satz ungeschrieben bleibt. Publiziert wurde es in Deutsch erstmals im Dezember 2001 in der ZEIT, aber es gehört zu der Gegenwartslyrik die eben keine direkt politische und deswegen zeitlos ist. Es ist in ihrem Gedichtband „Der Augenblick“ zu finden:
Umschlag Szymborska, Chwila
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Redseliges Wochenende

Ich hatte ein äusserst redseliges Wochenende. Freitagabend hatte ich noch Unterricht und viele sehr gescheite Fragen den neuen Lernenden zu beantworten. Sie fragten mich – ich vergass meinen Mund vermutlich offen – was die ISBN 978-88-… der Moleskine-Notizbücher ganz genau bedeute? (Nur nebenbei: Die Bedeutung der einzelnen Teile einer ISBN ist im Suchfensterzeitalter überhaupt nicht mehr relevant und wird in der Ausbildung entsprechend stiefmütterlich behandelt.) Wir guckten also in den Dinosaurier von Nachschlagewerk und stellten fest, dass Moleskine seinen Hauptsitz in Italien haben muss.
Samstags war ich mit meiner Nichte Schuhe kaufen – ein sehr lebhaftes aber erfolgreiches Unternehmen. Nachmittags dann hatten wir unseren jährlichen, freiwilligen Schulausflug, bei dem die Schulleitung, -verwaltung und Lehrerschaft etwas gemeinsam unternehmen. Wir waren im Lichtspiel und sahen mehrere Schul-Filme aus verschiedensten Stufen und Jahrzehnten. Genial und empfehlenswert dieses Kleinod von Kino.
Heute dann war ich auf Besuch und musste zweisprachig…, was mich über Gebühr anstrengte. Dafür habe ich einen der 100 weltbesten Surfer kennen gelernt, soeben geheiratet von der Tochter der Besuchten (die doch gerade erst noch sooo klein gewesen ist und eben erst snowboarden gelernt hat… Ja, ja, wie alt man ist, sieht man an den Kindern, ja, ja, that’s life et c’est la vie).
Danach Abschluss und Anfang der Woche in der Herbstsonne und gute Gründe, dankbar zu sein.
Lunch heute

Empor aus schweren Träumen*

Ich sehe den Untergang nahen, wenn der gute Mensch zum Schimpfwort wird und Vorurteile derart gemainstreamt sind, dass sie es nur noch als Konzentrat in die Charts schaffen. Dass die Zukunft des Buches eine Elektronische sein soll und die Papierproduzenten auf den Tissue-Bereich umrüsten (der Wachstumsmarkt in dieser Sparte: Ultra Soft, With Lotion, Anti-Viral) stimmt auch nicht zuversichtlich.
Aber Lesen hilft. Ich lese seit ich denken kann mindestens eine Stunde pro Tag in einem Buch. In diesen Wochen jedoch lese ich viel mehr Bücher und weniger Zeitung und Internet. Im Moment parallel Jonathan Franzen, Anleitung zum Alleinsein (How to Be Alone) und Ferdinand von Schirach, Schuld und dazwischen in meiner Lieblingsballadensammlung. So hebt denn – langsam – der eine Untergang den anderen auf.
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