Ermahung am Wegesrand

Ermahnung zwischen Blausee und Kander
Das ist das Schöne an Wanderwegen: Die Aufrufe für den Wanderer, die ihn – falls er’s bis zur Stelle noch nicht getan hat – zur inneren Einkehr ermahen. Vielleicht ist das berndeutsche Wort „I-chere“ eine Antwort darauf. Es bedeutet eine kleine Pause vom Reisen, nämlich den Besuch in der Gastwirtschaft.
Diese Tafel steht an einem Weg, der genau zwischen dem Blausee und der Kander verläuft.

Mangel an Reflexionsfähigkeit

In den letzten vierzehn Tagen hatte ich so viel Dringendes, dass ich nur noch Post auf Schulbuch auf Klassenlisten auf Fachzeitschriften auf Verordnungen auf Stundenplanentwürfe auf Literaturzeitschriften auf Prüfungsserien auf Notentabellen auf Leseexemplare auf Notizzettelberge gelegt habe, bis ich Ende letzte Woche die Übersicht im Büro gänzlich verloren hatte, was selten vorkommt.
Heute Morgen früh ist der Mann mit mir in die Schule gefahren und hat mir beim Aufräumen und bei der Abstufung der Dringlichkeiten geholfen. Am Nachmittag war ich mit Nichten und Neffen bei Regen im Freibad.
Abends habe ich mit dem Kind eine Hausarbeit über Gartenerbsen (von der Verpackungsbeschreibung bis zur Zubereitung) beendet. Eine konfliktreiche Angelegenheit, weil ich einfach nicht einsehen konnte, weshalb man Dinge vierzehn Tage nur herumstapelt und am Ende sonntags langwierige Unterstützung braucht, um am Montag die Woche überhaupt einigermassen geordnet anfangen zu können.

Schreibtischzustand

Die Raben sollen die Tauben vertreiben
Leben bringt Durcheinander. Das meiste hier brauche ich gar nicht und schon gar nicht auf meinem Schreibtisch. Links ist die Ecke einer Vorschau des bernischen Schulverlages zu sehen. Es hat da drin ein keckes Editorial über Fehler, welches ich schon lange verbloggen wollte. Oben dran liegt die Bundesratsgrusskarte des laufenden Jahres, nur ist eben nicht die Landesregierung, sondern der Kidswest-Bundesrat abgebildet. Die möchte ich versenden. Meine schwarzen Notizbücher habe ich gern in der Nähe und das Post-it mit der Erinnerung, den Monteur anzurufen, muss ich mir vor Augen halten. Die Rüebli ess ich, das Wasser trink ich. Das Mitteilungsblatt der Partei habe ich schon gelesen, es liegt mehr als Reminder (Versammlung? Adressverwaltung?) da. Den iPod und meine lezten Tickets im Abo für das Kindertheater würde ich besser anderswo lagern. Und ja – das Datum auf meinem französischen Kippkalender stimmt nie, der klemmt.

Werkstau

In drei Bereichen komme ich nicht vorwärts:
Mündliche Prüfungsfragen: Es sind einige Seiten von der gegenlesenden Expertin zurück gekommen, die ich noch einmal überarbeiten muss. Sollte vor Auffahrt passieren, schaff ich aber wohl nicht. Vielleicht habe ich ein inneres, jährliches Prüfungsfragenkontingent, welches nun einfach ausgeschöpft ist.
Adressänderungen: Ich kriege einen Haufen davon: privat, aus der Branche, auf Vereinen und Verbänden, in die ich irgendwie involviert bin, aus Arbeitsgruppen oder Politik betreffend. Und wenn ich das nicht umgehend erledige, kann ich mich nicht mehr aufrappeln (weil’s irgendwann zu viele sind).
Fundraising, administrativen Begleiterscheinungen: Fundraising und Sponsorengewinnung ist nichts, was mir Mühe bereitet, im Gegenteil. Gerade im Buchhandel, wo mir die Leute vertrauen, ist das eigentlich eine schöne Arbeit. Doch die dazugehörige Administration ist manchmal schwierig in Angriff zu nehmen: Adresslisten, Bettelbriefe, Dankesbriefe, Dankestelefonate, Einzahlungsscheine, Belege für die Spenden… Das ist der Bereich, in dem ich mich am meisten dafür bemitleide, ausgerechnet in die Generation ohne Sekretärin zu gehören (denn ich bin ziemlich sicher, dass die nächste wieder nach einer solchen verlangen wird).
Aber ich will nicht lange klagen, denn es gibt vital Erfreuliches: Die Testprüfungen der Abschlussklassen sind gut verlaufen, was ein Hinweis auf einen pannenfreien und für alle eträglichen Prüfungsablauf (im Juni) sein sollte. Und die Anmeldungen für die neuen Klassen (ab August) liegen im grünen Bereich, was heisst, dass ich die Lehrpersonen, denen ich eine Anstellung fürs nächste Schuljahr in Aussicht gestellt habe, auch wirklich beschäftigen kann.

Muttertägliche Denk- und Lesesplitter

Eigentlich begehen wir den Muttertag nicht. Aber da fast alle ihre Mutter beschenken, machen der Mann und ich das auch, weil unsere Mütter es schliesslich mehr als verdient haben.
Das Muttertagswochenende war gut gefüllt mit Freundes- und Kindertreffen, der Maientag liegt ja meist auch wettertechnisch ideal. So kommt es, dass ich nun zwischen der Wäsche und den Test-Prüfungen für morgen viele schöne Kinderbilder von der Kamera lade. Und heute Abend kann ich ausnahmsweise verstehen, dass Eltern das Netz mit Millionen Abbildungen und Filmen ihrer Sprösslinge speisen.
Doch meine unmütterliche Seite veranlasst mich seit jeher, auf jedem Spielplatz, in jedem Sandkasten und sogar, wenn andere rasch auf die Toilette gehen, zu lesen. So habe ich auch am Muttertag einige Buchseiten, viele Zeitungsseiten und zwei Verlagsvorschauen (=Verlagsprospekte mit Titeln, die noch nicht erschienen sind) gelesen.
Aus Annie Proulx Essay „Getting Movied“ habe ich erfahren, bei welcher Szene aus „Brokeback Mountain“ sich die Autorin und der Regisseur Ang Lee nicht einigen konnten. Ich weiss, dass die US-Behörden den Air-France-Flug 438, in dem der Journalist Hernando Calvo Ospina sass, zum Umweg nötigten, weil sie ihn auf irgend einer Liste als möglichen Terroristen eingestuft hatten. Und beruhigt hat mich, dass trotz aller Grabenkämpfe ein differenziertes Urteil über Wikipedia möglich scheint, nachdem ich in der Monde diplomatique die Übersetzung von Mathieu O’Neils Artikel „Die Weisheit der vielen“ gelesen habe. Dass der „Italienerkrawall“ kein solcher war, sondern eher die temporäre Vertreibung der Italiener aus Zürich bezeichnet, habe ich aus den 13 wahren Geschichten von Alex Capus gelernt. Und der wiederum weiss es von Heinz Rathgeb (1977), Heinz Loser (1983), Barnaby Skinner (2000), sowie aus den Pressearchiven der NZZ und des Tagesanzeigers (1896). Es ist nämlich so, dass auch Quellenangaben lesenswert sind.

Tezjas Halsketten

– Wem gehört die Kiste?
– Was ist drin?
– Darf ich?
– Wow!
– Darf ich nochmal?
– Wem gehört die Kette?
– Was ist da dran?
– So schön!
Wer beharrlich fragt, kriegt von der Tante (alb. Tezja) jede noch so hoch gestellte Truhe gereicht. Und so habe ich meiner Nichte die Geschichten von elf Halsketten erzählt.
Am besten gefallen hat ihr die Kette mit den Kastanien, die, mit Schnipseln farbiger Strohalme versetzt, wirklich zu bewundern ist. Mein sonst bastelunfreudiges Kind hat sie mir im Kindergarten gemacht und sie sogar einmal repariert.
Auch von der Kette mit den Zwergen-, Gnomen- und Trollköpfen, zwischen die eine künstlerisch begnadete Freundin an Weihnachten 1999 Kettenglieder aus Schokopapierchen gezogen hatte, war sie begeistert.
Für den 108-perligen Rosenkranz, den ich von einem tibetischen Mönch für meine Weiterreise von Dharmsala zurück in die Schweiz erhalten habe, war das Interesse gering, obwohl die Story in meinen Augen am meisten hermachte.
Die Muschelkette und ihre Geschichte gefielen ihr am allerbesten. Ihre Mutter hatte sie vor Jahren gerade vor Ort in Südfrankreich für mich aufgezogen.
Halskettenpräsentation im Frühling 2009

Ein guter Anfang

Nach langen Ferien wieder in den Alltag einzusteigen, ist für die meisten Menschen gewöhnungsbedürftig. Für mich ist jeweils das Erstaunlichste, auf eigene Zitate zu stossen, die mir nicht Wochen, sondern Lichtjahre entfernt scheinen:
S. 13 aus dem m vom April 09 der comedia
Aber ich habe gut angefangen, nach fünf Tagen hatte ich meine Post ab- und mich wieder eingearbeitet. Es hat sich gelohnt, vor den Ferien nichts pendent zu lassen, auch wenn viele Stirnfalten, abgekaute Nägel und manch graues Haar der Preis dafür waren.
Übrigens habe ich mir schon länger vorgenommen, ab Vierzig sonntags frei zu machen (wobei hier Familienzeit, Gäste und das bisschen Haushalt realistischerweise inbegriffen sind). Ganz einfach wird’s wohl nicht. Und ob andere oder ich selber mein grösstes Hindernis sein werden, bleibt abzuwarten. Ich habe heute einmal die Arbeit notiert:
1. Vereinsarbeit: Texte, Layout PDFs, Website
2. Vorbereitung eines Anlasses vom Dienstag
3. Vorbereitung Prüfungssimulation von morgen
Erkenntnis: Punkt 3 hätte ich mit mehr Disziplin zwischen Montag und Samstag machen können. Punkt 2 kaum, Punkt 1 auf keinen Fall. Klar wird demnach: Sonntags frei = mind. Rücktritt aus Vereinsvorstand. An sich kein Problem. Aber damit leben zu können, „meinen“ Bereich im Vorstand dem Untergang zu weihen, weil ich – sehr wahrscheinlich – keine Nachfolge finde, ist die grössere Herausforderung. Deshalb ist es wohl nicht übertrieben, ein halbes Jahr vorher mit Üben anzufangen.

Back in context

Am Morgen nach meiner Rückkehr erzählte mir die Coiffeuse, sie sei noch nie geflogen. „Die Preise sind tief und schön wär’s wohl auch, aber ergeben hat es sich nicht“, meinte die junge Bauerntochter schulterzuckend, während sie meinen Haarboden knetete. Aber in Spanien sei sie mal gewesen mit den Eltern, mit dem Car, ein schöner Ferienort mit so herzlichen Menschen, von deren Lebensferude unsereins viel abgucken könne.
Mir fiel die ältere Lady im Frontier Motel an der Route 66 in Arizona ein, bei der schon Abertausende eingekehrt sind, nicht zuletzt ihres Cheese Cakes wegen. Sie hatte gehört, dass wir von Texas her kamen und fragte uns nasenrümpfend, ob es wahr sei, das es dort überall nach Rindviechern stinke? Die Tochter sei neulich – gezwungenermassen – da durchgefahren und hätte es am Telefon erzählt. Sie selber sei aber nie in Texas gewesen und ihr fehle nichts deswegen.
Das ist mir als Reisende wieder bewusst geworden: Unabhängig davon, ob der Mensch fährt oder bleibt, er globalisiert ungern. Sowohl als Eingeborener wie als Tourist zeigt er sich hauptsächlich interessiert am Regionalen und ist bestrebt, seinesgleichen zu beobachten, abzulehnen oder nachzuahmen.

Auf Wiedersehen im Mai

So, der neue Pegasus ist da. Ich konnte darin meine alte Idee „persönlicher Bücherstapel“ verwirklichen, Fortsetzung folgt. Auch die Abschlussprüfungen und ihre Lösungen sind geschrieben, visiert und abgegeben. Nach intensiven Monaten schliesse ich mein Büro erleichtert.
Ich freue mich sehr auf unsere zweite Reise durch die USA, aber auch darauf, offline zu sein und Bücher zu lesen. Ausser bei den Reisebegleitern konnten wir uns nicht auf eine Richtung einigen und das Kind nimmt vieles mit, was wir Eltern schon gelesen haben. Ich finde es eine besondere Ehre, wenn ein Teenager sich ohne Not und sehr entschieden aus der hauseigenen Bibliothek bedient (auch wenn es transporttechnisch nicht so effizient ist).
Nachfolgend ungeordnet, unverlinkt und nur mit unbuchhändlerisch rudimentären Verlagsangaben der Stapel, den wir jetzt auf unsere Koffer verteilen:

  • Wilder Westen / Gerstenberg
  • Bo Balderson, Mord in Harpsund / Piper
  • Der Vietnamkrieg / Fischer kompakt
  • Robert Gellately, Lenin, Stalin und Hitler / Lübbe
  • Ralf Rothmann, Feuer brennt nicht / Suhrkamp
  • Darja Donzowa, Bis dass dein Tod uns scheidet / Aufbau
  • Junot Díaz, The Brief Woderous Live Of Oscar Wao / faber & faber
  • Oriana Fallaci, Nichts und Amen / KiWi
  • Primo Levi, Ist das ein Mensch? / dtv
  • Georg Orwell, Farm der Tiere / Diogenes
  • Willy Vlautin, Northline / Berlin Verlag
  • Annie Proulx, That Old Ace In The Hole / Fourth Estate
  • Philip Roth, Indignation / Jonathan Cape
  • Tony Hillerman, Der Skelett-Mann / rororo
  • Johan Theorin, Öland / Piper
  • Bruno Morchio, Kalter Wind in Genua / Unions TB
  • Ich danke allen Leserinnen und Lesern, dass sie hier sind und wünsche einen schönen, sorglosen April.

    Aus dem Reisenotizbuch [17]

    19. April 2007 16:45
    Take off. Wir überqueren Sacramento und die grünen Hügel. Wir haben zum letzten Mal zwischen den dampfenden Schweineköpfen in China Town Mittag gegessen und der „California Zephyr“ liegt weit hinter uns. Hier in Fluggeschwindigkeit trauere ich sogar seinem Schneckentempo nach.
    19. April 2007 18:40
    Wir überfliegen Saskatoon und ich suche das Mädchen auf dem iPod, über dessen Herkunft ich mir bis zu diesem Moment nie Gedanken gemacht hatte.
    19. April 2007 20:00
    Turbulenzen beim Eintritt der Zone Hudson Bay.

  • Ground Speed: 608 mph
  • Time to Destination: 5:49
  • Estimated Arrival Time: 10:52
  • Temperature Exterieur: -57 °C
  • Distance Restante: 3333 miles
  • Altitude: 33’000 feet
  • Distance since Departure: 2291 miles
  • 19. April 2007 22:45
    Turbulenzen halten an. Ich kann nicht schlafen und vergleiche verschiedene Versionen gleicher Songs. Ich höre:

  • 4x I Am A Man Of Constant Sorrow
  • 3x I’m So Lonesome I Could Cry
  • 3x Naima
  • 2x Half As Much
  • 2x Innocent When You Dream
  • 2x Johnny 99
  • 2x Lost On The River
  • 2x Nebraska
  • Irgendwann stelle ich die kalifornische Zeit auf meiner Uhr auf Genf um, wo wir am 20. April 2007 landen.
    Arrival in Geneva 2007