Ab- und Zustände

Danke der Nachfrage, wir leben noch, auch als EM-Stadt, exgüsé, „Euro 08 City“. Bernerinnen und Berner regen sich nicht so schnell auf, sie neigen eher zur Neutralisierung durch Trockenheit („Dä Cech het öppis Verbotnigs im Heum“), Langsamkeit („wenn spile-mer scho wider?“) und Leidensfähigkeit (YB). Dass ausnahmsweise nicht Bern allein, sondern die ganze Schweiz belächelt wird, ist mir in diesen Tagen recht angenehm. Dass sich SPON über die „örtliche Grammatik“ lustig macht (ja, es heisst hier „der Match“ genau wie „der Dyane“) und über unseren weichspülerischen Umgang mit dem Nationaltrainer witzelt, dass der österreichische Kommentator unsere bergige Eröffnungsfeier im Gegensatz zum eigenen Wiener Walzer phantasielos findet – das passt ganz gut.
Genau wie die Geschichte, die mir meine Coiffeuse (im Bahnhof) heute erzählt hat: Gestern am Nachmittag seien zwei Holländerinnen ins Geschäft marschiert, hätten sich verschiedene Tönungen zeigen lassen und auch noch gefragt, wo das „Public Viewing“ stattfinde? Sie und ihre Kollegin hätten in Hochdeutsch und einfachem Englisch Auskunft gegeben und die Holländerinnen, die nicht bleiben wollten, wieder freundlich verabschiedet. Wenig später sei ein Marketingmensch von Berner Bahnhof und UEFA gekommen und hätte sie informiert, ihre Testergebnisse seien gut, die Umsetzung der Anweisungen aus dem Kurs – den alle Verkäuferinnen und Verkäufer des Berner Bahnhofs absolvieren mussten – im Holländerinnen-Test gelungen. Einzig das „Welcome to Berne!“ zur Begrüssung habe gefehlt. Er erinnere mit Nachdruck daran, dass sämtliche Kunden während der EM so zu grüssen seien.
Wir haben sehr gelacht.
In der heutigen NZZ am Sonntag ist ein schöner Artikel über die Schweiz, die sich – anstatt herauszuragen – exzessiv mit der Perfektionierung des Normalen befasse. Sacha Batthyany bringt darin einige meiner Lieblingsthemen zusammen: Schweizer Stolz auf Understatement, die schweizerische Berufsbildung und ein gutes Buch. Das von Sennett, welches ich bereits an anderer Stelle ans Herz gelegt habe. (Dazu Klammer auf: „Handwerk“ von Sennett ist schlecht zu destillieren. Da es schon vielerorts empfohlen worden ist, ergänze ich nur ein Kaufargument: Hier wird Kitsch entlarvt. Zum Beispiel, Technik sei seelenlos und die Routine der Inspiration unterlegen – der wahre Handwerker suche deshalb Technik und Routine zu vermeiden. Sennett zeigt ein ganz anderes Bild.)
Eigentlich ist der erwähnte Artikel einer über Sanitärinstallateure. Wir brauchen in der Schweiz viele und gute. Für 42’000 km Ableitungskanäle, die Gebäude mit der Kanalisation verbinden, für 47’000 km Abwasserkanäle, die das Abwasser in 759 zentrale Kläranlagen und 3400 Kleinkläranlagen leiten, für ein Kanalisationssystem das doppelt so lang ist wie der Erdumfang, für Abwasserreinigungssysteme in einem Wert von 100 Milliarden Franken – kurz: für die beste Wasser-Infrastruktur der Welt. (Das steht nicht im Artikel, sondern in der Broschüre zum „Interantional Year of Sanitation 2008“). Auch jeden Wasserhahn des Landes mit Trinkwasser zu bedienen und diese Hähne weiter zu entwickeln braucht meisterhafte Sanitärfachleute.
Mein Zitat des Tages:

Was die Schweiz im Fussball nie sein wird, ist sie alle zwei Jahre an den Berufsweltmeisterschaften: der gefürchtete Favorit in allen Sparten. Handwerker der ganzen Welt messen sich in Zeit und Geschicklichkeit, Spengler treten gegeneinander an, Elektriker, Plättlileger, Floristen, Köche.

In diesem Sinne wünsche ich allen weiterhin eine schöne EM.
Und denen, die jetzt ihre Lehre abschliessen, erfolgreiche Prüfungen.

Erinnerungen an Dyane (5)

Auf der nächsten und letzten Seite mit einem Foto unseres Dyane, klebt ein ein persischer Bussenzettel neben einer Postkarte aus Takestan. Daneben hat meine Mutter notiert:

1000 Rials Busse wegen vorschriftswidrigem Überholmanöver in Persien (Täbris)! Persien ist ein Land mit mörderischem Verkehr. Noch und noch Autowracks den Strassen entlang. Und zerschmetterte Autos auf Podesten – zur Abschreckung. Wir fahren an Toten vorbei. Die Lastwagen in Flammen, von den PW nur noch Blechreste. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge bezahlen wir. In Persien kommt nicht jeder mit dem Leben davon, wenn er überholt.

Damit ist meine Hommage an ein treues Zuhause auf Rädern zu Ende. Wir konnten den Dyane nicht mehr auf dem Schrottplatz eintauschen, er war verbraucht. Wir mussten damit auf einen gewöhnlichen Autofriedhof. Als der Kran ihn hochhob, ging ich weg.

R.I.P

Erinnerungen an Dyane (4)
Erinnerungen an Dyane (3)
Erinnerungen an Dyane (2)
Erinnerungen an Dyane

Erinnerungen an Dyane (4)

Diese Doppelseite (im erwähnten Fotoheft) mit Bildern aus der Wüste Balutschistans zeigt Menschen. Meine Mutter hat notiert, wie sie uns geholfen haben. Sie schreibt, wer uns Wasser aus seinem Brunnen hat zeihen lassen und wo uns Datteln geschenkt wurden. Wir hatten ein kleines rotes Kreuz auf dem Dyane und eine gute Apotheke darin. Die Beduinen hielten uns deswegen oft an und baten um Medikamente oder sie hatten schon von uns gehört und ritten uns Tage lang entgegen – manchmal mit einem kranken oder verletzten Kind.

Dyane und Tanja in Balutschistan

Kleine Tanja in der weiten Wüste. Hier wissen wir noch nicht, dass wir bald in einen Standsturm geraten werden. Die Sonne wird im aufgewibelten Sand zur blassen Scheibe, sie verdüstert sich, man sieht kaum die Hand vor den Augen. Am Pistenrand steht ein Lastwagen, seine Passagiere knien in Tücher gehüllt in einer Reihe im Sand gegen Mekka geneigt. Allah ist gross! Wir werden das Wüstendorf Nok Kundi erreichen. Inshalla!

Seltenes Vergnügen

Obwohl ich in diesen Zeiten (der Abschlussprüfungen) viel Arbeit habe, verbringe ich einen sehr entspannten Nachmittag.
Vom Volk ein „Ja“ zu holen ist immer schwierig und gehört nicht unbedingt ins Repertoire der Siegesgewissen:

Teletext Sonntag, 1. Juni um 15:28

Für mich ist es ein seltenes Vergnügen, bereits mittags zu wissen, dass die SVP die eidgenössische Abstimmung verliert.

Erinnerungen an Dyane (3)

Wir kamen gut über den Khyber Pass und in Kabul an. Obwohl die wilde, multikulturelle Stadt im Vergleich zu unserer Hinreise (nach Indien) völlig erstarrt war, fanden wir noch eine Garage, die unseren Dyane für den langen Weg durch die Wüste bereit machte. Wir hatten geplant, von Kabul nach Herat zu fahren, aber die Russen marschierten genau in dieser Ecke von Norden her ein und die Grenze zu Persien/Iran war dicht. Uns blieb nur der Weg zurück nach Pakistan, über die Berge und durch die Wüste Balutschistans Richtung Westen.
Im Fotoalbum hat meine Mutter eine Karte gezeichnet und die Quittungen der Strassenzölle eingeklebt. Es gibt einige verschwommene Bilder von Ziegenhirten, die Lämmer tragen, von schwer bepackten Kamelen der Nomaden und auch eines vom Dyane.

Dyane in Balutschistan

Zweimal die Woche fährt ein Zug von Quetta nach Zaïdan. Manchmal bleibt er im Sandsturm stecken. Es brennt auch hie und da ein Wagen aus, weil sich die Passagiere ein Feuer gegen die Kälte anzünden. Die Nomaden suchen neue Weideplätze. Im Herbst findet man sie in Afghanistan und im Frühling ziehen sie hier durch Balutschistan. Die Herden sind um vielerlei Jungtiere gewachsen. Die Menschen sind scheu. Sie sind es nicht gewöhnt, auf dieser sonst von Touristen gemiedenen Strecke Fremde anzutreffen.

Erinnerungen an Dyane (2)

Ich habe nicht viele Fotos vom Dyane, der uns Ende Siebzigerjahre nach Indien und zurück gebracht hat. Doch gerade aus der schwierigsten Zeit der Reise gibt es ein paar: aus Pakistan (und Balutschistan), Afghanistan und Iran.
Meine Mutter schrieb 1980, als sie das schmale Fotoalbum machte, zu jeder Etappe eine kleine Einführung. Hier waren wir auf der Rückreise:

Im März 1979 kehrten wir nach Kabul zurück. Die Russen waren nicht mehr zu übersehen. Alles Amerikanische war verschwunden. Ausgangssperren ab 19:30 Uhr, Handel und Wandel unterbunden. Die Menschen machten einen niedergeschlagenen Eindruck. Überall Militär. Alle öffentlichen Gebäude mit überlebensgrossen Taraki-Bildern verunziert. Gehen auf den Trottoir verboten – Bombengefahr. In unserem Hotel trafen sich die Partisanen, hörten BBC. Über Afghanistan wurde kaum etwas gemeldet. Der Westen schlief noch. Niemand durfte die Stadt verlassen. Der Schweizer Konsul war heimlich abgehauen, die amerikanische Botschaft leerte die Tiefkühltruhen. Der Hund eines holländischen Transportunternehmers frass die Poulets. Unsere afghangischen Freunde lebten von Bohnen und Kartoffeln in wässriger Sauce. Die Steuern fürs verstaatlichte Hotel waren hoch geworden, die Touristen blieben fern. Ich schnitt Sami Alis zwei junge Bäumchen und schon zwei Tage später trieben die Knospen. Was ist aus den Bäumchen und unseren Freunden in Kabul geworden?

Danach folgen die Bilder von Pakistan, der Khyber-Schlucht, der Tschaikana (Teehaus) am Pass, darunter auch dieses Bild vom Dyane:

Dyane vor Kyber

Wir werfen einen letzten Blick auf das unter uns liegende Flussland Pakistan. Den Engländern ist es nicht gelungen, den Kyber-Pass zu nehmen und in Afghanistan einzufallen.

Erinnerungen an Dyane

Der Deux-Chevaux ist 60. Als ich ein Kind war, hatten wir glaub‘ ich einige davon, man weiss das ja irgenwann nicht mehr so genau.
Sicher ist, dass unser Bedarf an Autos gross war, denn wir erwarben sie auf dem Schrottplatz. Der lag nicht etwa am Stadtrand, sondern irgendwo hinter den sieben Bergen inmitten einer saftigen, grünen Wiese. Zum Autokauf ging ich immer mit. Wenn das alte Auto noch fuhr, fuhren wir auch, wenn nicht, liessen wir uns von einem anderen hinschleppen.
Dieser Autofriedhof wurde vom wortkargsten Menschen meines Lebens liebevoll betreut. Er widmete sich den halb und ganz toten Deux-Chevaux, R4 und Käfern hingebungsvoll. Wenn wir kamen, machte er höchstens eine kleine Bewegung mit dem Kopf und mein Vater wusste, wo er das alte Auto hinstellen und wo er das neue Auto suchen musste.
Hatten wir uns dann entschieden, welches Exemplar wir wiederbeleben wollten, drückte mein Vater dem Wortlosen ein kleines Röllchen Hunderternoten – vielleicht drei, vier – in die Hand, worauf dieser einen kleinen Segen murmelte. Dann füllten wir den neuen Tank aus einem mitgebrachten Benzinkanister, der Wortlose und ich schoben an und auch mein Vater – am Steuer sitzend mit einem Fuss. Wenn der Motor ansprang, drehten wir eine Runde, wenn nicht, werkelten die beiden weiter, während ich in anderen, möglichst grösseren Autos spielte. (Ich glaube, einmal hatte es sogar einen R10 dort, den ich mir als meine Villa vorstellte. Einige mögen denken, das Leben von Hippiekindern sei besonders interessant gewesen und das mag im Rückblick stimmen. Aber damals kam es mir – und nicht nur mir – einfach so vor, als würde die Kindheit aus Warten bestehen. Ich hatte genügend Platz, Freiheit und Phantasie, die Zeit zu überbrücken, aber es blieb eben Warten. Und das ist ein Unterschied zur heutigen Kindheit, in der das Warten eine völlig untergeordnete Rolle spielt.)
Für unsere lange Reise nach Indien suchten wir ein etwas besseres, teureres Auto aus. Das war ein Dyane (in Berndeutsch unerklärlicherweise männlich), eine hellgelbe „Kastenente“. Die Dyane erfreut mit ihren 41 Jahren diesen Frühling immer noch viele Nostalgiker und macht auch mich ein wenig sentimental.
Aber davon ein anderes Mal.

Kopfwehpause…

… unbekannten Umfangs.
Spätestens nach einer Viertelstunde am PC beginnt’s zu hämmern. Seit Tagen schon.
Ja, da hatte Arthur Schopenhauer recht:

Wir fühlen den Schmerz, aber nicht die Schmerzlosigkeit; wir fühlen die Sorge, aber nicht die Sorglosigkeit; die Furcht, aber nicht die Sicherheit.

Nur, damit ich es nicht vergesse

Tippen von mündlichen Prüfungsfragen in Sortimentskunde 1995

Hier ein visueller Hinweis an mich selber, wie ich vor 13 Jahren – wenige Wochen nach der Geburt vom Kind – mündliche Prüfungsfragen getippt habe. Das Fach, welches ich mit meinem Chef mündlich zu prüfen hatte, hiess „Sortimentskunde“ und war voller Fragen, die wir heute nicht mehr für möglich halten würden: Nennen Sie drei Kunstverlage. Welche Standardwerke empfehlen Sie einem Kunststudenten zu Semesteranfang? Welche Verlage sind auf Philosophie spezialisiert? Nennen sie zwei philosophische Reihen für Laien. Unterscheiden Sie Sach-, Fach- und wissenschaftliche Bücher am Beispiel der Haustiere etc. etc.
Heute ist mein Fach die „Betriebs- und Verkaufskunde“ (aber auch das nur noch bis zur nächsten Reform in einem Jahr) und weil ich jetzt in dieser Sache der Chef bin, frage ich nur noch offene, individuelle Fragen, welche ich mit wesentlich weniger Muskelkraft auf einer ergnomischen Tastatur eintippe. Das Kind schlottert mit anderen ManU-Fans dieser Welt dem Elfmeterschiessen entgegen obwohl es eigentlich schon viel zu spät und morgen Schule ist.

Vom Dünkel zurück zum Bewusstsein

Vom Redaktionschluss unserer Schulzeitung „Pegasus“ bis zum Versand leide ich immer etwas unter Schreibstau. Die neue Nummer hat das Thema „Standesdünkel und Standesbewusstsein“, weil sich sowohl Lehrerinnen wie auch Buchhändler regelmässig mit dem Überheblichkeitsvorwurf konfrontiert sehen. Auch die Einstellung der Buchausgabe des Brockhaus, die Überlegungen der diesjährigen Lehrabgängerinnen zu ihrem Beruf und die konsternierte Mailnachricht einer Ehemaligen aus den USA, es kenne dort niemand Schiller und Goethe, schienen mir ein guter Anlass für Beiträge zum Thema. Die Onlineversion von „Pegasus“ Nr. 89 erscheint am Montag, ich werde den Link nachreichen. (Nachtrag 19. Mai: Voilà, Pegasus 89 online.)
Aus dem Editorial:

Hin und wieder werde ich auf den Standesdünkel der Buchhändlerinnen angesprochen. Und auf den der Lehrer. Und ich will gar nicht opponieren, das Körnchen Wahrheit ist leicht auszumachen. Auch bei mir.
Standesdünkel kann nur entstehen, wo Standesbewusstsein war. Standesbewusstsein bedeutet Identifikation mit einer Branche, ihren Produkten und Dienstleistungen.
Doch in Berufen, in denen es an Anerkennung mangelt, ist es schwierig, bescheiden zu bleiben; Selbstlob liegt nahe. Ich will damit nicht den Dünkel entschuldigen, sondern zu mehr Wertschätzung für die Leistung anregen, die Menschen im Buchhandel und in der Bildung erbringen.

Ich weiss, die Argumentation beinhaltet zu viele „Wenn“: Wenn der Lehrerberuf wieder angesehener wäre, wenn die Buchhändlerinnen besser bezahlt würden, wenn beide Berufssparten endlich regelmässige Mitarbeitergespräche einführen würden, wenn für gute Produkte in Bildung und Buchwelt auch Geld ausgegeben und nicht immer nur gespart würde etc. etc.
Trotzdem. Ein bisschen mehr Lob kost‘ ja nix. Und ein Anlass lässt sich bestimmt ab und zu finden.