Lesegedanken

Obwohl ich viele Jahre für die DEZA gearbeitet habe, habe ich mich an Katastrophen überhaupt nicht gewöhnt. Ich bin überfordert und ertrage Mitmenschen mit Kopiererproblemen in Trauer über einen verlorenen Meistertitel schlecht.
Sicher gibt es viele Argumente dagegen, den eigenen Alltag von burmesischen oder chinesischen Desastern beeinflussen zu lassen. Intellektuelle Argumente sind häufig:

  • Der heutige Betroffenheitskult (meistens aufgrund von Bildern, die nicht selten lügen)
  • Der heutige Empörungskult (weil diese Saaten wahlweise zu unterentwickelt und arm oder zu machthungrig und korrupt sind)
  • Irgendwo auf der Welt ist immer eine Katastrophe, auch wenn niemand darüber berichtet (worüber sich die echten Engagierten jeden Moment im Klaren sind)
  • Nun, ich erlaube der Katastrophe trotzdem, mich zu beschäftigen. Ich lese Newsletter genauer, chinesische Erzählungen wieder, ich fahnde in meiner Bibliothek nach asiatischen Gedichten und finde aussergewöhnliche Geschichten. Ich überlege, ob in den von aller Hilfe abgeschnittenen Ortschaften wenigstens ein Where There Is No Doctor ist? (Übrigens einer der unbekannten Bestseller auf dem internationalen Buchmarkt, in zahlreiche Sprachen übersetzt.) Und morgen besorg ich mir ein Buch, welches schon länger auf meiner Sachbuchleseliste steht.
    Ich weiss, dass Lesen allein nichts nützt. Aber Wissen taugt nicht nur zur Macht, sondern ebenso zum Mitgefühl. Lesen kann eigene Probleme relativieren und zum Handeln motivieren ohne andere mit Betroffenheits- und Empörungskult zu belästigen. Aber auch dazu ist schon aus berufenem Munde geschrieben worden.

    Zwischen Arbeits- und Feiertag

    Die Pfingsttage scheinen nicht länger Feiertage, sondern einfach ruhigere Arbeitstage zu sein. Jedenfalls in meiner Region. Die Lehrerinnen und Leher schicken gleich viel Fragen wie an einem normalen Bürotag und auch die Lehrlinge sind an der Prüfungsvorbereitung und erkundigen sich laufend nach diesem und jenem. Gestern (während des Nachtessens) hat mich der Operateur der Aula angerufen, die ich für die Abschlussfeier im kommenden Juli gemietet habe, um mich zu fragen, ob ich den Beamer und den Projektor gleichzeitig oder hintereinander brauche? Mit der Agentur, die den Geschäftsbericht unserer Schule schreibt, habe ich abends problemlos in Sprechzeit hin- und hergemailt. Heute ist der Mann im Büro, das Kind mit Freunden unterwegs und ich trage meine ehrenamtilichen Pendenzen seit Weihnachten ab. Aber nur halbtags. Den Rest gehe ich an die Sonne.
    Nun, Geistlichkeit und Einkehr scheinen christliche Feiertage nicht mehr zu liefern. (Für derlei Skills ist inzwischen der Dalai Lama zuständig.) Mich stört das hauptsächlich wegen des Zugzwangs, in welchen ich komme, weil ich die Anhäufung von Arbeit fürchte, was wiederum allein mein Problem ist.
    An Sonntagen habe ich das Problem übrigens auch. Ich selber und viele andere schieben die Pendenzen, für welche sie ungestört sein müssen, auf den 7. Tag und generieren damit wieder Pendezen für Dritte, die dann die Woche nicht mit der bestehenden To-Do-Liste beginnen können, sondern diese als erstes um neue Punkte ergänzen müssen.
    Aber ich bin sicher, dass sich das wieder einmal ändern wird, weil irgendwer damit anfängt. Wie beim Lunch. Bis vor einem Jahr hatte ich oft Arbeitslunchs mit Entscheidungen und wieder neuen Pendenzen. Heute mache ich Lunch nur noch für Arbeitsbekanntschaft und Freundschaft. Ich dachte, das funktioniere nie im Leben und habe sicher einige Leute vor den Kopf gestossen. Doch meine ehrlich gemeinte Entschuldigung, dass ich während des Essens furchtbar schlecht entscheide und Aufträge rasch wieder vergesse, stösst meistens auf Verständnis, teils sogar auf Dankbarkeit.

    Addio a Malerba

    Luigi Malerba, die nachdenklichen Hühner im Quartheft

    Auf einer Versammlung hinter verschlossenen Türen hatten die Hühner den Entschluss gefasst, Gargantua und Pantagruel von Rabelais auf den Index zu setzen, weil darin behauptet wurde, der beste Arschwisch der Welt sei ein lebendiges Küken. Ein literarisch gebildetes Huhn meldete sich zu Wort und sagte, Gargantua wische sich den Hintern mit einem kleinen flaumigen Gänserich ab und nicht mit einem Hühnerküken, so dass man das Buch nicht auf den Index zu setzen brauche.

    Das schreibt Luigi Malerba (11. November 1927 – 8. Mai 2008) in: Die nachdenklichen Hühner, im Original 1980 unter dem Titel: Le galline pensierose erschienen.
    Ich hatte in meinen 15 buchhändlerischen Verkaufsjahren zahlreiche Begegnungen mit Luigi Malerba in Buchform. Ich habe ihn immer gern gelesen und empfohlen und bin froh um das, was er uns hier gelassen hat. Um die Hühner ganz besonders. Die eitlen, frommen und grössenwahnsinnigen ebenso wie die geometriebegeisterten, philosophischen und perversen.
    Weiter lesen:
    – Aktuelle Ausgabe „Die nachdenklichen Hühner“
    – Klaus Wagenbach erinnert sich
    – Kurzbiografie
    – ADDIO ALLO SCRITTORE LUIGI MALERBA
    – Wikipediaeintrag mit gutem Werkverzeichnis

    Lebenspartnerleistung

    Bezahlst du bitte heut’ noch die Rechnung für diese Tagung, sonst krieg ich kein Eintrittsticket Ich habe denen versprochen, dass du eine Torte backst, aber lieber Früchte als Schokolade Du, meine Fahrradkette – könntest du die ölen und wenn du schon dabei bist auch noch die Türe zu der Speisekammer Warum zum Donnerwetter bring ich die Bilder aus dem Brennkorb nicht auf diese CD-R Ich habe mein Zugbillett in die Innentasche deiner Jacke gesteckt, weil ich selber keine hatte, hilf mir, dran zu denken Niemand im Büro kann diese Formatierung ändern ohne die Tabellen zu verschieben, schaust du schnell es eilt furchtbar Was ist nun mit dieser Einladung, der Text ist parat aber das Layout geht nicht Muss nicht das neue Bügeleisen regelmässig durchgespült werden Meiner Mutter ihr Blog hat ein Problem Kannst du dieses Mail einmal lesen, spinne ich oder spinnen die Meine einzige Bluse, die für morgen geht ist noch in der Wäsche, die eeeinzige Bitte korrigier‘ einmal unvoreingenommen diese zwei Antworten, ich meine, man kann das so oder anderes verstehen Ich habe eine Kiste Bücher, die morgen in der Schule sein muss Merkt denn keiner, dass das Magenta leer ist Ich glaub ich werde krank, bitte hol mich ab Ich habe angeboten, die Kinder könnten bei uns essen, sie werden hungrig sein aber ich bin ja an einer Sitzung Ich stehe hier an dieser Sch*-Ecke in Zürich und ich find‘ die Adresse nicht, weisst du wie peinlich kannst du rasch im Twixtel Wie heisst noch der Wein, der heisst wie ein Vogel Hast du schon gesehen, der Scanner blinkt so komisch –
    Danke.

    Noch nicht ganz (aufgegeben)

    Ich habe es längst aufgegeben, meine Bibliothek zu ordnen. Sie gleicht einem schlechten Antiquariat, in dem ich auf gut Glück ein bisschen rumwühlen kann, und brauche ich wirklich dringend ein Buch, das ich bereits besitze, so bleibt mir nichts anderes übrig, als es in einer Buchhandlung zu kaufen. Ich tu das gern, ich mag Buchhandlungen.
    Peter Bichsel

    Auffahrt und 1. Mai 2008: Bibliotheksordnung

    Weder für Kirche noch für Klassenkampf entscheiden, sondern einfach für das Aufräumen der eigenen Bibliothek. Neunzig Titel ausgeschaubt, ein einfacheres Ordnungssystem eingeführt: Belletristik, Sachbuch, Anthologien, Zeitschriften. Biografien von Schreibenden zu ihren Schriften, den Rest zum Sachbuch. Trennung nach Reihen, Verlagen oder Bindeart aufgehoben.
    Morgen bin ich am Symposium „Vielfalt statt Einfalt“ in Solothurn und anschliessend treff ich mich mit www.buchhaendlerin.ch. Im realen Leben. Um 18.30 in Basel. Bis dann!

    Feines Wochenende

    Wir hatten einen richtig schönen Kind-Geburtstag. Einer vieler Vorteile selbst gemachter Truffestorten ist, dass daneben noch für eine Woche Pralinées produziert werden. Dieses Mal besonders nachhaltig mit einer Sonderkollektion mit Marzipanfüllung.

    Truffestorte für Teenager

    Ich korrigiere Tests und schreibe Tests und korrigiere Tests und schreibe Tests in dieser Schokoladenfabrik und komme nur oberflächlich dazu, die feinen Herren zu empfehlen, die ich soeben wieder entdeckt habe: Herr Teste und Herr Keuner.

    Valéry und Brecht mit Teste und Keuner

    Tischgespräch [33]

    Kind:
    Ab wie alt hattest du ein Handy?
    Mutter:
    Ab 26.
    Kind:
    Und ab wie alt einen iPod, äääh, Walkman?
    Mutter:
    Hmm. Keine Ahnung, aber da war ich schon erwachsen.
    Kind:
    Wie hast du denn vorher Musik gehört?
    Mutter:
    Viel halt live, es gab in meiner Jugend jede Menge Konzerte. In der Steiner-Schule war’s ja schon ein Verbrechen, irgendwo einen Verstärker anzuhängen. Das hat uns natürlich provoziert, fast täglich irgendwo einen Gig zu landen.
    Kind:
    Hä? Du? Mit der Querflöte?
    Mutter:
    Nein, ich hab nie etwas gespielt, immer nur Requisite, Mix, Organisation oder nur Groupie.
    Kind:
    Aber du hast ja viele alte Kassetten, irgendwo musst du die doch abgespielt haben!
    Mutter:
    Ja, das stimmt. Als ich ein Teenager war, habe ich mir zusammen mit meiner Schwester bei Eschenmoser ein Kassettengerät gekauft. Es kostete 100.—Fr und wir haben etwa ein Jahr dafür gespart. Wir hatten ja sonst nur ein schlechtes Radio und diesen Plattenspieler mit so einem Deckel, der der Lautsprecher war. Nun konnten wir uns plötzlich von anderen etwas aufnehmen lassen oder uns selbst aufnehmen. Das war das Coolste.
    Kind:
    Ah ja, hochladen oder herunterladen konntet ihr ja auch nichts ohne PC… Wann hattest du deinen ersten Computer?
    Mutter:
    In der Buchhandlung 1988, privat etwa 1993, aber den habe ich mit deinem Vater geteilt. Einen eigenen hatte ich erst … Leuenberger war jedenfalls noch nicht lange Bundesrat… vielleicht 1996. Ich war längst erwachsen.
    Kind:
    Aber, Mam, dann hattest du als Kind ja gar nichts.
    Ferien bei Freunden in Berlin, 1986

    Aus dem Reisenotizbuch [10]

    12. April 2007 09:00
    Kurzer Abstecher ins John Wesley Powell River History Museum, in welches auch das örtliche Visitor Center integriert ist. Wir haben in dieser Landschaft Entscheidungsschwierigkeiten und brauchen Hilfe – alles ist es wert, gesehen zu werden.
    Die Leute hier scheinen vom Binnentourismus, von den Uranminen und von Transportunternehmungen zu leben. Die Mormoninnen kochen, backen, kandieren und machen ein. Es gibt unzählige Plätze, wo man wundervoll frisch essen kann. (Wie vielerorts, wo Frauen nichts zu sagen haben und ihre Zeit zwischen den Niederkünften in der Küche und im Garten zubringen.) Die Rotbrüstchen, die ich aus der Schweiz nur einzeln kenne, hüpfen hier auf dem Parkplatz als Schar um meine Beine, während ich vor der Museumstür sitze und schreibe.
    Der alte Museumswärter („Welcome to our very quiet museum!“) hat darum gebeten, uns als mindestens vier Besucher ins Gästebuch einzutragen und uns dann eine Rundreise auf eigene Faust durch (im? am?) San Rafael Swell empfohlen. Ich möchte zuerst einen Wasser- und einen zusätzlichen Benzinkanister auftreiben und füllen, aber ich werde daran erinnert, dass das hier nicht die afghanische Wüste und ein Notruf in unserem Mietauto eingebaut sei. Er würde sich beim geringsten Problem selbst auslösen und Signale an einen Satelliten senden – extra eingerichtet für bescheuerte Touristen in Not.
    **
    12. April 2007 13:00
    Goblin Valley. Wir folgen dem Pfeil ohne Ahnung, was uns wartet. Vor dem nächsten Abgrund tut sich ein Gnomental auf. Ein unendlicher, unvergleichlicher, unvergesslicher Spielplatz.
    Goblin Valley
    [Wer klickt, dem wird gewunken.]
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    12. April 2007 17:00
    Welcome to (snowy) Monticello. Die OPEN-Fahnen des Campingplatzes hängen schlapp unter der Last des nassen Schnees, es ist 32 Grad Fahrenheit. Wir checken ein in ein altgedientes Motel, wo man das Auto direkt vor dem Zimmerfenster abstellt und zuoberst auf der Telefonliste die Nummer des Sheriffs steht.
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    12. April 2007 18:00
    Wir suchen Essen. Was uns das Fräulein aus dem GPS empfiehlt, ist windschief und für alle Ewigkeit verriegelt. Wir finden „Wagon Wheel Pizza“ mit einem Pizzabäcker wie der junge Giancarlo Giannini und einem fulminanten Ofen im Hintergrund. Man merkt, dass hier in der Saison viel läuft, aber heute sind wir die einzigen.

    All gave some
    Some gave all

    Steht am Eingang von Monticellos verschneitem Veteran Momorial Park. Mich überkommt ein Gefühl von Filmreife. Amerika als dicker, humorvoller doch überraschend wendiger Drehbuchautor. Ein bisschen gar von sich selbst eingenommen, aber gelassen genug, um jeden Plot den Gegebenheiten anzupassen.

    Was vom Tage übrig blieb

    Manchmal sehne ich mich zu McDonald’s zurück. Das ist die letzte Zeit in meiner Erinnerung, in der ich mir die Arbeit nicht mit hoher Selbstdisziplin einteilen musste und nicht ständig etwas dazwischen kam. Ich stand da und tat das, was mir aufgetragen war und das stimmte überein mit dem, wofür ich angestellt war und die eingeplante Zeit reichte, meine Arbeit ordentlich zu machen. Die Welt war in Ordnung. Jetzt ist es 16:45 und ich habe von meiner heutigen Agenda in Beruf, Haushalt und Familie 25% erledigt, alles andere war Dazwischengekommenes. Noch sieben Stunden bis Mitternacht.
    Um weder zu verzweifeln noch zu verblöden, mache ich in solchen Situationen dann etwas Unnützes. Zum Beispiel Bloggen oder mir Gedanken über Dinge, die mich grundlos interessieren.
    Schön der Artikel „Hundert Jahre Weiblichkeit“ im neuen gedruckten Spiegel 16/2008. Sehr gute Überlegungen zu der weiblichen Avantgarde und zu den Gründen, weshalb sie nicht länger, breiter und weiter gewirkt hat. Annemarie Schwarzenbach ist nicht verloren gegangen, wie ich es 1987, als die ersten Bände des Gesamtwerkes von Lenos nicht recht liefen, schon befürchtet hatte. Wie schön es ist, sich vergeblich Sorgen gemacht zu haben.
    Unschön all die Artikel über Berlusconis politisches Revival. Aber Franca Rame – mit der Regierung Prodi enttäuscht und gescheitert – hat es kommen sehen. Auszug aus einem Gespräch in der WOZ vom 10. April:

    Ich bin sehr besorgt. Egal, mit wem ich spreche – immer wieder höre ich das Gleiche: „Ich gehe nicht wählen.“ Ich fürchte, dass diese Wahl für die Linke zum Desaster wird. (…) Sie [die Italiener] finden ihn [Berlusconi] einfach sympathisch, und ihnen gefällt, dass er sich liften lässt, dass er immer lächelt, dass er als Selfmademan daherkommt – das ist der Traum des Durchschnittsitalieners.

    Nun wende ich mich wieder den utilitaristischen Seiten zu. Korrekturen. Abschlussprüfungen. Karotten. Abschlussfeier. Blumenkohl. Winterkleider. Reiskocher. Evaluation. Kräutererde. Spam. Vernehmlassung. Plug-ins. Zusatzhellraumprojektorreservation. Aber immerhin kein neues Brillengestell.