Les livres achetés Numéro 2

Ich bin bei meinen Bücherkäufen kurz vor Marseille stehen geblieben.

  • Marseille, Guide Bleu
  • Ein praktischer kleiner Reiseführer von Hachette, der einer Tagestouristin wirklich alles sagt, was nötig ist. Gekauft in einem kleinen Laden am Vieux Port mit erstaunlichem Sortiment. Er bot zwar das ganze erwartete Kioskprogramm, aber er führte auch sieben anarchistische Zeitschriften. Zwischen all diesem Cécilia-Supermadame-Sarkozy-et-Vanessa-très-jolie-Depp-Hochglanz lagen sie einfarbig und unberührt. Eine gute Bloggerin hätte die Titel notiert, aber das war ich da wohl gerade nicht, ich finde jedenfalls keinen Notiz davon. Ich erinnere mich noch, alle Nummern durchgesehen zu haben, weil ich dachte, die Zeitschriften müssten zumindest uralt sein. Es war jedoch keine älter als von Juni 2007.

  • Den Ausstellungskatalog von LES RENCONTRES D’ARLES,
  • dieser Wahnsinns-Fotoausstellung, habe ich in der „Librairie Regards“, der Kustbuchhandlung der Vieille Charité gekauft. Wie häufig bei Museumskatalogen ist auch dies ein Meisterwerk mit herstellerischen Mängeln. Farblich und inhaltlich toll, aber ein gesucht originelles Format und kläglich geleimt. Einer der Schwerpunkte in diesem Jahr war zeitgenössische Fotografie aus Indien. Die Bilder von 2004 bis 2007 gefallen mir sehr, weil nichts darauf mit meiner Erinnerung an Indien übereinstimmt. Der Alltag einer Einkindfamilie in New Delhi scheint sich nur mässig von unserem zu unterscheiden.
    In Nîmes kehrte ich in der Librairie „LE BEDEPHILE“ ein. (Klammer für Nicht-Comics-Kenner: die „BDs“ sind die „Bandes Déssinées“, sie gehören in jedes französische Büchergestell und dazu – im Gegensatz zur deutschsprachigen Welt – absolut zum guten Ton.)
    Dort gekauft:

  • Die beiden autobiografischen Reiseberichte von Guy Delisle, Shenzhen und Pyongyang.
  • Les Profs, Tome 2 (für das Kind) – gnadenlose Comic-Strips von Pica und Erroc aus dem Schul-Leben.
  • Louna et sa mère von Sophie Gascon und Mar Chalvin,
  • weil’s mir gefallen hat, einem quirrligen Mädchen und ihrer rauchenden, am PC arbeitenden, oben ohne badenden, mal müde mal gewitzt argumentierenden Mutter beim Alltag zuzuschauen.
    Die Buchhandlung selber war ein Hit. Es gibt ja nur zwei Sorten Comics-Läden: die chaotisch-dreckigen mit den Eselsohren und die fein säuberlich aufgeräumten mit den glasklaren Ordnungssystemen. Letztere sind seltener, aber das war wieder so einer. Und die Telefonnummer auf den alten Plastiktüten korrigieren sie eigenhändig.

    Gescannte Tüte Librairie Le Bédéphile

    Das war’s. Mehr Bücher konnte ich nicht nach Hause nehmen.

    Les livres achetés

    Ich reise ja niemals allein. Die Buchhändlerin in mir ist immer dabei. (Ich habe eine grosse Sammlung von Buchschaufensterfotos und keine Ahnung mehr, wo ich sie aufgenommen habe. Und wann weiss ich nur bei den Digitalen.)
    Deswegen besuche ich überall Geschäfte, die Bücher anbieten. Die Ausbeute der letzten Ferien mit je einem Stichwort zum Ort des Erwerbs:

  • Le Roi de la Biblothèque.
  • Ein Kinderbuch. Gekauft in einer klitzekleinen Papeterie in Grande Motte. Aus einem Verlag, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte. Gründ. In Berndeutsch wäre das des Grundes Plural.

  • De l’indigène à l’immigré
  • Ein aufschlussreiches Taschenbuch über die Geschichte der Einwanderung nach Frankreich.

  • La rue, village ou décor?
  • Ein wunderbarer Mix an Kultur- Sozial- und Architekturgeschichte über die Strasse. Von Projektphotografie bis Philosophie – war wohl einmal eine Dissertation gewesen.
    Beides gekauft bei Sauramps, die grösste Buchhandlung in Montpellier. Aber wie schon an anderer Stelle beschrieben: Egal wie gross die Buchhandlung, der Buchhändlerin Büro ist immer winzig.
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    On two

    [Unterwegs.]
    Nesbo, Jo | Kakerlaken | ullstein tb
    Ich mag Nesbo einfach. Obwohl der Verlagswerbung inzwischen sein Image schier unerträglich zum coolen Typen aufbläst, schreibt er gute und selbst für erfahrene Leser nicht zu berechenbare Kriminalromane.
    Nesser, Hakan | Schatten und Regen | btb
    Den mag ich auch, weil der nicht nur Krimis kann, sondern auch allerlei anderes. Ich hatte ihn schon letzte Sommerferien mitgenommen. Hier geht es um die Aufklärung eines alten Verbrechens. Die Leserin erfährt aus den Biografien junger Leute davon, die zur Erzählzeit in der Midlifecrisis sind. Der einzige Kommissar im Buch ist pensioniert, im Rollstuhl und eine Randfigur. Der Rest ist Erinnerung. Düster halt.
    Orlev, Uri | Insel in der Vogelstrasse | Ravensburger (vom Kind)
    Das nahezu perfekte Jungedbuch. Zu lesen ab ca. 10 Jahren zum Thema Warschauer Ghetto. Uri Orlev nimmt auch in diese Geschichte viel Autobiografisches hinein, aber er lässt den Kindern schon mehr Fluchtmöglichkeiten vor Brutalität als in Lauf, Junge, lauf.
    Der Junge Alex hält sich in einer alten Ruine im Ghetto versteckt. Er hat eine Pistole, eine Taschenlampe, ein paar Bücher, wenige Vorräte und die Anweisungen seines verschwundenen Vaters. Die Mutter war schon früher deportiert worden. Alex ist manchmal gezwungen, die Ratschläge des Vaters neu zu überdenken und grundsätzliche Abweichungen zu riskieren. Wer hier liest, lernt nicht nur die Kindersicht auf das Warschauer Ghetto kennen, sondern auch, dass Leben bedeutet, mit dem in der Familie Erlernten in Konflikt zu stehen.
    Pamuk, Orhan | Das schwarze Buch | fischer tb
    Ich kann die Handlung nicht zusammenfassen. Nur vage erahne ich, warum das Buch so hiesst. Uff, diese 500 Seiten haben mir einiges abverlangt. Aber ich bereue nichts, es hat mir das unstete Leben Istanbuls nahe gebracht, die Beschreibungen sind fulminant. Die Lektüre hat mich mehr unterschwellig angestengt, was mir oft bei arabischer Literatur passiert. Ich kannte Pamuks Literatur sonst noch nicht, aber dieser Pamuk ist eindutig in der arabischen Tradition geschrieben. Der Mann nennt sie „zwischen drei Uhr Mittags und fünf nach“: Man beginnt zu lesen und es ist ein träger Nachmittag um drei Uhr. Tausend Seiten und Ausschweifungen später ist es erst fünf nach drei und immer noch drückend heiss und langsam. Würde mich mein Deutschlehrer fragen, was der Autor mir mit dem Buch sagen will, würde ich antworten, dass jeder zuerst herausfinden solle, wen er imitiere und erst danach, wer er sei. Dass die Stadt am Bosporus der beste Schauplatz ist für die Geschichte einer grossen Suche, versteht sich.
    Ress, Celia | Klassenspiel | Carlsen (vom Kind)
    Ein gutes Jugendbuch über Ausgrenzung. Gradlinig, sehr einfach – für Jungs wie Mädels geeignet, ausser für Jungs, die nicht gern lesen. Dafür kommen zu viele Mädchen vor.
    Schröder, Rainer M. | Bruderschaft vom heiligen Gral: Der Fall von Akkon | Arena (vom Kind)
    Einmal Schröder, immer Schröder. Seine Romane bleiben sich recht ähnlich. Historisch fundiert und vorwiegend im Mittelalter spielend, sind sie aber ein Gewinn für die Jungenliteratur und werden meines Erachtens zu selten empfohlen. Gerade in diesem Buch über vier junge Kreuzritter aus verschiedensten Teilen Europas, zeigt er wieder sehr schön die vielen verschiedenen Elemente, aus der europäische Geschichte gebaut ist.
    Wichtig für Buchhändlerinnen: Schröder hat nun auch mit dem Harry-Potter-System begonnen, was nicht alle Kinder mögen. „Die Bruderschaft vom Heiligen Gral“ ist nur für junge Leser zu empfehlen, die dem neuen Band entgegenfiebern wollen. Sonst würde ich lieber andere Titel von ihm empfehlen. Auch diese sind oft mehrbändig, aber sie können ohne relevante Einbussen einzeln gelesen werden.
    (Nachtrag: Das Kind ist sofort nach Rückkehr in den Chinderbuechladen gerannt und hat nach der Fortsetzung – „Das Amulett der Wüstenkrieger“ – gefragt. Die ist schon erschienen. Also wieder 600 Seiten Entwarnung.)

    On

    [Von unterwegs.]
    Traditionell fange ich da an, wo ich gelesen habe. Ich weiss noch nicht genau, wann ich zum nächsten Mal online sein werde und lasse die Kommentare ausgeschaltet. Gleichzeitig bedaure ich das sehr, weil ich ja den Austausch über Bücher so schätze.
    Corbin, Alain | Meereslust | Wagenbach (Zweitlesung)
    Natürlich wusste ich schon, dass das die beste Kulturgeschichte von Meeren und Menschen ist. Aber ich hatte vieles vergessen. Mein Lieblingskapitel diesmal war „Die Erfindung des Strandes“. Eine kleine Geschichte über die Erschliessung von neuem Raum und die neue Verwendung von Zeit. Weil ich selber am Strand war, konnte ich mir und den anderen bei der Entstehung der eigenen Strandkultur zuschauen. Allerdings braucht man für interessante Beobachtungen von Strandleben nicht zwingend eine Buchvorlage.
    Fawer, Adam | Null | rororo
    Nicht gelesen. Trash.
    Geiger, Arno | Es geht uns gut | dtv
    Nur fünfzig Seiten gelesen. Weil schon Pamuk mir einiges abverlangt hat (komme im nächsten Eintrag darauf), hatte ich keine Lesekraft mehr für Geigers Beschreibungen, obwohl ich nicht so weit gehen möchte zu sagen, sie seien es nicht wert. Oft schreibt er aber, was ich mir schon vorgestellt hatte: jemand Geschwächtes sitzt gebückt, jemand der anfährt, wackelt auf dem Rad. Da diese Familiengeschichte aber von zuverlässigen Quellen sehr gelobt wurde, kann ich mir gut vorstellen, dass ich die Lektüre später noch einmal angehe.
    Kordon, Klaus | Julians Bruder | Gulliver (vom Kind)
    Das war zweiter Weltkrieg. Und ich mochte nur ein Jugendbuch vom zweiten Weltkrieg lesen (folgt im nächsten Eintrag).
    Mankell, Henning | Die fünfte Frau | dtv (vom Kind)
    Hätte ich das Buch vorher gelesen, hätte ich dem Kind abgeraten. Zum Glück lesen Menschen aber nicht nur unter Aufsicht und bisweilen was sie wollen.
    Es handelt sich hier um einen Fliessband-Mankell, um einen „so-etwas-Brutales-habe-ich-nie-zuvor-gesehen“-Wallander. Nun, Mankell soll ruhig Geld verdienen für sein mozambikanisches Theater und Zeit für die Bücher über Afrika, die sich schlechter verkaufen. Also: Der Titel bezieht sich einerseits auf eine Frau, die als fünfte Frau ermordet wird, weil sie – im Gegensatz zu den anderen vier – zur falschen Zeit am falschen Ort war. Andererseits muss Wallander vier Frauen ausfindig machen, bis er als fünfte auf die Schlüsselfigur trifft. Der Plot geht in Ordnung, aber dieser Hang zur Superlative… der ermattet.
    Markaris, Petros | Balkan Blues | diogenes tb
    Ein schmales Bändchen von wunderbaren Novellen. Sie spielen in Griechenland, betreffen aber den ganzen Balkan und Afrika. Es geht vor allem um dem Import von Arbeitskraft. Die einzelnen Geschichten geben kaum Anlass zur Hoffnung. Sie werden mancher Leserin und manchem Leser zu moralisch sein, aber für mich waren sie genau richtig. Ich finde literarischen Realismus für die Beschreibung der produktiven Arbeit im 21. Jahrhundert sehr passend.
    Némirovsky, Irène | Suite française | btb
    Hier bin ich noch dran. Ein ausgezeichnetes Buch von einer Autorin mit beeindruckendem Lebenslauf. Eine Schriftstellerin, die nicht mehr fliehen mag. Während sie auf die Deportation wartet, dokumentiert sie alles, was sie in den Jahren zuvor beobachtet hat. Das Buch ist das Ergebnis dieser Dokumente, die von ihren Töchtern gerettet werden konnten. Ich bin in der Literatur noch keinem so differenzierten Bild Frankreichs unter deutscher Besatzung begegnet.

    Jutta Rosenkranz, Mascha Kaléko

    Jutta Rosenkranz, Mascha Kaléko
    Jutta Rosenkranz
    Mascha Kaléko
    Biografie
    dtv Mai 2007
    978-3-423-24591-3

    Noch ein Lebensjahr hatte Mascha Kaléko vor sich, als ich vor zwei Stunden das letzte Kapitel zu lesen begann. Ein trostloses Jahr, das allerdings umtriebig endete: Vom Sterbebett aus organisierte Kaléko die Nachlassverwaltung ihres Werkes und des Werkes ihres Mannes Chemjo Vinaver. Sie tat das ehrgeizig und perfekt.
    Geboren wurde Mascha Kaléko am 7. Juni 1907 in Chrzanów, beigesetzt am 23. Januar 1975 auf dem israelitischen Friedhof am Friesenberg in Zürich. Ein schöner Ort. Doch mutet es einsam an, dieses Grab: Nur zufällig in der Schweiz geschaufelt, weit weg vom Sohn in Amerika, weit weg vom Mann in Israel, die beide vor ihr starben.
    In Rezensionen wird gern von den besonderen Verdiensten geschrieben, die ein Buch seiner Leserschaft erweist. „Es ist das Verdienst dieser Biografie, erstmals umfassend und seriös recherchiert Mascha Kalékos Leben und Werk, aber auch ihren widersprüchlichen Charakter zu beschreiben,“ würde hier zweifellos passen. Doch ein Buch muss sich mir nicht verdientsvoll erweisen, damit ich es anderen ans Herz legen kann, es reicht vollkommen, wenn es gut ist. Ich hoffte vor einem Jahr, zu Kalékos 100. Geburtstag eine gute Biografie zu lesen – und meine Hoffnung wurde erfüllt.
    Mascha Kaléko war lange wenig Ehre zuteil geworden. Doch wenn man bedenkt, dass Jahrhunderte über Heine-Denkmäler gestritten wurde, können wir froh sein um jedes Täfelchen, das zum Gedenken an Mascha Kaléko enthüllt wird. (Zum Beispiel heute: Minetta Street New York, wo sie siebzehn Jahre gelebt hat.)
    Kaléko ist Zeit ihres Lebens arm geblieben. Den einzigen Preis, mit dem sie bedacht wurde, hat sie 1959 abgelehnt. Hans Egon Holthusen war damals Direktor der Abteilung Dichtung an der Berliner Akademie der Künste, welche diese Auszeichnung – den Fontane-Preis – verlieh. Er war selber Dichter und ehemaliges SS-Mitglied. Es erschien Kaléko unerhört, einen Preis aus seinen Händen entgegenzunehmen. Sie argumenteierte weder emotional noch kalt, sondern sachlich fundiert. Aber Generalsekretär Buttlar rief trotzdem erregt, man könne Holthusen diese „Jugendtorheit doch nicht in alle Ewigkeit ankreiden“.
    „Nein, aber man muss ihn nicht mit Ehrenposten belohnen,“ antwortete Kaléko.
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    Bilancia

    Schreibtisch:

  • Wolf Schneider, Deutsch fürs Leben / rororo 2000
  • Wintergedichte / Reclam Universal-Bibliothek 2001
  • Andreas Thalmayr, LYRIK NERVT / Hanser 2004
  • Nick Hornby, A Long Way Down
  • Iris Radisch, Die Schule der Frauen
  • Duden Nr. 1 / 2006 (ungebraucht)
  • P.F. Thomése, Izak / Berlin Verlag 2005
  • Van de Vendel, Anna Maria Sofia & der kleine Wim / Carlsen 2004
  • Desmarteau, Alles steht oben geschrieben / Bajazzo 2003
  • Vor meinem Bett:

  • Ornela Vorpsi, Das ewige Leben der Albaner / Zsolnay 2007
  • Vikas Swarup, Rupien! Rupien! / KiWi 2006
  • Steven Gilbar, Bibliomanie / Dörlemann 2006
  • Anita Lasker-Wallfisch, Ihr sollt die Wahrheit erben / rororo 2005
  • Stephan Lamprecht, WordPress 2.x kompakt / bomots 2006
  • Walter Muschg, Tragische Literaturgeschichte / Diogenes 2006
  • Tadeusz Borowski, Bei uns in Auschwitz / Schöffling & Co 2006
  • Peter von Matt, Das Wilde und die Ordnung / Hanser 2007
  • Kerth / Pütmann, Die besten Strategietools / Hanser 2005
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    Die Schule der Frauen

    Iris Radisch
    Die Schule der Frauen
    Wir wir die Familie neu erfinden
    DVA 2007
    978-3-421-04258-3

    Ich habe einiges auf mindestens drei Kinder-Küche-Karriere-Schlagzeile zum heutigen Tage gesetzt und gewonnen. Es gibt ja wirklich und wahrhaftig kein anderes Frauenthema mehr als die drei Positionen:
    1. Kinder sind Erfüllung, Hausfrau zu sein ist wunderbar und wertvoll.
    2. Kinder tut man sich nicht an, Erfüllung geht ohne besser.
    3. Beides ist vereinbar.
    Nach drei Tagen Presse um Eva Hermanns hohen Besuch in Bern, kann ich Nr. 1 abhaken (Klammer dazu folgt), für Nr. 2 ist der Zug schon länger abgefahren. Andere Frauenthemen haben entweder einen eigenen UNO-Tag oder eh’ keine Chance mehr, und so bleibt mir nur noch Nr. 3 übrig, um meinen langweiligen Alltag mit unlösbaren Problemen zu beleben.
    (Eben, Eva Hermann: Ich meide bekanntlich Kritik an Frauen in der Öffentlichkeit. Aber ganz eingeklammert frag ich mich doch, ob es nicht eventuell eine effizientere Methode für intellektuelle, motivierte Schwestern gegeben hätte, sich mit den Konservativen anzulegen? Eine Opportunistin auszupfeifen, die von Berufs wegen rhetorisch gut und stoisch gelassen wiederzugeben vermag, was andere für sie aufgeschrieben haben – bringt das wirklich den gewünschten aufrüttelnden Eklat? Die Pro Libertate-Senioren – mit Radau überzeugt? Mmh.)
    Und so habe ich gestern Nacht zu Position 3 dieses Buch gelesen. Dank geht wieder einmal an Liisa, ohne die ich nicht über meinen missgünstigen Schatten gesprungen wäre. Iris Radisch vertritt in ihrem Buch auch Eva Hermanns Ghostwriters Verlag PR-Beraters Eva Hermanns Meinung, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein Märchen ist, welches ausser zum Herumerzählen nicht viel taugt. Aber dann ist es mit der Ähnlichkeit zum Glück vorbei.
    Radisch begründet nicht mit der Biologie und ihre Lösung ist keine pfannenfertige. Sie macht mit spitzer Feder ein paar Kleinigkeiten klar, die in letzter Zeit unterzugehen drohen. Zum Beispiel, dass im Wesentlichen die Pille Schuld ist am Geburtenrückgang, dass nicht so verdammt viele Männer gerne mehr im Haushalt tätig wären (wenn sie nur könnten), dass ein Elternteil an einem Arbeitstag höchstens drei von 24 Stunden für ein Kind aufwänden kann und dass 98 von 100 Alleinerziehenden Mütter sind und sich die Mehrheit der Väter nur sehr begrenzt für die abgelegte Brut interessiert.
    Wie gesagt, die Lösung präsentiert sie nicht. Aber es ist ein Plädoyer dafür, dass die Frauen das Tempo drosseln. Wir haben in kurzer Zeit den männlichen Part gelernt, etliche Fortsetzungsfamilien mit unübersichtlicher Verwandtschaft gemanagt, dem Mann vielleicht nicht mehr gerade das grösste Stück Fleisch aber immer wieder gnädig das jüngste Stück Frau zugestanden und jede Kinderkrankheit im Büro oder im eigenen Haus mit einem ermunternden Lächeln auf den Lippen ausgebadet. Radisch plädiert für mehr Partnerschaft. Für die Familien-Lobby, die neue Rollen erstreitet und nicht alte zementiert.
    Ich habe das Buch gerne gelesen, weil es witzig ist, weil sie wunderbare literarische Bespiele benutzt und weil sie gut schreiben kann. Doch ihre Forderungen waren furchtbar enttäuschend; so vertraut und gewöhnlich. Vielleicht ist das ja das Zeichen für ihre Realisierbarkeit.
    Na dann, auf einen neuen Versuch.

    A Long Way Down

    Nick Hornby, A Long Way Down
    Nick Hornby,
    A Long Way Down
    Knaur (TB) 2006
    978-3-426-61536-2

    Also, es ist nicht so, dass Nick Hornby irgendwie mein Lieblingsautor wäre. Er schreibt mir halt ab und zu ein Buch, welches ich dann schlecht ablehnen kann, oder? Dass ich eine Schwäche für den Perspektivewechsel habe, ist ja nichts Neues. Und wenn das jemand so richtig gut kann, dann lese ich den halt. In diesem Buch hier haben sich vier angehende Selbstmörder auf dem Hochhausdach getroffen. Aber da sie nun einander begegnet sind, können sie sich ebensogut ein wenig Aufschub gewähren vom Sprung. Sie sind ein Musiker, ein Moderator, eine Mutter und eine Teenagerin – und alle irgendwie gescheitert, aber noch nicht ganz fertig damit. Und weil die je ihre Geschichte erzählen, also auch was sie denken, kriegt man mit, dass sie ein ähnliches Problem haben. Eigentlich ein Gewichtungsproblem. Sie wissen alle nicht, wie das, was sie sagen oder machen auf andere wirkt und wie stark. Und auch nicht, was aus ihrem Leben sie hervorheben und was sie verschweige sollen. Und deswegen ist es ja auch ein Hornby-Buch, weil der das kennt mit seinem autistischen Sohn. Weil der ein anderes Leben lebt. Er muss die gewöhnlichen Leben ausblenden, um sich mit einem Autistenleben rumzuschlagen. Kein Wunder also, dass er wieder einmal die erzählen lässt, die keine Vorstellung mehr haben, wie das normale Leben gehen könnte, wie man richtig redet und handelt. Deswegen passt das ja eben auch für mich. Also nicht, dass ich vom Hochhaus springen möchte, obwohl ich wirklich genügend Gelegenheit dazu hätte, drei Schritte nach vorn und einen nach oben und futsch wär’ ich. Nein, nicht deswegen.
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    Keine Bange

    „Mein geliebtes Deutsch“ [1] – seine Einheit und Ganzheit besteht nicht in einem Geist oder Wesen, das wir irgendwo dahinter ahnen [2] oder sprachphilosophisch konstruieren. Die Einheit und Ganzheit besteht allein in unserer Liebe. Was ich liebe, steht lebendig vor mir und ist doch tausendfältig und immerzu bewegt und niemals auszuschauen. Die Liebe ist unsere höchste schöpferische Kraft. Solange wir der Fülle und Vielfalt deutscher Sprache, deutscher Literatur mit neugieriger Liebe begegnen, braucht uns um sie auch in Zeiten der Anglizismen, der Korrekturprogramme und der Gedichte per SMS nicht bange zu sein.

    aus:
    Peter von Matt [3]
    Das Wilde und die Ordnung
    Zur deutschen Literatur
    Hanser 2007
    978-3-446-20840-7

    (Mit dieser Lektüre bin ich im Moment glücklich und aus Gründen verständnistechnischer Zweimal-Lesung sehr beschäftigt.)
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    Blaue Pillen

    Fredrik Peeters, Blaue Pillen
    Fredrik Peeters,
    Blaue Pillen
    Reprodukt 2006
    978-3-838511-62-6
    Originaltitel: Pilules Bleues

    Selten wurde eine Comic-Neuerscheinung so häufig und positiv besprochen. Aber richtig gute Besprechungen gabs dann doch nicht. Die Rezensenten, die den Ton getroffen haben, haben den Inhalt falsch wiedergegeben, und die, welche wirklich genau gelesen haben, hatten nur einen Blick für Aids.
    Mag zwar sein, dass das Buch ohne die Krankheit nicht geschrieben und gezeichnet worden wäre. Aber es ist trotzdem mehr als ein Buch über HIV und Aids.
    Es ist konsequent hohe Kunst, wie man sie heute ab und zu gerade im Genre Comic findet. Manchmal kommt mir diese Jahrhundertwende ein bisschen wie die letzte vor. Eine Zeit, in der eine neue Gattung auf die Spitze getrieben wird. Anstelle der Novelle ist es nun die grafische, die (auto-) biografische Novelle.
    Fredrik Peeters Kunst muss man nicht erkennen um das Buch zu lieben, aber schaden tut’s nicht. Dieser Zeichner hat die Perspektiven im Griff. Die Figuren treiben durch das Bild, sie schieben sich hinein und hinaus, vor Gegenstände und dahinter. Mit seinem aussergewöhnlichen Wechselspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung hat Peeters einen Meilenstein gesetzt. Klein aber gültig. (In Französisch schon vor fünf Jahren, endlich übersetzt.)
    Es ist eine autobiografische Geschichte. Cati läuft dem Ich-Erzähler-Zeichner ab und zu über den Weg, mal zu angenehmen Anlässen, mal zu unangenehmen Zeiten. Als er sie richtig kennen- und verstehen lernt, hat Cati einen kleinen Sohn und beide haben HIV. Die „blauen Pillen“ stehen für die Therapie, die bei Catis Sohn begonnen werden müsste. Und die ihr selber Sex ohne Gummi ermöglichte, wenn auch sie damit anfangen würde. Bei ihrem Sohn stimmt sie schweren Herzens zu. Selbst will sie nicht – wollen sie beide Liebenden nicht – „kapitulieren“.
    Aber wenn das Buch Musik wäre, so wäre Aids nur die Tonart. In anderen Zeiten und Werken ist es der Krieg, die Flucht oder die nicht angemessene Herkunft, die Paare zwingt, sich auf das Wesentliche zu besinnen, Witz in den Ernst des Lebens zu mischen, Kleinigkeiten zu schätzen und Kleinlichkeiten zu lassen.
    Es ist eine Liebesgeschichte, die ihresgleichen sucht. Ich bezweifle, dass ich seit „Schloss Gripsholm“ etwas empfehlen könnte, das so selbstverständlich am Kitsch vorbei geht und so nah ans Glück herankommt.