Keine Bange

„Mein geliebtes Deutsch“ [1] – seine Einheit und Ganzheit besteht nicht in einem Geist oder Wesen, das wir irgendwo dahinter ahnen [2] oder sprachphilosophisch konstruieren. Die Einheit und Ganzheit besteht allein in unserer Liebe. Was ich liebe, steht lebendig vor mir und ist doch tausendfältig und immerzu bewegt und niemals auszuschauen. Die Liebe ist unsere höchste schöpferische Kraft. Solange wir der Fülle und Vielfalt deutscher Sprache, deutscher Literatur mit neugieriger Liebe begegnen, braucht uns um sie auch in Zeiten der Anglizismen, der Korrekturprogramme und der Gedichte per SMS nicht bange zu sein.

aus:
Peter von Matt [3]
Das Wilde und die Ordnung
Zur deutschen Literatur
Hanser 2007
978-3-446-20840-7

(Mit dieser Lektüre bin ich im Moment glücklich und aus Gründen verständnistechnischer Zweimal-Lesung sehr beschäftigt.)
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Blaue Pillen

Fredrik Peeters, Blaue Pillen
Fredrik Peeters,
Blaue Pillen
Reprodukt 2006
978-3-838511-62-6
Originaltitel: Pilules Bleues

Selten wurde eine Comic-Neuerscheinung so häufig und positiv besprochen. Aber richtig gute Besprechungen gabs dann doch nicht. Die Rezensenten, die den Ton getroffen haben, haben den Inhalt falsch wiedergegeben, und die, welche wirklich genau gelesen haben, hatten nur einen Blick für Aids.
Mag zwar sein, dass das Buch ohne die Krankheit nicht geschrieben und gezeichnet worden wäre. Aber es ist trotzdem mehr als ein Buch über HIV und Aids.
Es ist konsequent hohe Kunst, wie man sie heute ab und zu gerade im Genre Comic findet. Manchmal kommt mir diese Jahrhundertwende ein bisschen wie die letzte vor. Eine Zeit, in der eine neue Gattung auf die Spitze getrieben wird. Anstelle der Novelle ist es nun die grafische, die (auto-) biografische Novelle.
Fredrik Peeters Kunst muss man nicht erkennen um das Buch zu lieben, aber schaden tut’s nicht. Dieser Zeichner hat die Perspektiven im Griff. Die Figuren treiben durch das Bild, sie schieben sich hinein und hinaus, vor Gegenstände und dahinter. Mit seinem aussergewöhnlichen Wechselspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung hat Peeters einen Meilenstein gesetzt. Klein aber gültig. (In Französisch schon vor fünf Jahren, endlich übersetzt.)
Es ist eine autobiografische Geschichte. Cati läuft dem Ich-Erzähler-Zeichner ab und zu über den Weg, mal zu angenehmen Anlässen, mal zu unangenehmen Zeiten. Als er sie richtig kennen- und verstehen lernt, hat Cati einen kleinen Sohn und beide haben HIV. Die „blauen Pillen“ stehen für die Therapie, die bei Catis Sohn begonnen werden müsste. Und die ihr selber Sex ohne Gummi ermöglichte, wenn auch sie damit anfangen würde. Bei ihrem Sohn stimmt sie schweren Herzens zu. Selbst will sie nicht – wollen sie beide Liebenden nicht – „kapitulieren“.
Aber wenn das Buch Musik wäre, so wäre Aids nur die Tonart. In anderen Zeiten und Werken ist es der Krieg, die Flucht oder die nicht angemessene Herkunft, die Paare zwingt, sich auf das Wesentliche zu besinnen, Witz in den Ernst des Lebens zu mischen, Kleinigkeiten zu schätzen und Kleinlichkeiten zu lassen.
Es ist eine Liebesgeschichte, die ihresgleichen sucht. Ich bezweifle, dass ich seit „Schloss Gripsholm“ etwas empfehlen könnte, das so selbstverständlich am Kitsch vorbei geht und so nah ans Glück herankommt.

Wie weiter nach der Lehre?

Was sollen wir tun?
Jedes Jahr organisieren ich und meine Kollegin einen Perspektiven-Halbtag für die Lernenden der Abschlussklassen. Ich möchte niemandens Vorurteile gegen Jammerlappen-Lehrer bestätigen, indem ich sage, dass sowas sehr viel vorzubereiten gibt. Aber es isso; siehe Programm.
Eine Berufsfachschullehrerin hat für eine Halbzeitstelle mindestens 100 Schülerinnen und Schüler, welche sie maximal 2×45 Minuten wöchentlich sieht und welche sich untereinander auch kaum begegnen. Erfahrungen von Lernenden und noch ein paar Ehemaligen kurzzuschliessen, ist daher kein Kinderspiel. Mit den Lektionen müssen wir ein wenig schummeln, weil ja legal keine Klasse einen halben Tag zu Gesicht zu bekommen ist. Doch in weniger Zeit ist das Leben nach der Lehre unmöglich zu planen.
Jedenfalls haben wir das heute wieder gemacht. Und es war wieder ein Erfolg. Nach Jahren Berufserfahrung verblüfft es mich immer noch zuzuschauen, wie sonst Desinteressierte in solchen Stunden, in denen sie ganz offensichtlich für das Leben lernen, auftauen.
Ebenfalls schön war die positive Bilanz der Gewerkschaftsvertreterin, was unsere Arbeitslosenzahlen angeht. Die Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz ist auf 4% gesunken, womit wir im europäischen Vergleich vorbildlich dastehen. Die Arbeitslosigkeit bei Buchhändlerinnen liegt noch darunter.
Es gibt am Ende der Lehre immer Grund zur Sorge. Aber eigentlich könnte auch alles gut werden.
Was sollen wir tun?

World Press Photo of the Year 2006

Jedes Jahr, bevor die besten Fotos der Weltpresse gekürt werden, prämiere ich im stillen Kämmerlein die, die ich am besten fand. Ich habe zwei Schubladen mit einem ungeordnete Archiv und eine Linksammlung. Wer Bücher beurteilen will, muss nicht nur eine Ahnung von Textqualität sondern auch eine Vorstellung von Bildqualität haben.
Das beste Bild ist meistens ein bekanntes, jedenfalls für regelmässige News-Konsumenten und daher meistens keine grosse Überraschung. Bei den anderen prämierten Bildern gibt es ebenfalls Parallelen zu meiner privaten Vorauswahl, aber eher selten.
Ich finde die Wahl der Jury in der Regel sehr gut und habe – genau wie in jedem vorhergehenden Jahr – Fotos entdeckt, die von etwas erzählen, von dem ich keine Ahnung hatte.
Es sind unendlich viele Kriterien zu berücksichtigen. Eine Jury kann zwar eine Liste mit Favoriten führen, aber Pressefotografie bedeutet Aktualität. Viel Gutes würde ihr entgehen, würde sie allein auf bewährte Namen und Eurozentrismus setzen.
Heuer gibt es allerdings einen Fall, in welchem ich die Jury belehren möchte. Ein Ereignis hat sie unterschlagen, obwohl es – gerade für die Presselandschaft – ein sehr wichtiges war und ausgezeichnete Fotos davon gemacht worden sind. Ich habe mir einige aufbewahrt, schwarz-weiss und inzwischen schon fast ein Jahr alt und etwas vergilbt. Mein Pressefoto 2006 in der Kategorie „People in the News“ wäre dieses gewesen:
Prodis Bündnis; copyright dpa
via Netzzeitung, (c) dpa.
Ja, es ist Italien. Nein, nicht der WM-Final. Sondern Prodis knappe Wahl. Und Berlusconis Abwahl.

Updates zum Lehrbuch

In der Sportwoche habe ich einige Updates zu unserem Lehrmittel „Wirtschaftsunternehmen Sortiment“ gemacht. Ich mag dieses Lehrmittel und bin auch für die hauchdünne inländische Ergänzungsbroschüre dankbar.
Doch stellenweise ist das Lehrmittel für die Bedürfnisse meiner Schülerinnen und Schüler zu stark auf den Kleinbuchhandel ausgerichtet, der in der Schweiz einfach einen geringeren Teil des Sortimentsbuchhandels ausmacht als in Deutschland.
Und in manchen Kapiteln bin ich mit der Gewichtung nicht ganz glücklich, vor allem dort, wo es um Innovationen des Buchhandels geht. Ich habe hier schon mehrmals erwähnt, dass Identifikation ein Schlüssel zur erfolgreichen Lehrzeit ist. Aber dafür müssen junge Leute auch Identifikationsmöglichkeiten bekommen. Wenn ich als Neueinsteigerin die seitenlangen Abdrucke möglicher Forumlare des Buchhandels lesen und lernen müsste, würde ich mir die Frage stellen, ob mich meine Berufswahl in die Prä-Information-Technology-Phase zurückkatapultiert hat.
Kurz: Wie die meisten Lehrpersonen überspringe ich einiges im Lehrmittel grosszügig. Bis jetzt bin ich weder von Auszubildenden noch von Ausbildern dafür gerügt worden. Dafür baue ich andere Themen selber so aus, wie es mir zeitgemäss erscheint.
Folgende Ergänzungen zum „Wirtschaftsunternehmen Sortiment“ werden in diesem Blog regelmässig angeschaut. Deshalb möchte ich auch die Updates wieder zur Verfügung stellen und die, die eine Link gesetzt haben, um dessen Erneuerung bitten:
Nummern und Normen im Buchhandel 2007
Ergänzung zum Thema Warenwirtschaft 2007

Sportwoche

Lange Jahre war die „Sportwoche“ eine kleine Zugabe zu den übrigen Schulferien, um zur Bewegung anzuregen und die Kinder nach rachitischen Tagen in dunklen Stuben noch etwas an die Sonne zu befördern. Seit dem Herbstschulbeginn ist die „Sportwoche“ zu einer Zäsur geworden, die arbeitstechnisch nicht aus dem Lehrerleben wegzudenken wäre. Und weil es sich bloss um eine Woche handelt, betätigen sich Lehrerinnen und Lehrer dann nur in kleinsten Zeitfenstern sportlich, denn sie haben nämlich bis zum letzten Schultag Noten gemacht und Zeugnisse geschrieben und müssen dringend neuen Unterricht vorbereiten. Daneben streiten sie sich mit ihren Partnern und Kindern, die jedes Jahr lockere Ferien erwarten und jedes Jahr eine intensive Arbeitswoche bekommen.
Gondeln im Angesicht des Klimawandels
Um doch etwas Zeit für Sport abzuzweigen, habe ich mir einfach den Weihnachtsstress nicht abgewöhnt, obwohl ich keine Bücher mehr verkaufe. So mache ich also über Weihnachten die Vorarbeit für das neue Semester und setze mich erst mit brauchbaren Semesterplan-Entwürfen und der Kleinfamilie in die Berge ab.
Hoch oben auf dem Sessellift
Es werden dann einfach Ferien mit Notebook. Morgens fahre ich meistens Ski, nachmittags lese ich, abends arbeite ich für die Schule. Dieses Jahr habe ich meine Sportwoche-Liste zwar sehr kurz gehalten, kann aber trotzdem nur 70% abhaken. (Einmal bin ich einfach eingeschlafen. Mitten über dem Entwurf für die schriftliche Abschlussprüfung. Was mir besonders respektlos erschien.)
Kind in Kurve
Auf der Gondel, mit Blick auf muntere Gämsen (endlich! Das meist zitierte Wort der Rechtschreibereformkritiker! Völlig natürlich verwendet!) und in die klimagewandelte Bergwelt habe ich konsterniert festgestellt, dass ich nur ein Arbeitsblog habe und dass ich weder philosophisches Geschwurbel noch romantische Ausschweifungen hier unterbringen kann.
me auf Ski
Doch ziemlich sicher vermindert eine grosse Schnittmenge von Blogger- und Arbeitsprofil post-internette Identitätsprobleme. Und das ist doch auch ganz schön.

Kurze Pause

Kleine Pause am 2.2.2007
Weil seit Gezeiten schon im Atemholen Gnaden lagen, mache ich das jeweils zwischen den Semestern.
Ich wünsche allen eine gute Woche. Und mit auf den Weg geb‘ ich und nehm‘ ich einen kleinen Goethe-Talisman:

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehn, sich ihrer entladen;
jenes bedrängt, dieses erfrischt;
so wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt.

Sand im Getriebe der DBH

Normalerweise verbietet es mir der Anstand, mich zu buchhandelspolitischen Angelegenheiten anders als sachlich zu äussern. Aber ein bisschen schmunzeln musste ich schon, als neulich die Meldung vom Bundeskartellamt kam. Bis jetzt wurden die Fusionen im Buchhandel sowie die Übernahmen allüberall und ohne Einschränkungen durchgewunken.
Ich versuche eine Zusammenfassung, die auch für Leute lesbar sein sollte, deren Leben nicht aus Buchhandel besteht:
Die DBH-Gruppe wurde letztes Jahr als Gemeinschaftsunternehmen von Weltbild und Hugendubel gegründet. Die DBH ist keine Marke für den Kunden, sondern eine Synergiemaschine für zwei Grossunternehmen im deutschen Medienhandel. Diese DBH hat dann die norddeutsche Buchhandelskette Weiland übernommen oder besser übernehmen wollen.
Nun kommt das Kartellamt mit seiner „zu eng gezogenen Schlinge“ (Henning Hamken von Weiland) und macht einen Vorbehalt, weil es die DBH nach dem Deal in Hannover für marktbeherrschend hält. Mangels Preiswettbewerb (Buchpreisbindungsgesetz in Deutschland seit 2001) hat das Kartellamt den Qualitätswettbewerb analysiert. Dazu zählte es Sortimentsbreite und Sortimentstiefe – die Lehrerin dankt an dieser Stelle zum ersten Mal im Leben einem Kartellamt – wie auch Öffnungszeiten, Lesungen und Signierstunden. So sind die Kartell-Leute dann zum Schluss gekommen, dass sie die Übernahme nur dann genehmigen, wenn die Weiland-Filiale in Hannover – die grösste Buchhandlung Norddeutschlands – an einen „unabhängigen Dritten veräussert“ werde.
Obwohl Geschäftsführer im Buchhandel durchaus in der Lage sind das Gesetz zu lesen, ist das mehr Sand im Getriebe als erwartet. Ich gestehe, auch ich war verwundert. Leben wir doch in Bern – genau wie viele andere in deutschsprachigen Städten – seit Jahren mit der Marktbeherrschung durch eine konkurrenzlose Thalia, ohne dass ein Hahn danach kräht.
Konzentrationsprozess im Berner Buchhandel in a Nutshell:
In nur einem Jahrzehnt, nämlich den Neunzigern, sind sämtliche grosse und mittelgrossen Buchhandlungen Berns übernommen worden oder eingegangen. Francke verschwand, Scherz verschwand, die Buchhandlungen Huber und Lang fusionierten, gaben das allgemeine Sortiment auf, spezialisierten sich aufs Fachbuch und wurden vom deutschen Hogrefe gekauft. Seine Fühler neu nach Bern ausgestreckt hatte die Basler Buchhandlung Jäggi, die sich unten im Warenhaus Loeb erfolgreich als Anbieter mit niedriger Schwelle positionierte. Und damit war der verbleibende erfolgreiche Berner Grossbuchhändler Stauffacher gezwungen, seine Nachfolge in einer brenzligen Konkurrenzsituation zu regeln. Als Lösung bot sich Thalia an, die gerade damals ihren Expansionskurs begann. Sie kaufte im Jahr 2000 sowohl Jäggi wie Stauffacher – und kurz darauf noch den damals erfolgreichsten und innovativsten Schweizer Internetshop buch.ch. Jäggi wurde 2006 umbenannt und ist nun sichtbar „Thalia“, Stauffacher und buch.ch heissen noch wie zuvor.
Bern hat sicher genügend Buchverkaufsstellen. Neben den Erwähnten gibt es noch ExLibris, welche als Buchclub-Discounter gilt und nur ein beschränktes Sortiment anbietet. Wer nicht Thalia will, kann sich in verschiedenen Nischenbuchhandlungen eindecken, die in der Regel schnell und gut bestellen und über einen Onlineshop verfügen. Aber so wenig wie Kunden das konsequent tun, so wenig relaisieren sie, dass sie beim Gleichen einkaufen, wenn sie einmal extra „zum Stauffacher“ und dann doch lieber „zu Thalia“ gehen und noch einen Account bei „buch.ch“ haben.
Weltbild expandiert neu und rasch nach Bern. Und mit Weltbild rückt DBH an. Mal sehen, wie sich das entwickelt. Ich bin gespannt, an wen sie Weiland Hannover verkaufen. Aber ich tippe nicht auf Thalia.

7. Seite

Lesealbum 7. Seite
Frau mit Kind: „Wohin fliegst du, kleiner Bär?“ von Benedikt Bathwayt.
Mann mit Bildband: „Hommage à l’Himalaya“ von Olivier Föllmi.
Liegender Mann: „The Great Grammar Book“ von Jennie Maizels und Kate Petty.
Gelesen Anfang 2006.
In Bern West.