Vielf(h)alt?

Im Westen Berns, wo ich aufgewachsen bin und wohne, gibt es den Plan, ein „Haus der Religionen“ zu schaffen.
Ich war schon an verschiedenen Aktionstagen und Informationsveranstaltungen und habe heute eine kleine Ausstellung in einem Quartierzentrum zum Thema besucht. In diesem auch architektonisch wohl durchdachten „Haus der Religionen“, sollen die bekannten Glaubensrichtungen wie auch religiöse Bräuche von Minderheiten Platz finden.
Die Einteilung ist so vorgesehen:

  • Öffentlicher Raum als Ort der Begegnung, verschiedene Nutzung auch des Umschwungs.
  • Gemeinsamer Bereich mit gemeinsamem Programm. Daraus entstünde im Idealfall die multikulturelle Agenda fast von selber.
  • Eigenverantwortlicher Bereich pro Religion mit Privatsphäre.
  • Zusatznutzung mit Läden, Bistros, Kindertagesstätten, Galerien.
  • Die „Spielregeln“ sollen in einem von allen Beteiligten gemeinsam ausgearbeiteten Dokument – der Charta des Hauses – festgehalten werden.
    Das politische Echo ist wohlwollend, aber natürlich nicht existenzsichernd. Deshalb bleibt der Plan vorläufig ein solcher und deshalb sucht der Trägerverein Mitglieder.
    An der heutigen Ausstellung trat eine langjährige Nachbarin und Betreuerin des Quartier-Tea-Rooms zu mir, um mich nach meiner Meinung zu fragen (übrigens eine Ehre). Ich antwortete, dass es ein sehr ambitiöses Projekt sei. Schön wenn’s gelänge, aber mein Optimismus halte sich in Grenzen. Wir blieben im Gespräch, mein Tee wurde kälter, mein Heimweg auch. Sie erzählte von der Gruppe Afrikaner, die letzten Freitag das Tea-Room zur Schliessungszeit nicht verlassen wollte; von ihrer Hilflosigkeit, als diese ihr Rassismus vorwarfen, als sie eine halbe Stunde nach Ladenschluss keine Sandwichs mehr machen wollte. Das ist kein Einzelfall, das passiert mir häufig, dass „Rassismus“ die Antwort ist, wenn ich Menschen auf Regeln hinweise, ganz egal wie freundlich ich bleibe.
    Ich will es nicht verallgemeinern. Doch hier in meinem Umfeld hat der Rassismus von Schweizern und Ausländern hauptsächlich eine Ursache: dass es weder Schulen, noch Quartierzentren, noch Einzelpersonen gelingt, die vorhandenen Regeln durchzusetzen. Wir hätten gute Abmachungen für das Zusammenleben, unsere Gesetze sind transparent und auf demokratischem Wege auch veränderbar. Selbst die alltäglichen Sitten wie Türe aufhalten oder nicht auf den Boden spucken, sind in nützlicher Frist begreifbar. Im privaten Bereich hat man seine Ruhe (finden bekanntlich auch Boris Becker und Michael Schumacher). Die Verletzung der Regeln unseres Zusammenlebens ist hier die fleissigste Zuträgerin für Rassismus.
    Und was hat das mit dem „Haus der Relgionen“ zu tun? Neben der Tatsache, dass mir persönlich ein starker Staat immer lieber ist als ein starker Glaube, brauchen wir in diesem Quartier Hilfe und Mittel, die vorhandenen Regeln plausibel zu machen und durchzusetzen.
    Kann uns ein „Haus der Religionen“ mit der x-ten Charta auf diesem Erdenrund dabei weiterbringen? Meine Bedenken sind, dass wir – nach zähem Ringen und mit von Kompromissen blutendem Herzen – zwar eine Charta haben werden, aber immer noch nicht den Mut, sie durchzusetzen.
    Meine Zuversicht kommt weder von Gott noch vom Verein „Haus der Religionen“, sondern gründet auf dem Ausspruch einer Freundin. Sie möchte ihren Kindern und Nichten eine katholische Heirat sichern und hält die Schweiz für ein schlechtes Terrain:

    Du kannst hier nie wissen in diese kleine Land! Was willst du machen als gute Eltern in enge Schweiz? Sie brauchen sich nur einmal umdrehen, schon stehen sie jemand mit andere Glaube gegenüber! Oder mit gar keine!

    Tischgespräch [7]

    Kind:
    Schreibt ihr einander Liebesbriefe?
    Mutter:
    Ich schreibe schon. Die deines Vaters kann ich an einer Hand abzählen.
    Vater:
    < grummel >
    Kind:
    Bewahrt ihr die auf?
    Mutter:
    Ja, klar.
    Kind:
    Kann ich sie lesen?
    Mutter:
    Sicher nicht!
    Kind:
    Bitte! Du hast auch einmal ein SMS von mir gelesen.
    Mutter:
    Ja, ein einziges. Als ich unsere Handys in der Dunkelheit verwechselt habe.
    Kind:
    Das ist fies.
    Mutter:
    Wozu brauchst du unsere Liebesbriefe?
    Kind:
    Zum Abschreiben.
    Vater:
    Das kannst du selber besser, Kind. Einfach immer mehr von ihr reden als von dir.

    Drei Hinweise

    Politisch: Esther hat „Liberalismus mit Links“ gemacht. Dralle Lippen contra Designerschwung. Aktuell mit einem schönen und lehrreichen „Versuch über die Freiheit.“
    Poetisch: Frau Kaltmamsell hat eine Fee getroffen, auf ihrem Weg zur Arbeit. Und der war schon oft sehr pötisch. Ich weiss ja auch nicht, warum die Frau nie unter den literarischen Blogs auftaucht, während es dem Don Dahlmann dazu locker reicht.
    Persönlich: Ich wurde im Magazin der Mediengewerkschaft comedia „prominent“ erwähnt, wie mir der Journalist Daniel Bouhafs schreibt, der mir freundlicherweise auch ein PDF davon zur Verfügung stellt. Danke schön.

    Religion als Springform

    Krippe 2005

    Religion ist kein Bedürfnis, Religion – jede – ist ein Antwortsystem auf komplizierte Fragen. Und offensichtlich nicht das beste.

    Schreibt shift. Geprägt von Glitzerpapier, Tannenbaumerwerb und Backen, würde ich ergänzen, dass Religion auch die Form um einen Rest Tradition ist. Obwohl unsere Familie ungetauft und wir Eltern weder konfirmiert noch verheiratet sind, sind unsere Abweichungen von der Tradition marginal. Das Kind hat dieses Jahr zum Beispiel die Beteiligung der Piraten an der Krippe durchgesetzt, während ich fand, die drückten zu sehr auf die Frauenquote. Es wäre aber weder mir noch dem Kind eingefallen, keine Krippe aufzustellen.

    kritzelig

    Die erste Bloggerin meines Lebens, die Frau Buschheuer, wünscht sich zum 40. nichts als weitergelesen zu werden. Ein Wunsch mit bestechender Logik drin, wie ihn andere der Schreiberzunft oft schmerzlich vermissen lassen, ja, gar negieren und auch noch stolz drauf sind.
    Oder vielleicht auch bloss unsicher, wie viele, die etwas schreiben, in die grosse weite Welt hinaus, lauter kleine Hänschens, der Goldklumpen am Ende ein Mühlstein von Glück, jawohl, das wünsch‘ ich der Frau Else.
    Und ihren Wunsch kann ich auch machen. Und weitersagen. Zum Beispiel den Text über Schönschreiben in der DDR, vor gut einem Jahr in kult erschienen. Über das Bedürfnis nach der eigenen Schrift und das phasenweise unbändige Verlangen, mikroskopisch klein zu schreiben. Über das Handwerk.

    Kampfzone: die Folge [3]

    Ich verstehe überhaupt nicht, weshalb der Bericht des französischen polizeilichen Nachrichtendienstes vertraulich ist. Es handelt sich ja um eine „alte“ Problematik, der Vandalismus in Ghettos ist permanent. Ungewöhnlich war ja nur, dass die Zerstörung über drei Wochen und in über 300 Siedlungen gleichzeitig stattfand. Deshalb sollte ein Bericht – wenn es ihn endlich gibt! – allen zugänglich gemacht werden. Das gilt auch für alle kommenden Studien.
    Immerhin publiziert „Le Parisien“ einige Auszüge, die heute in „Der Bund“ von Rudolf Balmer teilweise zitiert und kommentiert wurden. Hier die wichtigsten Bemerkungen :

    Sie [die Jugendlichen] handelten laut dem Polizeidienst Renseignements Généraux mehr aus ihrem gemeinsamen Gefühl der Verzweiflung und der Wut, das «den sozialen Lebensbedingungen und dem Ausschluss aus der französischen Gesellschaft» entsprungen sei.

    «Die Jungen der Problemquartiere fühlen sich durch die Armut, durch ihre Hautfarbe und ihre Namen zurückgesetzt.» Der Bericht unterstreicht den «himmelschreienden Mangel an Integration» dieser Randzonen mit ihrer Konzentration an sozialen Problemen und interpretiert den Vandalismus als eine Art «suizidären Akt».

    «Frankreich hat sich mehr Sorgen gemacht über den Vormarsch des radikalen Islamismus und des religiösen Terrorismus und darob die komplexe Problematik der Banlieue vernachlässigt.»

    Laut Renseignements Généraux handelt es sich um eine untypische «Revolte in den Vorstadtsiedlungen ohne Anführer, ohne Vorschläge und ohne Programm».

    Wie alle anderen politischen Kräfte sei auch die extreme Linke von den Ereignissen überrumpelt worden: «Sie hat nichts kommen sehen und grollt nun, weil nicht sie den Anstoss zu einer solchen Bewegung gegeben hat.» Unschuldig seien auch die mehrfach verdächtigten radikalen Islamisten, die «beim Ausbruch und der Ausbreitung der Gewalt keinerlei Rolle spielten», sondern im Gegenteil «alles Interesse an einer schnellen Rückkehr zur Ruhe hatten», um zu vermeiden, dass sie selber angeprangert würden.

    Dagegen versuchten nun diverse «politische Bewegungen, namentlich die extreme Rechte, aus den Ereignissen und deren Folgen ihren Nutzen zu ziehen».

    Den Beweis für das letzte Zitat habe ich auch in der deutschsprachigen Blogosphäre angetroffen. Ich habe selten so offen rassistische, unreflektierte Äusserungen gelesen und zwar in Blogs, die ich nicht als extrem rechts klassifizieren würde.
    Doch anstatt mich zu lange zu ärgern, wollte ich die letzten Wochen lieber recherchieren, was an Kultur- und Kunstprojekten in den Vorstädten läuft, denn da hat Frankreich schon sehr früh einiges getan (im Vergleich zur Schweiz). Doch ich habe festgestellt, dass viele Projekte 2002/2003 beendet worden sind, dass die banlieu’sche Kulturlandschaft – und das passte ja zu den hier schon erwähnten Sparmassnahmen – ausgedünnt scheint. „Le drame des banlieues est le manque de culture“, meint ein Banlieue-Künstler. Hier müsste man wieder ansetzen.
    Es gibt eine Website, auf der viele Projekte von Migrantinnen und Migranten nach Regionen und chronologisch gelistet sind, die Cité nationale de l’histoire de l’immigration. Dort findet man auch einen vielleicht etwas wohlwollenden, aber doch guten Film zur Geschichte der Migration in Frankreich.
    Und wer neben all dem Elend noch etwas Lustiges zur Völkerverschiebung lesen möchte, gucke doch bei Lila rein.