Ich glaube, um seine Eltern zu mögen, sollte man sie näher kennen. Ich kannte meinen Vater nicht besonders gut. Er war in meinem Leben entweder Gast oder Exkursionsleiter. Als Exkursionsleiter war er perfekt. Ich habe unbeschadet die halbe Welt bereist und meine erste Schnupperlehre im Alter von vier Jahren gemacht. Mein Vater hat gekellnert, auf dem Bau gearbeitet, als Pfleger in der Psychiatrie, als Assistent im Operationssaal und er hat alles transportiert, was man sich vorstellen kann: Konzertflügel für eine Umzugsfirma, totes und lebendiges Vieh als Chauffeur im Inland, Schokolade als Fernfahrer, Menschen im damals unverzichtbaren Sundecker. Mindestens einmal war ich überall dabei.
Von seiner Überzeugung, dass ein schweizerisches Kind nicht minder überlebensfähig sei denn ein indisches, also eigentlich ab dem zweiten Lebensjahr selbständig, wich mein Vater nie ab. Trotzdem kann ich mich an Fälle von Fürsorge erinnern. Lange vor den entsprechenden Empfehlungen setzte er mir bei heiklen Aktionen einen gelben Bauhelm auf. Und er tat einiges, um für mich einen genügend kurzen und wetterfesten Schlafsack aufzutreiben. (Man erinnert sich: Kinderschlafsäcke gab es in den Siebzigerjahren nur, um die Kinder an der Matratze zu befestigen.)
Ich kann nicht wie andere sagen, was ich von meinem Vater fürs Leben gelernt habe. Aber jedes Mal, wenn ich meinen Niederlassungsausweis brauche, fällt mir wieder etwas ein, was ich ohne ihn nicht erlebt hätte.
Kategorie: Who is?
Zettel und Zeugs zu mir
A Long Way Down
Nick Hornby,
A Long Way Down
Knaur (TB) 2006
978-3-426-61536-2
Also, es ist nicht so, dass Nick Hornby irgendwie mein Lieblingsautor wäre. Er schreibt mir halt ab und zu ein Buch, welches ich dann schlecht ablehnen kann, oder? Dass ich eine Schwäche für den Perspektivewechsel habe, ist ja nichts Neues. Und wenn das jemand so richtig gut kann, dann lese ich den halt. In diesem Buch hier haben sich vier angehende Selbstmörder auf dem Hochhausdach getroffen. Aber da sie nun einander begegnet sind, können sie sich ebensogut ein wenig Aufschub gewähren vom Sprung. Sie sind ein Musiker, ein Moderator, eine Mutter und eine Teenagerin – und alle irgendwie gescheitert, aber noch nicht ganz fertig damit. Und weil die je ihre Geschichte erzählen, also auch was sie denken, kriegt man mit, dass sie ein ähnliches Problem haben. Eigentlich ein Gewichtungsproblem. Sie wissen alle nicht, wie das, was sie sagen oder machen auf andere wirkt und wie stark. Und auch nicht, was aus ihrem Leben sie hervorheben und was sie verschweige sollen. Und deswegen ist es ja auch ein Hornby-Buch, weil der das kennt mit seinem autistischen Sohn. Weil der ein anderes Leben lebt. Er muss die gewöhnlichen Leben ausblenden, um sich mit einem Autistenleben rumzuschlagen. Kein Wunder also, dass er wieder einmal die erzählen lässt, die keine Vorstellung mehr haben, wie das normale Leben gehen könnte, wie man richtig redet und handelt. Deswegen passt das ja eben auch für mich. Also nicht, dass ich vom Hochhaus springen möchte, obwohl ich wirklich genügend Gelegenheit dazu hätte, drei Schritte nach vorn und einen nach oben und futsch wär’ ich. Nein, nicht deswegen.
„A Long Way Down“ weiterlesen
Réflexion e(s)t sélection
Zwölf von unzähligen Blogbeiträgen, die ich aus naheliegenden wie mysteriösen Gründen gebookmarked habe:
29.04.2003: Halböffentlichkeit, Aufmerksamkeit by Erratika
05.05.2004: Streber und stolz drauf by Lehrerzimmer
28.08.2004: Banditen by Ostblog
13.09.2004: [was ist glück] by alles-wird-gut
15.10.2004: Leichen pflastern ihren Weg by Frau Julie
25.10.2004: über das Wasser by taberna kritika
19.05.2005: Text-Praktikum by Anke Gröner
21.12.2005: Die Fee by kaltmamsell
29.12.2005: Die tägliche kleine Demokratie by Blog 14
21.02.2006: 100%-Dilemma by niemehrschule
05.09.2006: Der Bahnhof spät abends by apropos
10.11.2006: Die Wolke by Hanging Lydia
Viele, viele meiner Liebsten sind nicht mehr erreichbar – im Laufe der Jahre verschwunden im Netznirvana: Lilas Araber mit der Geige am Checkpoint, Lanus Erzählung über das verloren gegangene Kind –
den japanischen Informatiker, der Hotelhandtücher fotografiert hat, find ich auch nicht mehr.
Blogbeiträge bleiben im Kopf, wenn sie an etwas Bekanntes anknüpfen. (So funktionieren alle Hirne, das muss die Lehrerin wissen.)
Und also sind für mich Weblogs geblieben, was sie von Beginn an waren: aktive und passive Meta-Tagebücher.
Die Auswahl des Fremden ergibt das Eigene.
(Keine bahnberchende Erkenntis, ich weiss. Jedes Büchergestell funktioniert so.)
Wie ich alltäglich lese
Morgens um 7:00, wenn die Familie aus dem Haus ist, lese ich eine halbe bis eine Stunde. Ein Buch. Also im Idealfall, wenn ich nicht gerade meine Bluse bügeln oder die Fossilen des Frühstücks allein abräumen und –waschen muss. (Ich beginne Zeit meines Erwerbslebens möglichst nicht vor 8:30 mit dem Arbeiten, erstens weil ich es vorher schlecht kann und zweitens weil ich nie einen Job hatte, der um 18:00 fertig war.)
Danach begebe ich mich möglichst in ein Verkehrsmittel, welches ich nicht selber steuern muss, damit ich zwanzig bis dreissig Minuten habe, um die Tageszeitung zu lesen. Im Sommer nehme ich zwar oft das Velo, aber das geht dann so schnell, dass ich die Zeit für die Zeitung leicht reinhole.
Verteilt auf zwei Pausen am Mittag und Nachmittag lese ich eine halbe Stunde Blogs. Wenn das nicht geht, dann schiebe ich diese halbe Stunde am Abend ein oder nehme mir am nächsten Tag eine ganze Stunde, anstatt selber zu bloggen.
Vor und nach dem Nachtessen lesen wir en famille, aber gestaffelt, weil ja jemand kochen, jemand Tisch decken und entdecken und jemand abwaschen muss. Ich lese dann meistens Zeitschriften oder Wochenzeitungen und wenn nicht das, ein Sachbuch, eine Studie, ein Dossier oder auch RTFM. Abonniert haben wir mehr, als ich auswendig aufzählen und je komplett konsumieren kann: WoZ, BILANZ, Frauenzeitung, BRAVO, NZZ am Sonntag, iX, Sinn und Form, kult, DER SPIEGEL, Zoetrope All-Story, Eine Welt, Der Schweizer Buchhandel, FLUIDE GLACIAL. Dazu kommen etliche Blätter, die wir bekommen, weil wir irgendwo Mitglied sind oder da wohnen, wo wir wohnen: links.ch, m, MigrosMagazin, Mieten & Wohnen, WulcheChratzer und BümplizWoche. Was uns sonst noch zugeschickt wird, weil wir einmal jemandem gespendet haben oder Opfer der Mauscheleinen im Adresshandel geworden sind, liest niemand von uns. Die Branchenzeitschriften, die von der Schule abonniert sind, lese ich während der Arbeitszeit; die didaktischen oder pädagosischen Inhalts vernachlässige ich (aus Zeitgründen und manchmal auch aus Desinteresse).
Wenn ich am Abend Sitzungen habe, was relativ häufig vorkommt, steht mir mit der Anreisezeit wieder Lesezeit zur Verfügung. Und wenn ich meinen Lesestoff mal vergesse, gehe ich in die Buchhandlung und kaufe ein Buch, weil ich mir ohne unfertig vorkomme.
Sobald ich mit meinen Abendarbeiten daheim oder auswärts fertig bin, gehe ich ins Bett und lese da noch eine Stunde. Falls ich die Lektüre bis zu einem bestimmten Termin beendet haben muss oder das Buch mich unverhofft packt, lese ich einfach bis zur letzten Seite.
Über Berufung
Wer als junger Sortimenter über die Anfangsschwierigkeiten hinweggekommen ist, fühlt sich beglückt von der Vielseitigkeit seiner Arbeit, von dem täglichen Wechselspiel zwischen geistiger, kaufmännischer, selbst körperlicher Betätigung. Er hat einen Beruf gefunden, der den ganzen Menschen ausfüllt, auch seine Persönlichkeit bildet und bis in die Freizeit hineinstrahlt. Das gilt für den Angestellten genau so wie für Buchhändlerkinder und Inhaber eines eigenen Sortiments.
So beschriebt Hans Ferdinand Schulz „Beruf und Berufung des Sortimenters“ in der schönen Aufsatzsammlung „Der deutsche Buchhhandel in unserer Zeit“, erschienen 1961 bei Vandenhoeck & Rupprecht in Göttingen.
Nicht, dass ich mich nicht zur Buchhändlerin berufen fühlte, wirklich nicht. An der Vergilbtheit meines Arbeitsbuches gemessen, bewähre ich mich in dieser Branche. Doch gibt es Seiten des Berufes, die ich seit der Lehre vergeblich zu beherrschen suche.
Aufräumen ist meine Schwäche. Nicht im Bereich Sauberkeit und Genauigkeit, sondern im Bereich Entscheidung. Der Einkauf, die richtige Auswahl, das ging irgendwie und mit der Zeit immer besser. Aber rausschmeissen? Abteilungen ersatzlos streichen? Das ging nur, wenn ich entsprechenden Befehl bekam. Sonst ignorierte ich, dass der Historikerstreit zu Ende war und Yugoslavien auch. Dass Afrika vom Hungerkontinent zur Tourismusdestination mutiert war und dass Marx‘ Gesamtwerk sowie alles andere aus den VEB-Verlagen längst zu Staubfängern verkommen war. Ja, ich habe in einem Sortiment gelernt, in dem einen Vorteil hatte, wer das Dietz-Verlagsprogramm auswendig konnte und das war nun wirklich kein Problem. Es folgt ein Ausschnitt aus der ersten Inventurliste in meinem Arbeitsbuch:
„Über Berufung“ weiterlesen
A Day To Remember
Kritik an der Atomenergie gab es schon lange vor Tschernobyl, ich bin damit aufgewachsen. Es war eine Anti-AKW-Demo, auf der ich erstmals Tränengas gekostet habe, wahrscheinlich in Gösgen. Denn die Polizei hat erst ca. 1977 mit dieser Taktik begonnen und ich erinnere mich, noch ziemlich klein gewesen zu sein. Vielleicht wars auch Graben – ein AKW im Kanton Bern, das schlussendlich nicht gebaut worden ist.
Bereits 1979, nach Harrisburg, erlebte die Anti-AKW-Bewegung einen Aufschwung – sie brauchte sich 1986 gar nicht aufwändig zu formieren. Die Informationen waren so dürftig, die Katastrophe so unfassbar, das Bedürfnis sich auszutauschen war riesig. Es war einer der seltenen Momente, in denen sich die Masse selber politisch mobilisierte.
Ich habe oft darüber nachgedacht, warum der GAU für mich ein so einschneidendes Erlebnis war. Es lag wohl daran, dass ich viel Zeit meiner Kindheit in Wohngemeinschaften und Bio-Kommunen, in Alternativbeizen und an Hippietreffen verbracht habe. Die Erwachsenen beschäftigten sich da keineswegs nur mit Sex und Drugs und Rock ’n‘ Roll, sondern auch mit Pädagogik, Generationenkonflikt, Ökologie und Aussenpolitik.
Und wenn es darum ging, die Apokalypse auszumalen, hielt das Risiko Atomenergie über Jahre den Grusel-Rekord. Es war, als würde mir unablässig ein abstossend-anziehendes Märchen erzählt. Doch während andere Eltern beim Auftritt des bösen Wolfes tröstend riefen:„Es ist doch nur ein Märchen!“, betonten meine unablässig, dass es eben gerade keines sei.
Knapp erwachsen, kam diese Tschernobylwolke und es war wirklich keines.
Ich verstand endlich, was „das Private ist politisch“ bedeuten könnte, beschloss eine Lehre als Buchhändlerin zu machen und keine Kinder in diese Welt zu setzen. Zufall des Lebens, dass das Kind auf den Tag neun Jahre später zur Welt kam.
Heute ist noch ein anderer Gedenktag: Guernica (1937). Den Friedensnobelpreis mussten sie der IAEA überlassen, aber den Friedenspreis dieser Stadt haben die 1000 Frauen jetzt erhalten. Eine weise Entscheidung.
Und es fiel ein Wort aus Stein
UND es fiel ein Wort aus Stein
Auf die Brust, in der noch Leben ist.
Doch was solls: ich war dafür bereit.
Damit werd ich fertig, irgendwie.
Ich bin heute sehr beschäftigt, denn
Es ist nötig, die Einnerung zu töten,
Es ist nötig, dass die Seele Stein wird
und
Dass ich wieder neu das Leben lerne.
Sonst …. das heisse Rascheln dieses Sommers
Ist vor meinem Fenster wie ein Fest.
Schon seit langem ahnt ich diesen
Klaren Tag und das so öde Haus.
Anna Achmatowa (im Jahre 1939)
ISBN-13
Weil das wirklich den einen oder andern zu interessieren scheint, schreibe ich gern noch etwas mehr zur neuen dreizehnstelligen ISBN.
Ab 1. Januar 2007 wird die Institution zehnstellige ISBN abgelöst von der ISBN-13, auch bisherige Nummern werden in Dreizehnstellige umgewandelt. Das bringt für die Buchhändlerlin einen Ablösungsprozess mit sich.
Die zehnstellige ISBN ist ein Stück meines Berufslebens. Ich lese daraus, in welchem Sprachraum ein Buch erscheint, ich sehe darin, ob ein grosser oder ein kleiner Verlag es gemacht hat, bei kleinem Verlagsprogramm die Anzahl der Verlagsprodukte, oft erkenne ich das Verlagshaus, weil ich viele Verlagsnummern auswendig kann. Ich könnte sogar von Hand ausrechnen, ob dier ISBN stimmt oder sich der Kunde eventuell verschrieben hat. Kurz: Diese Nummer zeigt mir das Buch. [Dossier dazu.]
Dazu ist die ISBN als Erfindung etwas, worauf wir uns im Buchhandel etwas einbilden können. Seit den Siebzigern sind so viele neue Verlage dazu gekommen (in den Neunzigern sind die ganzen Ostverlage und viele Afrikaner dazu gestossen), dass wir mit Fug und Recht behaupten konnten, so gut wie jedes Buch der Welt sei zweifelsfrei identifizierbar.
Heute ist dank elektronischen Datenbanken das Lesen aus der ISBN im Buchhandelsalltag unwichtig geworden und die zehnstellige ISBN ist auch erschöpft. Aus dem Bedürfnis nach Scannertauglicheit ist schon länger ein EAN (Strichcode + Nummer) mit dem „Buch“-Präfix „978“ entstanden, der die ISBN-10 integrierte. Und ab dem nächsten Jahr bekommen die Verlage von der ISBN-Agentur neue Nummernkontingente mit dem Präfix „979“, eben die sogenannte ISBN-13.
Kleiner Einschub: Viele ahnen gar nicht, wie einfallsreich das Festland-Europa in Sachen Normierung immer gewesen ist. DIN? Die Deutsche Industrienorm war ein Grundstein bei ISO und ist eine Offenbarung fürs Büro. Ohne A4 keine Schweizer Bundesordner, ein Exportartikel für die ganze Welt. EAN? Die Amerikaner haben die Europäische Artikelnummer definitiv übernommen, weil die Kombination Strichcode und Zahl unschlagbar ist. Und unsere Mütter waren die ersten, die an den Grenzen nicht mehr umsteigen mussten, weil der Abstand der Eisenbahnschienen normiert war.
Die ISBN-13 wird für mich nicht mehr lesbar sein, denn diese Nummer wird keinen Hinweis auf Länder oder Verlage mehr enthalten. Doch ich will nicht weinen, dass es vorbei ist, sondern stolz sein, dass es gewesen. Es war ein wichtiges Kapitel in der Biografie des Buches und ein Teil von meiner.
In Leipzig vor vierzehn Jahren
So richtig lang war
ich nur in selbigem
Jahr an dieser Messe.
Besucht habe ich am
achten Mai die Lesung
von Hugo Loetscher mit
seinem Immunen und am
neunten Mai ein Podiumsgespräch
über Ausländerfeindlichkeit mit Klaus
Farin und Mustafa Mete
und Eberhardt Seidel-Pielen.
Ersterer und Letzterer haben
gemeinsam Krieg in den
Städten geschrieben bei Rotbuch.
Ebenfalls am Neunten habe
ich Heiner Müller und
Gregor Gysi „im Gespäch
mit Publikum“ gesehen und
Peter Wawerzinek und Jörg
Waehner haben mir eine
Stunde danach vorgelesen wer
das ist weiss ich
nicht mehr. Am Zehnten
dann die Hommage à
Uwe Johnson von dem
ich heute wie damals
nichts verstand. Und in
der Moritzbastei las Martin
Buchholz das war richtig
gutes Cabaret. Es ist
schon so wie Herr
Brecht es dem erbleichenden
Herr K. ausrichtete. Ich
habe mich gar nicht
verändert.
Überzeugungen über Generationen
Es ist meine tiefe Überzeugung, dass es nützt, wenn ich den anderen verstehe, ganz unabhängig davon, ob ich seine Meinung gutheisse oder gar richtig bissig werde. (Ehe Inkongruenz mit anderen Blogbeiträgen auftaucht: Gewalt ist explizit ausgenommen.) Ist mir kein Hauch Verständnis für das Problem möglich, halte ich in der Regel den Mund.
Selbstverständlich kommt auch das Kind in den Genuss meiner Überzeugung. Es ruft dann regelmässig entgeistert, warum ich nicht wie andere Mütter sein könne? Gopf! Die fragen auch nicht nach der Bedeutung von Musiktexten und verdächtigen reine Vorbilder als reine PR-Maschinen! Für die ist ein Rapper ist ein Rapper ist ein Rapper. Und die beschweren sich auch nicht beim Popcorn, wenns falsche Checklisten zur HIV-Ansteckung publiziert. Welch ein Segen!
Jedenfalls habe ich gerade wieder einmal Verständnisschwierigkeiten abzuarbeiten, es geht um die Notwendigkeit von dreissig SMS am Tag. Weniger aus finanziellen denn aus sozialen Gründen. Mit Kommuniaktionsbereitschaft meine ich nämlich den Einbezug der Familienmitglieder, während das Kind darunter die Kommunikation unter Ausschluss der solchen versteht, auch am Esstisch und während der nur noch flatterhaft ausgeführten Hausarbeit.
Ich habe also die Nacht genutzt und auf der Suche nach Verständnis zuerst einmal meine eigenen bestens erhaltenen Papier-SMS aus der säurefreien Schachtel geholt. Die ist übrigens der Beweis dafür, dass der Verständnis-Tick vererbt ist, denn welche Mutter (ausser meiner) archiviert die privaten Zetteleien der Tochter ungeöffnet und säurefrei für alle Ewigkeit?
Mein Lieblingsfundstück ist dieser beidseitig beschriebene Thumbnail (hier stark vergrössert) meines ersten Freundes. In unvermeidlichem Dialekt, wie das auch bei der heutigen Jugend noch Gang und Gäbe ist:
My Background
Diese Karikaturgeschichte ist für mich ein Meisterstück an Prägung.
Karikaturen gehören dazu. Zur europäischen Geschichte und in unsere eidgenössischen Abstimmungskämpfe. Unsere Mütter schon haben sie geliebt (beim Frauenstimmrecht), gehasst (beim Frauenstimmrecht), wir selber haben gekämpft (bei Ausländerfragen), gekontert (mit Buttons „ich bin eine rote Ratte„, remember?) und auch schon genüsslich nachgewiesen, dass sie im Archiv der Gegner abgezeichnet worden waren. Ich komme aus einem Land, das eine in den Siebziger- und Achzigerjahren verehrte Karikturzeitschrift in jedem Wartezimmer aufliegen hatte, den Nebelspalter. Aus einem Land, in dem Politiker die giftigsten Karikaturen ihrer selbst bei sich an die Wand hängen. Aus einem Land, das sich – man erlaube mir die Spekulation – nicht für das entschuldigen würde, was hier das Corpus Delicti ist.
Ich komme aus einem Beruf, in dem ich permanent mit der Beleidigtheit, den Zensurversuchen und dem Empörungskult konfrontiert bin. Und ich muss sagen, der Anteil islamischer Vertreter ist langsam beachtlich.
Doch die schönen Schulbücher an den arabischen Gemeinschaftsständen, mit Karikaturen des Juden, mit Abbildungen von Bomben mit Davidstern drauf, mit bewaffneten Kindern, sind an unseren Buchmessen frei zugänglich. Solange man keine Fahne mit Hakenkreuz am Messestand aufhängt oder der Verleger einen mit „Heil Hitler“ begrüsst, ist Toleranz.
Ich erinnere mich auch an meine Lehrzeit, als ich, bevor ich über Mittag alleine war, alle Rushdie-Titel wegräumen und lügen musste, wenn jemand danach fragte, weil mein Ausbilder sich Sorgen machte. Viele haben heute vergessen, dass die „Satanischen Verse“ nicht nur die Fatwa für den Autoren, sondern für alle Buchhändler und Verleger zur Folge hatte, die bis 1998 verhängt war und unsere Tötung forderte, sofern wir uns je mit dem Buch umgeben hätten. Die Messe in Frankfurt war 1989 nur noch durch klitzekleine hochbewachte Türchen zu erreichen.
Die Muslime, die über die dänische Flagge gehen, erinnern mich unweigerlich an die schöne Stelle aus „Lolita lesen in Teheran“, wo das Volk mit Lunchpaketen an Ayatollah Khomeinis Begräbnis gelockt und durch einen Wettstreit um das Leichentuch zur Hysterie gepeitscht wird. Und ich erinnere mich auch an die Berichte bei uns: „Schaut her, wie dieses Volk seinen Herrscher liebte!“.
Sofort wird entlassen, wer dem gemeinen Volk die schändlichen Machwerke zur Beurteilung vorlegt. Ich bin zuversichtlich, in zehn Jahren in einem guten Buch zu lesen, wie dieses „Schaut her, wie ihr dieses Volk beleidigt habt!“ zu Stande gekommen ist. An Mobilisierung mangelt es nicht, auch nicht an klaren Voten, wie dem von Hizbollah Nasrallah:
If there had been a Muslim to carry out Imam Khomeini’s fatwa against the renegade Salman Rushdie, this rabble who insult our Prophet Mohammad in Denmark, Norway and France would not have dared to do so,
[Quelle: „Jordan Times“, Artikel: Shihan editor sacked for reprinting prophet cartoons]